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Der vorletzte Tag

Endlich wird es grau, der Morgen ist da.

Es ist niemand vor mir, kein Gesicht und nichts.

Ich schleiche mich wieder ins Lager zurück. Der Feldwebel liegt auf dem Rücken mit offenem Mund. Der Regen klopft an die Wand. Erst jetzt bin ich müde. Schlafen, schlafen –

Als ich erwache, ist das Regiment bereits fort. Ich werde es dem Z sagen, daß ich es war und nicht der N, sowie er zurückkommt.

Es ist der vorletzte Tag.

Morgen brechen wir unsere Zelte ab und fahren in die Stadt zurück.

Es regnet in Strömen, nur manchmal hört es auf. In den Tälern liegen dicke Nebel. Wir sollten die Berge nimmer sehen.

Mittags kommt das Regiment zurück, aber nicht komplett.

Der N fehlt.

Er dürfte sich verlaufen haben, meint der Feldwebel, und er würde uns schon finden.

Ich muß an die Höhlen denken, die im Tagebuch des Z stehen, und werde unsicher.

Ist es Angst?

Jetzt muß ichs ihm aber sogleich sagen, es wird allmählich höchste Zeit!

Der Z sitzt in seinem Zelte und schreibt.

Er ist allein.

Als er mich kommen sieht, klappt er rasch sein Tagebuch zu und blickt mich mißtrauisch an.

»Ach, wir schreiben wieder unser Tagebuch«, sage ich und versuche zu lächeln. Er schweigt und blickt mich nur an. Da sehe ich, daß seine Hände zerkratzt sind.

Er bemerkt, daß ich die Kratzer beobachte, zuckt etwas zusammen und steckt die Hände in die Taschen.

»Frierts dich?« frage ich und lasse ihn nicht aus den Augen.

Er schweigt noch immer, nickt nur ja, und ein spöttisches Lächeln huscht über sein Gesicht.

»Hör mal«, beginne ich langsam, »du meinst, daß der N dein Kästchen erbrochen hat –«

»Ich meine es nicht nur«, fällt er mir plötzlich fest ins Wort, »sondern er hats auch getan.«

»Woher willst du denn das wissen?«

»Er selbst hat es mir gesagt.«

Ich starre ihn an. Er selbst hat es gesagt?

Aber das ist doch unmöglich, er hat es doch gar nicht getan!

Der Z blickt mich forschend an, doch nur einen Augenblick lang. Dann fährt er fort: »Er hats mir heut vormittag gestanden, daß er das Kästchen geöffnet hat. Mit einem Draht, aber dann könnt er es nicht wieder schließen, denn er hat das Schloß ruiniert.«

»Und?«

»Und er hat mich um Verzeihung gebeten, und ich habe ihm verziehen.«

»Verziehen?«

»Ja.«

Er blickt gleichgültig vor sich hin. Ich kenne mich nicht mehr aus, und es fällt mir wieder ein: »Jeder, der mein Kästchen anrührt, stirbt!«

Unsinn, Unsinn!

»Weißt du, wo der N jetzt steckt?« frage ich plötzlich. Er bleibt ganz ruhig.

»Woher soll ich das wissen? Sicher hat er sich verirrt. Ich hab mich auch schon mal verirrt« – er erhebt sich, und es macht den Eindruck, als würde er nicht mehr weiterreden wollen.

Da bemerke ich, daß sein Rock zerrissen ist.

Soll ich es ihm sagen, daß er lügt? Daß der N es ihm niemals gestanden haben konnte, denn ich, ich habe doch sein Tagebuch gelesen –

Aber warum lügt der Z?

Nein, ich darf gar nicht daran denken! –

Warum sagte ich es ihm nur nicht sofort, gleich gestern, als er den N verprügelte! Weil ich mich schämte, vor meinen Herren Schülern zu gestehen, daß ich heimlich mit einem Draht ein Kästchen erbrochen hab, obwohl dies in bester Absicht geschehen ist – verständlich, verständlich! Aber warum verschlief ich nur heute früh?! Richtig, ich saß ja in der Nacht im Wald und machte das Maul nicht auf! Und jetzt, jetzt dürfte es wenig nützen, wenn ich es aufmachen würde. Es ist zu spät.

Richtig, auch ich bin schuld.

Auch ich bin der Stein, über den er stolperte, die Grube, in die er fiel, der Felsen, von dem er hinunterstürzte – Warum hat mich heut früh nur niemand geweckt?! Ich wollte mich nicht unschuldig verurteilen lassen und schlief, statt mich zu verteidigen. Mit meinem freien Willen wollte ich einen dicken Strich durch eine Rechnung machen, aber diese Rechnung war bereits längst bezahlt.

Ich wollte uns alle retten, aber wir waren bereits ertrunken.

In dem ewigen Meer der Schuld. Doch wer ist denn schuld, daß das Schloß verdarb.

Daß es sich nicht mehr zusperren ließ?

Egal ob offen oder zu, ich hätte es sagen müssen! Die Pfade der Schuld berühren sich, kreuzen, verwickeln sich.

Ein Labyrinth. Ein Irrgarten – mit Zerrspiegeln. Jahrmarkt, Jahrmarkt!

Hereinspaziert, meine Herrschaften!

Zahlt Buße und Strafe für die Schuld eueres Daseins! Nur keine Angst, es ist zu spät! – Am Nachmittag zogen wir alle aus, um den N zu finden. Wir durchsuchten das ganze Gebiet, riefen »N!« und wieder »N!«, aber es kam keine Antwort. Ich erwartete auch keine.

Es dämmerte bereits, als wir zurückkehrten. Durchnäßt, durchfroren.

»Wenn das so weiterregnet«, flucht der Feldwebel, »gibts noch die schönste Sündflut!«

Und es fiel mir wieder ein: als es aufhörte zu regnen und die Wasser der Sündflut wichen, sprach der Herr: »Ich will hinfort nicht mehr die Erde bestrafen um der Menschen willen.«

Und wieder frage ich mich: hat der Herr sein Versprechen gehalten? Es regnet immer stärker.

»Wir müssens der Gendarmerie melden«, sagt der Feldwebel, »daß der N abgängig ist.«

»Morgen.«

»Ich versteh Sie nicht, Herr Lehrer, daß Sie so ruhig sind.«

»Ich denke, er wird sich verirrt haben, man verirrt sich ja leicht, und vielleicht übernachtet er auf irgendeinem Bauernhof.«

»In der Gegend dort gibts keine Höfe, nur Höhlen.«

Ich horche auf. Das Wort versetzt mir wieder einen Schlag.

»Wollen es hoffen«, fährt der Feldwebel fort, »daß er in einer Höhle sitzt und daß er sich nichts gebrochen hat.«

Ja, wollen wir hoffen. –

Plötzlich frage ich den Feldwebel: »Warum haben Sie mich heute früh nicht geweckt?«

»Nicht geweckt?« Er lacht. »Ich hab Sie in einer Tour geweckt, aber Sie sind ja dagelegen, als hätt Sie der Teufel geholt!«

Richtig, Gott ist das Schrecklichste auf der Welt.


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