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Der Kompaß

Der Prozeß schreitet fort. Die Zeugen sind dran.

Der Waldarbeiter, die Gendarmen, der Untersuchungsrichter, der Feldwebel, sie habens schon hinter sich. Auch der Bäckermeister N und seine Gattin Elisabeth sagten schon, was sie wußten. Sie wußten alle nichts.

Der Bäckermeister brachte es nicht übers Herz, meine Ansicht über die Neger unerwähnt zu lassen. Er richtete heftige Vorwürfe gegen meine verdächtige Gesinnung, und der Präsident sah ihn mißbilligend an, wagte es aber nicht, ihn zu unterbrechen.

Jetzt wird die Mutter des Z aufgerufen.

Der Präsident setzt es ihr auseinander, daß sie sich ihrer Zeugenaussage entschlagen könnte, doch sie fällt ihm ins Wort, sie wolle aussagen.

Sie spricht, nimmt jedoch den Schleier nicht ab.

Sie hat ein unangenehmes Organ.

Der Z sei ein stilles, jedoch jähzorniges Kind, erzählt sie, und diesen Jähzorn hätte er von seinem Vater geerbt. Krank wäre er nie gewesen, nur so die gewöhnlichen harmlosen Kinderkrankheiten hatte er durchgemacht.

Geistige Erkrankungen wären in der Familie auch nicht vorgekommen, weder väterlicher- noch mütterlicherseits.

Plötzlich unterbricht sie sich selber und fragt: »Herr Präsident, darf ich an meinen Sohn eine Frage richten?«

»Bitte!«

Sie tritt an den Gerichtstisch, nimmt den Kompaß in die Hand und wendet sich ihrem Sohne zu.

»Seit wann hast du denn einen Kompaß?« fragt sie, und es klingt wie Hohn. »Du hast doch nie einen gehabt, wir haben uns ja noch gestritten vor deiner Abreise ins Lager, weil du sagtest: alle haben einen, nur ich nicht, und ich werde mich verirren ohne Kompaß – woher hast du ihn also?«

Der Z starrt sie an.

Sie wendet sich triumphierend an den Präsidenten: »Es ist nicht sein Kompaß, und den Mord hat der begangen, der diesen Kompaß verloren hat!«

Der Saal murmelt, und der Präsident fragt den Z: »Hörst du, was deine Mutter sagt?«

Der Z starrt sie noch immer an.

»Ja«, sagt er langsam. »Meine Mutter lügt.«

Der Verteidiger schnellt empor: »Ich beantrage, ein Fakultätsgutachten über den Geisteszustand des Angeklagten einzuholen!«

Der Präsident meint, das Gericht würde sich später mit diesem Antrag befassen.

Die Mutter fixiert den Z: »Ich lüge, sagst du?«

»Ja.«

»Ich lüge nicht!« brüllt sie plötzlich los. »Nein, ich habe noch nie in meinem Leben gelogen, aber du hast immer gelogen, immer! Ich sage die Wahrheit und nur die Wahrheit, aber du willst doch nur dieses dreckige Weibsbild beschützen, dieses verkommene Luder!«

»Das ist kein Luder!«

»Halt den Mund!« kreischt die Mutter und wird immer hysterischer. »Du denkst eh immer nur an lauter solche elende Fetzen, aber nie denkst du an deine arme Mutter!«

»Das Mädel ist mehr wert wie du!«

»Ruhe!« schreit der Präsident empört und verurteilt den Z wegen Zeugenbeleidigung zu zwei Tagen Haft. »Unerhört«, fährt er ihn an, »wie du deine eigene Mutter behandelst! Das läßt aber tief blicken!«

Jetzt verliert der Z seine Ruhe.

Der Jähzorn, den er von seinem Vater geerbt hat, bricht aus.

»Das ist doch keine Mutter!« schreit er. »Nie kümmert sie sich um mich, immer nur um ihre Dienstboten! Seit ich lebe, höre ich ihre ekelhafte Stimme, wie sie in der Küche die Mädeln beschimpft!«

»Er hat immer zu den Mädeln gehalten, Herr Präsident! Genau wie mein Mann!« Sie lacht kurz.

»Lach nicht Mutter!« herrscht sie der Sohn an. »Erinnerst du dich nicht mehr an die Thekla?!«

»An was für eine Thekla?!«

»Sie war fünfzehn Jahre alt, und du hast sie sekkiert, wo du nur konntest! Bis elf Uhr nachts mußte sie bügeln und morgens um halb fünf schon aufstehen, und zu fressen hat sie auch nichts bekommen! Und dann ist sie weg – erinnerst du dich?«

»Ja, sie hat gestohlen!«

»Um fort zu können! Ich war damals sechs Jahre alt und weiß es noch genau, wie der Vater nach Haus gekommen ist und gesagt hat, das arme Mädel ist erwischt worden, sie kommt in die Besserungsanstalt! Und daran warst du schuld, nur du!«

»Ich?!«

»Vater hat es auch gesagt!«

»Vater, Vater! Der hat vieles gesagt!«

»Vater hat nie gelogen! Ihr habt euch damals entsetzlich gestritten, und Vater schlief nicht zu Haus, erinnerst du dich? Und so ein Mädel wie die Thekla, so eines ist auch die Eva – genauso! Nein, Mutter, ich mag dich nicht mehr!«

Es wurde sehr still im Saal.

Dann sagt der Präsident: »Ich danke, Frau Professor!«


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