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Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit

Der Wein des Pfarrers schmeckt nach Sonne. Aber der Kuchen nach Weihrauch.

Wir sitzen in der Ecke.

Er hat mir sein Haus gezeigt.

Seine Köchin ist fett. Sicher kocht sie gut.

»Ich esse nicht viel«, sagt plötzlich der Pfarrer.

Hat er meine Gedanken erraten?

»Ich trinke aber um so mehr«, sagte er und lacht.

Ich kann nicht recht lachen. Der Wein schmeckt und schmeckt doch nicht. Ich rede und stocke, immer wieder befangen. Warum nur?

»Ich weiß, was Sie beschäftigt«, meint der Pfarrer, »Sie denken an die Kinder, die in den Fenstern sitzen und die Puppen bemalen und mich nicht grüßen.«

Ja, an die Kinder denke ich auch.

»Es überrascht Sie, wie mir scheint, daß ich Ihre Gedanken errate, aber das fällt mir nicht schwer, denn der Herr Lehrer hier im Dorfe sieht nämlich auch überall nur jene Kinder. Wir debattieren, wo wir uns treffen. Mit mir kann man nämlich ruhig reden, ich gehöre nicht zu jenen Priestern, die nicht hinhören oder böse werden, ich halte es mit dem heiligen Ignatius, der sagt: ›Ich gehe mit jedem Menschen durch seine Tür herein, um ihn bei meiner Tür hinauszuführen‹«

Ich lächle ein wenig und schweige.

Er trinkt sein Glas aus.

Ich schau ihn abwartend an. Noch kenne ich mich nicht aus.

»Die Ursache der Not«, fährt er fort, »besteht nicht darin, daß mir der Wein schmeckt, sondern darin, daß das Sägewerk nicht mehr sägt. Unser Lehrer ist hier der Meinung, daß wir durch die überhastete Entwicklung der Technik andere Produktionsverhältnisse brauchen und eine ganz neuartige Kontrolle des Besitzes. Er hat recht. Warum schauen Sie mich so überrascht an?«

»Darf man offen reden?«

»Nur!«

»Ich denke, daß die Kirche immer auf der Seite der Reichen steht.«

»Das stimmt. Weil sie muß.«

»Muß?«

»Kennen Sie einen Staat, in dem nicht die Reichen regieren? ›Reichsein‹ ist doch nicht nur identisch mit ›Geldhaben‹ – und wenn es keine Sägewerksaktionäre mehr geben wird, dann werden eben andere Reiche regieren, man braucht keine Aktien, um reich zu sein. Es wird immer Werte geben, von denen einige Leute mehr haben werden als alle übrigen zusammen. Mehr Sterne am Kragen, mehr Streifen am Ärmel, mehr Orden auf der Brust, sichtbar oder unsichtbar, denn arm und reich wird es immer geben, genau wie dumm und gescheit. Und der Kirche, Herr Lehrer, ist leider nicht die Macht gegeben, zu bestimmen, wie ein Staat regiert werden soll. Es ist aber ihre Pflicht, immer auf Seiten des Staates zu stehen, der leider immer nur von den Reichen regiert werden wird.«

»Ihre Pflicht?«

»Da der Mensch von Natur aus ein geselliges Wesen ist, ist er auf eine Verbindung in Familie, Gemeinde und Staat angewiesen. Der Staat ist eine rein menschliche Einrichtung, die nur den einen Zweck haben soll, die irdische Glückseligkeit nach Möglichkeit herzustellen. Er ist naturnotwendig, also gottgewollt, der Gehorsam ihm gegenüber Gewissenspflicht.«

»Sie wollen doch nicht behaupten, daß zum Beispiel der heutige Staat nach Möglichkeit irdische Glückseligkeiten herstellt?«

»Das behaupte ich keineswegs, denn die ganze menschliche Gesellschaft ist aufgebaut auf Eigenliebe, Heuchelei und roher Gewalt. Wie sagt Pascal? ›Wir begehren die Wahrheit und finden in uns nur Ungewißheit. Wir suchen das Glück und finden nur Elend und Tod.‹ Sie wundern sich, daß ein einfacher Bauernpfarrer Pascal zitiert – nun, Sie müssen sich nicht wundern, denn ich bin kein einfacher Bauernpfarrer, ich wurde nur für einige Zeit hierher versetzt. Wie man so zu sagen pflegt, gewissermaßen strafversetzt« – er lächelt: »Jaja, nur selten wird einer heilig, der niemals unheilig, nur selten einer weise, der nie dumm gewesen ist! Und ohne die kleinen Dummheiten des Lebens wären wir ja alle nicht auf der Welt.«

Er lacht leise, aber ich lache nicht mit.

Er leert wieder sein Glas. Ich frage plötzlich: »Wenn also die staatliche Ordnung gottgewollt –«

»Falsch!« unterbricht er mich. »Nicht die staatliche Ordnung, sondern der Staat ist naturnotwendig, also gottgewollt.«

»Das ist doch dasselbe!« »Nein, das ist nicht dasselbe. Gott schuf die Natur, also ist gottgewollt, was naturnotwendig ist. Aber die Konsequenzen der Erschaffung der Natur, das heißt in diesem Falle: die Ordnung des Staates, sind ein Produkt des freien menschlichen Willens. Also ist nur der Staat gottgewollt, nicht aber die staatliche Ordnung.« »Und wenn ein Staat zerfällt?«

»Ein Staat zerfällt nie, es löst sich höchstens seine gesellschaftliche Struktur auf, um einer anderen Platz zu machen. Der Staat selbst bleibt immer bestehen, auch wenn das Volk, das ihn bildet, stirbt. Denn dann kommt ein anderes.«

»Also ist der Zusammenbruch einer staatlichen Ordnung nicht naturnotwendig?«

Er lächelt: »Manchmal ist solch ein Zusammenbruch sogar gottgewollt.«

»Warum nimmt also die Kirche, wenn die gesellschaftliche Struktur eines Staates zusammenbricht, immer die Partei der Reichen? Also in unserer Zeit: warum stellt sich die Kirche immer auf die Seite der Sägewerksaktionäre und nicht auf die Seite der Kinder in den Fenstern?«

»Weil die Reichen immer siegen.«

Ich kann mich nicht beherrschen: »Eine feine Moral!«

Er bleibt ganz ruhig: »Richtig zu denken, ist das Prinzip der Moral.« Er leert wieder sein Glas. »Ja, die Reichen werden immer siegen, weil sie die Brutaleren, Niederträchtigeren, Gewissenloseren sind. Es steht doch schon in der Schrift, daß eher ein Kamel durch das Nadelöhr geht, denn daß ein Reicher in den Himmel kommt.«

»Und die Kirche? Wird die durch das Nadelöhr kommen?«

»Nein«, sagt er und lächelt wieder, »das wäre allerdings nicht gut möglich. Denn die Kirche ist ja das Nadelöhr.«

Dieser Pfaffe ist verteufelt gescheit, denke ich mir, aber er hat nicht recht. Er hat nicht recht! Und ich sage: »Die Kirche dient also den Reichen und denkt nicht daran, für die Armen zu kämpfen –«

»Sie kämpft auch für die Armen«, fällt er mir ins Wort, »aber an einer anderen Front.«

»An einer himmlischen, was?«

»Auch dort kann man fallen.«

»Wer?«

»Jesus Christus.«

»Aber das war doch der Gott! Und was kam dann?« Er schenkt mir ein und blickt nachdenklich vor sich hin. »Es ist gut«, meint er leise, »daß es der Kirche heutzutage in vielen Ländern nicht gut geht. Gut für die Kirche.«

»Möglich«, antworte ich kurz und merke, daß ich aufgeregt bin. »Doch kommen wir wieder auf jene Kinder in den Fenstern zurück! Sie sagten, als wir durch die Gasse gingen: ›Sie grüßen mich nicht, sie sind verhetzt.‹ Sie sind doch ein gescheiter Mensch, Sie müssen es doch wissen, daß jene Kinder nicht verhetzt sind, sondern daß sie nichts zum Fressen haben!«

Er sieht mich groß an.

»Ich meinte, sie seien verhetzt«, sagte er langsam, »weil sie nicht mehr an Gott glauben.«

»Wie können Sie das von ihnen verlangen!«

»Gott geht durch alle Gassen.«

»Wie kann Gott durch jene Gasse gehen, die Kinder sehen und ihnen nicht helfen?«

Er schweigt. Er trinkt bedächtig seinen Wein aus. Dann sieht er mich wieder groß an: »Gott ist das Schrecklichste auf der Welt.«

Ich starre ihn an. Hatte ich richtig gehört? Das Schrecklichste?!

Er erhebt sich, tritt an das Fenster und schaut auf den Friedhof hinaus. »Er straft«, höre ich seine Stimme. Was ist das für ein erbärmlicher Gott, denke ich mir, der die armen Kinder straft!

Jetzt geht der Pfarrer auf und ab.

»Man darf Gott nicht vergessen«, sagt er, »auch wenn wir es nicht wissen, wofür er uns straft. Wenn wir nur niemals einen freien Willen gehabt hätten!«

»Ach, Sie meinen die Erbsünde!«

»Ja.«

»Ich glaube nicht daran.«

Er hält vor mir.

»Dann glauben Sie auch nicht an Gott.«

»Richtig. Ich glaube nicht an Gott.« –

»Hören Sie«, breche ich plötzlich das Schweigen, denn nun muß ich reden, »ich unterrichte Geschichte und weiß es doch, daß es auch vor Christi Geburt eine Welt gegeben hat, die antike Welt, Hellas, eine Welt ohne Erbsünde –«

»Ich glaube, ihr irrt euch«, fällt er mir ins Wort und tritt an sein Bücherregal. Er blättert in einem Buch. »Da Sie Geschichte unterrichten, muß ich Ihnen wohl nicht erzählen, wer der erste griechische Philosoph war, ich meine: der älteste.«

»Thales von Milet.«

»Ja. Aber seine Gestalt ist noch halb in der Sage, wir wissen nichts Bestimmtes von ihm. Das erste schriftlich erhaltene Dokument der griechischen Philosophie, das wir kennen, stammt von Anaximander, ebenfalls aus der Stadt Milet – geboren 610, gestorben 547 vor Christi Geburt. Es ist nur ein Satz.«

Er geht ans Fenster, denn es beginnt bereits zu dämmern, und liest:

»Woraus die Dinge entstanden sind, darein müssen sie auch wieder vergehen nach dem Schicksal; denn sie müssen Buße und Strafe zahlen für die Schuld ihres Daseins nach der Ordnung der Zeit.«


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