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Ein gutes halbes Jahr nach jenem Fußmarsch von Pipping bis nach Nymphenburg wurden Toni und Annastina vor dem Gesetze Mann und Frau. Und damit wäre, wenn man Theo Schlotthauer recht geben wollte, das Leben des starken Mannes auserzählt. Der Ateliernachbar aus lustigen Junggesellenzeiten pflegte nämlich, sobald die Rede auf Tonis zweite Ehe kam, hämischen Mitleids voll zu sagen, dies heiße er kein Leben mehr, sondern bloß noch eine Karriere. Aber Theo konnte hier kaum als unbefangener Zeuge gelten. Er hatte eine Schandwut auf Annastina, weil er die Richtigkeit ihrer Meinung nicht einsehen wollte, daß er als mittelmäßiger, dazu mit einer unmöglichen Frau behafteter Illustrator kein Verkehr für sie und ihren Gatten sei. Dieser sonderbare Heilige tat beinah so, wie wenn er hier noch immer dem Toni Gwinner von ehemals gegenüberstände. Und doch konnten ihm schon genug rein äußerliche Kennzeichen dartun, aus welchem Holzweg er da wandele.
Vor allem gab es einen Toni Gwinner bald nach der Hochzeit überhaupt nicht mehr: es war ein klangvollerer Antonius draus geworden. Und mit der Zeit wuchs sich hier ein starker Mann, dem dies im Anfang selbst ein bißchen komisch vorgekommen war, in seinen neuen Vornamen hinein wie einer, der von Kind an so gerufen worden ist. Noch augenfälliger womöglich war die Wandlung im ganzen Lebensstil des Herrn Professors. Gleich die erste gemeinsame Tätigkeit des jungen Paars galt dem Bau eines Hauses im Herzogpark zu München, das die würdige Fassung für den Edelstein Annastina darstellen sollte. Dieser Aufgabe vermochte eine bescheidene Villa nicht zu genügen, es mußte eher so etwas wie eine Art Palast mit Atelier sein. Und es wurde auch einer. Die schlimmen Münchner Mäuler tauften ihn alsbald Stalozzo Prozzi. Sprach hieraus gleich der gelbe Neid, er brauchte Gwinners nicht zu stören. War doch mit diesem Kalauer, der wie ein Lauffeuer durch die Stadt ging, zugleich der andre Zweck des prunkhaften Gebäudes erfüllt: von sich reden zu machen.
Wenn einer darauf aus ist, sich Weltberühmtheit zu erwerben, tut er am besten kaltblütig so, als ob er sie schon längst besäße. Annastina kam ja aus dieser Sphäre und kannte den Rummel. »Geld muß der Kerl wie Heu verdienen!« sagten des starken Mannes mißgünstige Kollegen oft, während ihm selber beim Zusammenschmelzen seines einst so erfreulich wohlaufgefüllten Bankguthabens manchmal ein leichter Schauer den Rücken herunterrann. Doch seine kluge Gattin tröstete ihn mit dem Hinweis, dies wären Spesen, die hundertfältig wieder zurückströmen würden. Geschmack und Eleganz vereinten sich dazu, Tonis neuem Heim über die Grenzen Deutschlands hinaus den Ruf einer Sehenswürdigkeit zu schaffen. Paßten denn seine Freunde aus früheren Tagen überhaupt in solche Räume? Dies bronzebeschlagene Tor öffnete seine Flügel gern und weit nur Leuten, die entweder sehr vornehm, sehr reich oder wenigstens sehr berühmt waren. Annastina war als Tochter des großen Bengt Nordlind selbstverständlich Demokratin bis auf die Knochen. Trotzdem würde sie sich in einer Welt, die nur aus Volk bestanden hätte, recht fehl am Ort gefühlt haben. Freimütig gestand sie selbst mit kindlich schuldbewußtem, doch der Verzeihung sicherem Augenaufschlag, daß ihr die Eitelkeit dieser Welt mehr bedeuteten, als es ihren Grundsätzen eigentlich wohl anstand. Man dürfe aber das Elend ihrer ersten Ehe nicht vergessen. Um sich über die Leere dieses Daseins hinwegzutäuschen, hatte sie sich an das einzige geklammert, was für Baginskys schnödes Geld zu haben war: den Luxus. Und jetzt war ihr das eben Gewohnheit geworden. Sie brauchte zu ihrem äußeren Behagen nun einmal schöne Kleider, edeln Schmuck, ein Automobil, Reitpferde und dergleichen, es war ihr ein Bedürfnis, die feine Welt in ihrem Salon zu empfangen, von ihr wieder zu Gast geladen zu werden und überall mit dabei zu sein, wo die oberen Tausend ihre Zusammenkünfte und Feste feierten. Natürlich hätte sie in dem Glück ihrer zweiten Ehe dem allen ohne ein Wimperzucken entsagt, wenn es notwendig gewesen wäre. Aber es war Gott sei Dank nicht notwendig; und ihr lieber, guter Mann verlangte es gar nicht von ihr. Nicht wahr?
Nein, er verlangte es wirklich nicht, schon aus Liebe zu Annastina nicht. Daß ihm dies langweilige und zeitraubende Vornehmgetu sehr läge, konnte er nicht behaupten. Aber erstens wollte er ihr das so entzückend jungmädelhafte Vergnügen daran nicht stören, und zweitens befaßte man sich damit ja auch nicht bloß zu seinem Vergnügen. Sie hatte tausendmal recht, wenn sie all den Klimbim aus viel praktischeren Ursachen für unvermeidlich hielt. Das mußte er schon selber einseh'n, je länger, desto besser.
Es waren nicht mehr die Zeiten, da Toni, trotz manchem Zweifel, der ihn aber mehr auf die Art stach, wie den zu gut genährten Gaul der Haber, beschaulich gemalt hatte, was ihm in den Sinn kam, um seine Bilder dann entweder frisch von der Staffelei an Sauerländer zu verkaufen oder sie in die Ausstellung zu schicken, in welchem Fall ihm ja meistens nur noch die kleine Mühe übrigblieb, das Geld später auf sein Bankkonto einzahlen zu lassen. Im ersten Sommer nach seiner zweiten Hochzeit wurde die Hauptwand im Ehrensaal der Münchner Sezession durch ein Riesengemälde Tonis beherrscht, das den literarisch angehauchten Titel führte: »Der Friede vertreibt die Kriegsdämonen von der Erde.« Dem Künstler selbst war es beim Malen dieser großzügigen Komposition nicht immer ganz wohl zumut gewesen. Aber dies eine Mal wollte er Annastina die Freude doch machen. Es kam nur darauf an, daß er sich in dem Gleis nicht festfuhr. Und so was stand hier doch nicht zu befürchten. Bei ihm!
Er wartete etwas unruhig, was nun die liebe Öffentlichkeit zu dem Versuch auf einem neuen Gebiete meinen würde. Aber die Kritik verhielt sich respektvoll anerkennend, das Publikum redete so dumm daher wie immer, und die Kollegen banden Toni ihr Urteil nicht auf die Nase. Es entsprach freilich ungefähr dem, was Theo Schlotthauer vor dem Bilde übertrieben drastisch zu seiner Pepi äußerte, bei der er seit der Hochzeit schon wieder gute Fortschritte im Altbayerischen gemacht hatte.
»Herrschaft, der Schinken!« sagte er. »No ja, den Toni hat's halt, seit er Annas Tinte gesoffen hat.« Dies sollte ein Wortspiel mit dem Namen Annastina sein. »Und er muß ja auch das Nordlindsche Geschäft fortsetzen – schwedisch, ohne Schwefel und Phosphor –, als Schwiegersohn und Einheirater, verstehst. Jessas, schau ihn nur an, den Muskelwurschtel, den ausgestopften, wie er das Trumm Fackel schwingt! Da braucht's net erscht, daß man ein Dämon is, um sich davor zu grausen. Das soll symbolisch sein, daß du dich fei net täuschst! Schad' drum, der Kerl hat was gekonnt! Und was er sich wohl einbild't, wer das dekorative Stück Unglück kaufen soll?«
Die Antwort übrigens auf diese letzte Frage fand Theo zu seinem Staunen kaum eine Woche darnach unter dem Strich der »Münchner Neuesten Nachrichten«. Er hatte sich umsonst den Kopf zerbrochen: das Bild wurde verkauft und gut verkauft an einen amerikanischen Millionär, den als erbitterten Pazifisten alte Beziehungen mit dem Hause Nordlind verknüpften. Dieser Menschenfreund liebte es, seinen Namen in der Zeitung zu lesen. Er erstand also Tonis Allegorie, ohne zu feilschen, und schenkte sie dem Friedenspalast im Haag als Wandschmuck für den großen Sitzungssaal. Annastina strahlte. So eine Ehre. Und welche Bombenreklame das machen mußte, dazu noch ganz besonders bei den zahlungsfähigen Bürgern des Landes, wo man nach Dollars rechnet! Sie ließ sich gleich mit ihrem Mann zusammen photographieren, um, ihren Verdiensten daran entsprechend, einen Abglanz seines Ruhmes auch auf ihr Haupt zu lenken in den illustrierten Blättern der Alten und der Neuen Welt.
Toni ging, wie man sich denken kann, dieser Verkauf gleichfalls sehr angenehm ein. Leider nur hatte er ungeahnte Folgen für ihn. Spielte er doch Annastina die Trümpfe zu und erleichterte es ihr, den Herrn Professor sacht in dem Gleise fortzuführen, in dem er sich doch durchaus nicht hatte festrennen wollen. Was sollte er auch tun! Seine Frau erwartete es von ihm, jeder erwartete es von ihm; so kam's, daß mählich er selbst es nicht mehr anders wußte. Es wurde ihm zur Gewohnheit, mehrmals im Jahr ein weidliches Pinselfechten gegen den Krieg zu vollführen. Es gab Leute, die ihn für solchen Heldenmut bis in den Himmel hoben, und wieder andre, die das als eine Marotte des Meisters ansahn. Den Rang aber eines Meisters gewann er damit in der öffentlichen Meinung. Er hieß bald allgemein der Friedens-Gwinner und hatte so die Marke, unter der ihn die Reiche der Erde kannten. Die Ausdauer, mit der er Jahr für Jahr in die gleiche Kerbe hieb, schuf ihm Respekt bei Gesinnungsgenossen und Gegnern. An dem heiligen Ernst seiner Überzeugung und der granitnen Festigkeit seines Charakters zweifelte niemand; er selber zu allerletzt. Steter Tropfen höhlt den Stein; durch ständige Wiederholung eines möglichst schlichten Grundsatzes prägt ein Mann sein Gedächtnismal in die Tafeln der Geschichte. Ehre also brachte dem starken Manne dieser Kampf, von dem er im übrigen sagen durfte, daß er ihn nur um des hohen Gedankens willen führe; denn irgendwelchen unmittelbaren Vorteil aus dieser Arbeit zog er nicht. Es war ganz sonderbar: so schnell das erste dieser Bilder einen Liebhaber gefunden hatte, so unverkäuflich zeigten sich die andern. Und das verdroß den Maler manchmal sehr. Annastina aber scheuchte durch guten Trost die Wolken von seiner Stirn. Die Welt war eben doch noch nicht reif dafür. Was machte das! Kunstwerke dieses Ranges verloren nicht mit der Zeit, sondern gewannen an Wert weit mehr, als wenn man dafür erlöstes Geld auf Zinseszins angelegt hätte. Und dies wäre außerdem wohl kaum geschehen. Zum Anspeichern von schnödem Mammon fehlte ihnen beiden das Talent. Drum mochten diese Bilder das Kapital darstellen, woraus man den Notgroschen für seine alten Tage ziehen würde. So diente Toni zugleich als vorsorglicher Hausvater sich und den Seinen, wenn er unbeirrt und treu für den ewigen Frieden weiterwirkte. Leider blieb ja der blinden Menschheit solch eine eifernde Belehrung immer noch sehr notwendig. Es zeigte sich in manchem, was diese Jahre über die Erde brachten: Vater Bengt war doch etwas zu früh gestorben, als daß er den Krieg schon völlig hätte ausrotten können.
Den laufenden Anforderungen des Lebens mußte ein andrer Zweig von Tonis Arbeit dienen, der gleichfalls unter Annastinas kluger Pflege wie von selber aus dem Nichts entsprungen war, bald aber überraschend reiche Früchte trug. Es wäre schlimm gewesen, wenn der starke Mann nicht nebenher noch eine Menge Bilder hätte malen können, die nicht nur nicht unverkäuflich, sondern meist sogar schon glänzend verkauft waren, bevor er den ersten Pinselstrich daran tat. Auf der gleichen Ausstellung, die seinen Ruf als Friedensapostel begründete, hatten auch zwei Porträts Annastinas von seiner Hand gehangen, frische Bewegungsstudien in ganzer Figur, Hymnen zum Preise ihrer Anmut, gesehen mit den Augen der Liebe, in glücklicher Stunde auf die Leinwand geworfen. Und diese Bilder, die bei den Kennern wie beim Publikum einmütigen Erfolg fanden, weckten in mehreren sehr hochgestellten Damen den Wunsch, sich gleichfalls in solchem Reiz der Nachwelt überliefert zu sehen. Toni war nach einigem Zaudern bereit, ihnen dazu zu verhelfen, forderte aber auf den Rat seiner Frau sehr hohe Preise; und das erwies sich mehr als Lockung denn als Abschreckung. Man mußte schon etwas bedeuten aus diesem Erdenball, um sich von Antonius Gwinner malen lassen zu können. Das half ihm, schnell in Mode zu kommen. Und wollte es doch einmal aussehen, als ließe das Gedränge der Kunden etwas nach, dann wußte Annastina schleunigst eine so geschickte Werbetätigkeit zu entfalten, daß die von ihr Gepreßten sie noch flehentlich um ihre Fürsprache baten, damit nur recht bald die erste Sitzung für sie angesetzt würde. Hier zeigte sich's im hellsten Licht, wie wertvoll es für Gwinners war, ein großes Haus zu machen. Freilich, um gute Aufträge zu kriegen, entfaltete man eine luxuriöse Gastlichkeit, und um die Kosten dafür bezahlen zu können, mußte man rastlos hinter neuen Aufträgen her sein. Es gab nüchterne Stunden, wo dies dem starken Manne dumpf und verdrießlich zu Bewußtsein drang. Aber auch sonst empfand er namentlich im Anfang häufig, daß es doch seine zwei Seiten hatte, der Lieblingsporträtist der großen Welt zu sein. Durch das Verlangen gesalzner Preise allein konnte er seine Auftraggeber nicht befriedigen. Sie wollten sich und anderen auf ihren Bildern außerdem gefallen und imponieren; und darnach, daß dies leicht zu bewerkstelligen gewesen wäre, sahen sie doch nur selten aus. Was blieb denn Toni übrig, als ihnen mit seinem Pinsel ein bißchen zu schmeicheln! Zuerst zwar fiel ihm das verdammt schwer; er nannte, was ihm da zugemutet wurde, Annastina gegenüber elende Kitschmalerei. Doch sie verstand es, ihn auch hier zu trösten. Er solle es nicht gar so wichtig nehmen; dies sei eben nichts als Brotarbeit. Und er dürfe nicht vergessen, daß er doch auch durch sie mittelbar der hohen Kunst und seinen Idealen diene. Je öfter sie ihm das im Lauf der Zeit darlegte, desto besser leuchtete es ihm ein. Und schließlich durfte sie sich jedes Wort hierüber sparen. Er war es allgemach gewohnt; und für müßige Grübeleien fehlte ihm auch immer mehr die Muße. Er malte seine Damen alle schlangenhaft graziös in Haltung und Gebärden, und die Herren malte er bedeutend. Die Folge war, daß Tonis Porträts anfingen, sich untereinander merkwürdig zu gleichen. Das schadete ihm bei seinen Modellen nichts; denn sie bekamen so gerade das, worauf sie ausgegangen waren: einen echten Gwinner, dem man die Art des Meisters schon durch drei Zimmer ansah. Die Malerkollegen standen der Sache liebloser gegenüber. Aber mochten sie! Das Opfer ihrer lieblosen Urteile erfuhr ja nichts davon; und hätte es auch davon erfahren, es wäre ihm einerlei gewesen, genau so wie die dummdreisten Anrempelungen, mit denen ein paar obskure Zeitungsschreiber sich wohl berühmt zu machen hofften. Die besonnene Kritik nahm sich dergleichen schon nicht heraus gegen den anerkanntesten und bestbezahlten Meister von München, dessen schöne Frau zudem eine so liebenswürdige Gastlichkeit entfaltete.
Nein, auf die kleinen Kläffer paßte Toni nicht im geringsten auf. Er war etwas geworden, er verkehrte mit ganz andern Leuten und ließ sich nicht von ihnen imponieren. Seine einstige Tappigkeit war spurlos verschwunden. Ordentlich herablassend behandelte er seine feine Kundschaft, und mochte einer den Titel Durchlaucht führen, und mochte einer zwei Millionen Dollars jährlich zu verzehren haben. Er lernte sogar die Kunst, die für einen drunten Gebornen die allerschwerste zu sein scheint: er konnte sogar zu gekrönten Häuptern sprechen, ohne ins Stottern zu kommen oder sich das Kreuz zu verrenken, frei weg, wie ihm das Maul gewachsen war, mit ruhiger Betonung seines altbayerischen Dialekts, was namentlich von den auswärtigen Herrschaften als entzückende Originalität und als Beweis für die Urwüchsigkeit des Meisters empfunden wurde. Auf lange Diskussionen über tiefere Dinge ging er übrigens nicht ein. Er begnügte sich meist damit, den Weltfrieden schon eine große Sache und den Krieg ein aus Verseh'n am Leben gebliebenes Stück Mittelalter zu nennen. Die weitere mündliche Propaganda in diesen Kreisen stellte er willig seiner Frau anheim. Die verstand es schon, sich bei solchen Gelegenheiten zufällig ins Atelier zu verirren. Und war sie einmal drin, so blieb sie und bewegte sich auf dem glatten Parkett geschickt und so fern von jeder Befangenheit, daß sie vielmehr etwas darin suchte, durch souveräne Mißachtung aller steifen Etikette und durch anmutig naives Herausplatzen mit ganz gefährlich demokratischen Ansichten als Enfant terrible zu wirken. Kaum eine der hohen Damen, aber sehr viele der hohen Herren bezauberte sie durch diese Art. Gab es aber einmal einen unter diesen Besuchern, der von Annastinas Umgangston eher befremdet war, so ließ er sie das wenigstens nicht merken. Prinzen pflegen ja häufig noch besser erzogen zu sein als selbst die Kinder des großen Bengt Nordlind.
Toni durfte sich wohl mancherlei einbilden. Auszeichnungen wurden in seinem Leben etwas Alltägliches. O mei, der starke Mann lächelte über Orden und Titel. Wer, dem sie zuteil werden, täte das auch nicht! Aber es war doch ein bedeutender Augenblick, als er zum erstenmal auf ein fertiges Bild seinen Namen in der neuen, dekorativeren und rhythmisch besser abgewogenen Form setzen konnte:
ANTONIVS
VON
GWINNER
Und gleichzeitig erfüllte sich ihm ein Wunsch, den er im Anfang seiner zweiten Ehe stark gehegt, mittlerweile aber schon wieder beinah vergessen hatte. Es war ihm zuerst immer ein bißchen peinlich gewesen, daß seine Frau den Familiennamen ihres Vaters hartnäckig seinem eigenen voranstellte. Jetzt wurde ihm, etwas spät zwar, eine glänzende Entschädigung für sein takt- und pietätvoll stilles Dulden in dieser Sache. Auf ihren Visitenkarten hieß es hinfort nicht mehr:
Frau Annastina Nordlind-Gwinner,
sondern:
Frau Annastina Gwinner-Nordlind.
Karriere hatte Toni gemacht. Da braucht es wirklich keinen Theo Schlotthauer, um das herauszufinden. Erschien mithin die eine Hälfte von dessen hämischer Bemerkung recht überflüssig, so war die andre, daß nämlich seines alten Freundes Dasein kein Leben mehr sei, geradezu albern. Das mußte der starke Mann wohl besser wissen. Und ohne daß man ihn fragte, leuchtete aus jedem Wort, das er über Annastina sprach, eine ganz andre Meinung hervor. Erst sie hatte ihm das wahre Leben gebracht. Sie war und blieb seine erste und einzige große Leidenschaft. Das wiederholte er auch dann noch sich selber immer wieder im stillen, als er es später die andern nicht mehr so stark merken ließ. Sie verstand es aber auch, seine Wärme frisch zu erhalten. Sie machte ihre Zärtlichkeiten nicht zur täglichen Hauskost. Das hätte sie läppisch und kleinbürgerlich gedeucht, ja, fast unkeusch, wie sie es bald nach der Hochzeit einmal ausgedrückt hatte, als er hinter ihrer Zurückhaltung Kälte suchen wollte. So blieb ihm ihre Liebe ein Geschenk für hohe Festtage seines Lebens, ein Lohn, um den er immer diente, und der ihm dann längst ersehnt und dennoch überraschend in den Schoß fiel.
So reich an Spannung und Erleben machte das Toni in den ersten Jahren, daß er sich dessen zu Stunden der Gewissenseinkehr manchmal vor Trautchen schämte. Dann sah er sie wieder hoch, bleich und ernst vor sich stehen, wie damals in der Nacht nach der Beerdigung, wie zuletzt noch beim Sühneversuch auf dem Gericht. Es hatte sich an diesem Bilde nichts geändert. Ihm wäre es fast eine Erleichterung gewesen, wenn sie Annastinas verächtliche Prophezeihung wahrgemacht und sich während der Scheidung ein einziges Mal wieder von der unangenehmen Seite gezeigt hätte. Aber häßlicher Zank erhob sich hier nicht einmal ums liebe Geld. Trautchen wies sogar die Rente zurück, die Toni ihr freiwillig anbot. Das Haus in Pasing, in dem ja ihr Muttergut steckte, und ihr bescheidenes väterliches Erbteil waren ihr genug. Es lag zuzeiten wie ein heimlicher Druck auf dem starken Manne, weil für sein Glück das Unglück Trautchens zahlen mußte. Denn sie verdiente ein besseres Los, und er hätte es ihr so ehrlich gegönnt. Aber als er, vielleicht drei Jahre nach Micheles Tod, in der Zeitung ihre Vermählung mit einem Pasinger Arzt angezeigt fand, war es ihm doch ein kränkendes Gefühl, plötzlich von diesem Druck befreit zu sein. Nannte er das auch selber tausendmal töricht und ungerecht, er nahm es ihr doch irgendwie übel, daß sie sich schon nach lumpigen drei Jahren über den Verlust solch eines Prachtkerls, wie er es war, getröstet hatte. Warum also war er guter Dummkopf dann seither seiner Reue niemals so recht ledig geworden! Sie hatte ihre hohen Gedanken von damals bald genug vergessen. Und ausgerechnet irgend so einen kümmerlichen Spießer mußte sie zu seinem Nachfolger machen. Arzt! In Pasing! Weshalb nicht gleich einen Veterinär? Ach ja, und um das Grab des Buben, da dürfte sich jetzt auch er kümmern. Sie würde das ja kaum noch interessieren.
Toni war, seit er ihn an jenem Junitag mit Annastina fluchtartig verlassen hatte, nie wieder auf den Pippinger Friedhof gekommen. Und auch jetzt schob er den geplanten Besuch dort trotz seinem ernsthaften Vorsatz von Tag zu Tag hinaus, bis es ihm selbst allmählich immer zweifelhafter erschien, ob er heuer überhaupt noch die Zeit dafür fände. So wurde es wieder ein Jahr, es wurden Jahre. Das Vaterauge ruhte nie auf Micheles kleinem Hügel, und dennoch lag er wohlbetreut da, im Sommer ein in heißen Farben leuchtendes Blütenbeet, durch das die Bienen summten, und auch wenn Eis und Schnee ihn deckten, wenigstens mit einem Immortellenkranz geschmückt. Doch am Heiligen Abend hatte er seine hohe Zeit. Dann trug er ein Fichtenbäumchen, von dem der Opferrauch der Weihnachtskerzen fromm in die kalte Nachtluft wallte. Kaum aber eine Woche konnte je ins Land gehn, ohne daß einmal Kinderfüße ein munteres Getrappel um das Grab vollführten. Und die blauen Augen gesunder Jungen und Mädel wurden weit und klar, wenn eine warme Mutterstimme vom toten Brüderchen erzählte, das nun schon ein großer Bruder wäre, hätte der liebe Gott es nicht so früh zu sich genommen. Hier war das Michele nicht tot, hier lebte es fort und fort und ging in die Gefilde der Sage ein, mit seinem weichen Herzen und dem kecken Mundwerk, zugleich ein Lausbub und ein Held.
Eine Lehre der schwersten Stunden ihres Lebens hatte Trautchen jedenfalls nicht vergessen: Kinder könne man gar nicht genug haben, war jetzt ein Lieblingswort von ihr; und sie sah jedem, das ihr beschert wurde, mit einer so heilig scheuen Freude entgegen, als ob es der erste Sproß aus ihrem Blut sei.
Erzählte jemand dem starken Manne, daß in seinem alten Haus wieder ein kleiner Weltbürger das Licht erblickt hätte, so zuckte es spöttisch um seinen Mund, und er runzelte die Stirn. Wider Willen sah er darin beinah so etwas wie Verrat an seinem einzigen früh verstorbenen Kinde. Vielleicht war da, ihm selber unbewußt, ein tief verhehlter Neid am Werk. Annastina fürchtete die Schmerzen des Gebärens. Und auch die Sorge um ihre beiden Töchter führte sie gegen seine Wünsche ins Feld. Erst wenn er ein leibliches Kind hätte, würden sie im wahren Sinne Stiefkinder für ihn sein. Toni verstand das feine Gefühl, das sie leitete, und fügte sich still. Den beiden hübschen großen Mädchen wurde er ein guter Vater. In seine Art, mit ihnen zu verkehren, mischte sich etwas vom huldigenden Kavalier und etwas vom guten Kameraden. Sie schlossen sich ihm traulich an, kamen auch gern zu ihm, wenn sie einmal um irgendeine besondre Erlaubnis betteln wollten. Den Papa kriegte man in solchen Dingen so leicht heran. Mama hingegen hatte Grundsätze und erzog ihre Töchter recht streng; ob auch besonders gut, darüber könnte man streiten. So eifrig sie angehalten wurden, zu ihrer Mutter respektvoll bewundernd emporzublicken, es wurde ihnen auf der anderen Seite neben größter Sicherheit der Umgangsformen ein maßloser Hochmut eingeimpft. Sie waren kaum richtig erwachsen, da glaubten sie auch schon, als Enkelinnen Beugt Nordlinds, ältere Leute, die zudem viel mehr in der Welt bedeuteten, als den jungen Dingern wahrscheinlich je beschieden sein würde, sehr offenkundig über die Achseln ansehen zu dürfen. Auch Toni, das bloß angeheiratete Mitglied der berühmten Familie, fühlte sich nun von den zwei Fräulein oft für eine Art Wesen zweiter Klasse gehalten und demgemäß hie und da nachsichtig belächelt. Sehr lange freilich ärgerten sie ihn dann nicht mehr damit. Sie heirateten nacheinander sehr früh und machten, wie es bei dem Bekanntenkreis des Hauses und der Klugheit ihrer Mutter nicht anders zu erwarten war, glänzende Partien. Die Bräutigame, der eine ein Engländer, der andre ein Russe, stammten aus reichen, altadligen Familien und standen beide als hoffnungsvolle Anwärter im diplomatischen Dienst, was Annastina mit ganz besonderer Genugtuung erfüllte. Vielleicht sah sie in ihren Schwiegersöhnen so etwas wie berufsmäßige Verfechter der Grundsätze ihres Vaters und glaubte, Diplomaten dienten allen Ernstes dazu, den Völkern dieser Erde den Frieden zu erhalten.
So abgekühlt der starke Mann den beiden Mädchen zuletzt gegenübergestanden hatte, da ihre Jugend nun sein Haus verließ, war es ihm doch, als bliebe eine Leere klaffend hinter ihnen zurück, als wollten sich unsichtbare Schatten einer großen Einsamkeit erkältend über ihn legen. Warum? Wieso? Was fehlte ihm auf einmal? Der Strom des Lebens versiegte nicht; noch lauter, triumphierender schien er zu rauschen. Und hatte er denn sein Bestes nicht mehr: Annastina! Freilich, es schien ihm manchmal, wie wenn sie nur immer knappere Augenblicke für ihn übrigbehielte. Es war vielleicht auch nötiger als früher, sich überall zu zeigen und tunlichst alle Leute von Bedeutung ins Haus zu ziehen. Die Menschheit ist unbeständig: neue Porträtisten wurden Mode und bildeten eine wachsende Gefahr. Hätte man die Hände in den Schoß legen wollen, wer weiß, wie bald man von der Kalesche gewesen wäre! Und das durfte nicht sein. Eine Lebensführung, bei der niemand nach den Kosten fragt, pflegt mit der Zeit ganz von selbst nicht weniger, sondern immer mehr Geld zu verschlingen. Da kommt man ohnehin nie völlig aus den Sorgen heraus, wenn sie auch nicht so würgend drücken und so ans Leben gehn wie in kleineren Verhältnissen. Nein, davon war keine Rede, Gott sei Dank! Aber Toni hatte doch allen Grund, seine Frau zu preisen, weil sie ihm so geschickt für Arbeit sorgte. Zuviel davon konnte es ihm nicht leicht werden; er arbeitete neuerdings mit einer atemlosen Leidenschaft. Alle die sogenannten Vergnügungen, die man mitmachen mußte, raubten ihm ohnehin genug Zeit. So kam es, daß er an Abenden, wo er ohne Gäste daheim war, auch nicht mehr zu bürgerlicher Stunde die Ruhe suchte. Nach unten abgeblendete elektrische Bogenlampen schufen ein zerstreutes Licht im Atelier; es ließ sich dabei malen wie am Tag. Drei, vier Uhr morgens konnte es darüber werden. Lieber Gott, er versäumte ja nichts. Schlafen konnte er doch nicht, wenn er früh zu Bette ging.
Und lag man so, die Turmuhrschläge zählend, wach, dann kam man nur ins Grübeln. Wieder wie einst, da er noch mit Trautchen verheiratet gewesen war, erhob sich die alte dumme Frage: Wozu leben wir Menschen eigentlich? Das da, soll das das Ganze sein? Und heute gab es keinen Traum mehr, daß es einmal anders würde. Man war auf dem absteigenden Ast. Aber was wünschst du dir denn anders? herrschte er sich an. Geht's dir nicht gut? Hast du die Frau nicht, die du liebst? – So? Und was bist du ihr? klang eine andere Stimme aus dem Dunkel seiner Schwermut zurück. – Unsinn! so lehnte er sich auf. Darum dreht es sich nicht. Ich schaffe doch für sie, ich schaffe ihr das Leben, das sie glücklich macht; und schaff ich außerdem nicht an einem Werk, das der Mühe wert ist? – Am ewigen Frieden? höhnte der unbequeme Mahner. Jawohl, und drunten am Balkan irgendwo rauchen zu dieser Stunde brennende Dörfer und fahren die Splitter krepierender Granaten in lebendiges Fleisch. Ächzend vor Überdruß warf Toni sich dann herum, drehte das Licht an und griff nach dem Buch, das auf dem Nachttisch lag. Aber um sich selbst über dem Schmökern gänzlich zu vergessen, war er wohl auch schon nicht mehr jung genug. Schlaflosigkeit hieß ihm die allerschlimmste Qual. Da deuchte es ihm wirklich klüger, wenn er in der Zeit was vor sich brachte. Und wollten je die Nerven auslassen, so half man halt ein bißchen nach, um die verdammte Abspannung zu überwinden: mit Kaffee, Alkohol und Nikotin; wenn's nottat, auch mit schärferen Giften. Seine Bärennatur vertrug ja eine Portion. Geschafft hatte Tom kaum jemals mehr als in diesen Jahren. Annastina bewunderte ihn freigiebig dafür; und wenn sich sein Gesicht bei ihrem Lob erhellte, sagte sie wohl so recht vergnügt und herzlich:
»Ja, du freust dich, und das darfst du auch. Ich finde eigentlich, daß dir das furchtbar gut bekommt. Je mehr du arbeitest, desto wohler ist dir.«
Auf das hin konnte es geschehn, daß plötzlich sein Ausdruck wechselte. Er starrte abwesend in die Luft, als sähe er da eine Offenbarung, die ihm sehr schwer zu schaffen mache. Seine Lippen murmelten etwas Unverständliches.
Er strich sich mit dem Handrücken über die Stirn und erwachte gleichsam.
»Ja, oder meinst du denn, es schadet dir?« fragte sie leicht befremdet. »Antonius! Hörst du denn nicht? Was ist?«
»Was? Was sagst du? Wieso? Nein, Unsinn! Nein, du hast ganz recht«, versicherte er hastig. »Das sag' ich selber immer.«
Und sie nickte beruhigt und zufrieden. Es ging ihm wirklich ausgezeichnet. Hätte er sonst so schaffen können? Einem großen Manne, wie er es dank ihrer wackeren Unterstützung geworden war, durfte man es wohl nachsehen, wenn er neuerdings etwas vom Sonderling annahm, sich mitten aus einem Gespräch heraus grübelnd in sein Inneres vertiefte und der Welt eine merkwürdige Zerstreutheit zeigte. Das machte sogar Eindruck auf die Leute. Nur ihr gegenüber, fand Annastina, hätte er sich schon ein bißchen mehr zusammennehmen sollen. Zuweilen konnte man wirklich beinah meinen, er müsse sich zuerst darauf besinnen, daß es sie überhaupt in seinem Leben gab. Besonders kränkend traf das sie eines Tages bei einer offiziellen Feier in der neuen Pinakothek. Da war er, als der illustre Kreis sich zu empfehlen begann, plötzlich verschwunden. Sie machte sich ärgerlich ans Suchen und fand ihn zuletzt im hintersten der Säle vor einem der eigenen Jugendwerke, seinem Raub der Proserpina.
»Antonius!« rief sie, gedämpften Tadel in der Stimme. Er hörte nicht und starrte weiter auf die Leinwand, doch so, wie wenn er durch ganz etwas andres blicke. Sie rüttelte ihn leicht am Arm.
»Was ist? Antonius! Was hast du? Alles ist längst fort, und ich darf laufen und ... Es war sehr peinlich! Was denken sich die Leute!«
Er fuhr auf und stammelte, wie einer, der überraschend an einem fremden Ort erwacht:
»Ich habe nur ... Ich wollte ... Ja, bitte verzeih; ich ... Ja ...« Seine Hände machten eine hilflose Bewegung. Sie deutete plötzlich auf das Gemälde. Mit leicht verzognem Mund sagte sie kopfschüttelnd:
»Daß das von dir ist! Ich begreif' es nicht! Ich kann das Bild nicht leiden.«
Ein sonderbares Zucken flackerte über seine Wangen, aus denen alles Blut gewichen war. Er maß sie unter gesenkten Brauen hervor beleidigend kritisch, hart, gleichsam entzaubert. Und mählich ging in seinen Augen ein kaltes Feuer auf, das fast an Haß gemahnte. Jedenfalls empfand sie es so. Auch sie wurde bleich und wich betreten einen Schritt zurück.
»Du wirst doch nicht ...? Ach nein, ich glaube gar, du nimmst das übel? Mir? Aber Antonius! Wie ich zu deiner Kunst steh', könntest du wissen!«
Er schloß die Lider langsam und schlug sie langsam wieder aus. Sein Blick war wie erloschen.
»Nein, nein! Entschuldige, Annastina! Durchaus net! Ich bin nur grad' mit meinen Gedanken woanders gewesen.«
»Das scheint so«, erwiderte sie nicht ohne Empfindlichkeit. »Und wo warst du denn in Gedanken?« forschte sie dann. Ihr bedeutsamer Blick lenkte den seinen hinüber zu dem derb vergnügten Blondkopf der gemalten Proserpina.
»Bei Trautchen, meinst du?« Er lachte ordentlich erleichtert auf. »Na, weißt du! Da darf ich mich ja beinah geschmeichelt fühlen.« Und etwas hastig fügte er hinzu: »Nein, Spaß beiseite! Es interessierte mich, wieder nach langer Zeit einmal ... No ja, und ich darf konstatieren: solid gemalt! Schon nimmer gar so weit von dreißig Jahr', und kaum hie und da ein kleiner Sprung. Alles, was recht is!«
Annastina betrat die Brücke, die er geschlagen hatte für sie und sich. Auch sie lachte, wenn schon es noch etwas gekünstelt klang.
»Und vor Befriedigung über diese hochwichtige Tatsache vergißt du die ganze Welt. Und mich vor allem, schlechter Mensch! Wart nur, mein Lieber, nächstes Mal lass' ich mich scheiden!«
Er antwortete wieder mit einem Scherz, und sie schritten munter plaudernd durch die lange Reihe der Säle hinaus. Aber während Annastina den immerhin leis bitteren Nachgeschmack dieser Stunde schnell von der Zunge verlor, blieb in seinem Innern eine dumpfe Leere, deren Grund er sich hinterdrein selber nicht klarmachte. Es war, als hätte er Angst davor.
Die Leute, die ihm saßen, mußten sich jetzt oft über den Meister wundern. Auch hier konnte er mitten unter der Arbeit ohne jeden äußeren Anlaß plötzlich erstarren und eine Minute oder länger sehr aufmerksam und ganz vertieft nach irgend etwas spähen, was nicht da war. Griff er dann wieder zum Pinsel, so schmiß er die Striche zuerst fast wütend auf die Leinwand und murmelte dabei allerhand in den Bart, wovon man nichts verstand, was aber keineswegs freundlich klang. Es kam auch vor, daß er irgendein leicht hingeplaudertes Wort seines Modells mit einer allgemeinen Betrachtung erwiderte, die von erschreckend bitterem, fast wildem Pessimismus zeugte. Wendete man dagegen ein, er könne das wohl kaum ernst meinen, er hätte gewiß keinen Grund, so schwarz zu seh'n: bei seinem Glück, seiner großen Stellung, seiner wundervollen Frau, dann schien ihn die Scham zu stechen.
»Wer redet denn von mir!« sagte er schnell. »Das wär' noch schöner! Worüber soll ich klagen? Aber wenn man das Leben so im allgemeinen anschaut!« Er verstummte. Doch fügte er gleich hinzu: »Ja, meine Frau! Ja, wenn ich die net hätt!« Und dabei zitterte etwas Überhitztes in seiner Stimme, als wolle er sich selbst mit aller Leidenschaft etwas versichern.
Sogar auf fremde Menschen, die Toni bei irgendeinem Fest nur aus der Ferne erblickten, wirkte er jetzt befremdend. Da geschah es denn wohl, daß einer seiner unberühmteren Kollegen zu einem andern sagte:
»Herrgott, ist das der Gwinner? Der ist doch nicht gesund. Wie er verknittert ausschaut! Und dabei kann er ... Wann war gleich sein fünfzigster Geburtstag? Er ist ja mit dem nötigen Trara gefeiert worden. Warten Sie! Ja, keine zwei Jahr' ist das her. Wundern kann's einen zwar nicht. Er hat die Kerze halt an beiden Enden angebrannt. Wird es wohl nötig haben! Die Frau soll's ja verstehn. Tja, Schönheit: je weniger sie wird, je mehr sie kostet. Oder finden Sie sie vielleicht noch schön? So was Zurechtgemachtes! Um ihn könnt's einem beinah leid sein. Nein, für all das Geld, was er verdient, möcht' ich nicht mit ihm tauschen. Der steckt in keiner guten Haut.«
Ach ja, der starke Mann selber empfand es an jedem neuen Tage deutlicher, wie seine Lebenskraft zerbröckelte. Aber er wollte es nicht wissen. Er biß die Zähne zusammen und klammerte sich an die Arbeit, wenn sie ihm auch keine Freude mehr machte, weil der Rosenschimmer der Selbsttäuschung um sie erloschen war. Gewohnheit hielt ihn noch mit hartem Zügel aufrecht. Niemals kam eine Klage über seine Lippen. Die Schwermut, die ihn immer schwärzer und lähmender bekroch, trug er allein. Und es gelang ihm, seine Frau zu täuschen. Sie hatte ja so viel zu tun und sie besaß die Gabe, vor unangenehmen Dingen vornehm die Augen zu verschließen. Mit einem trübe wissenden Lächeln saß er dabei, wenn sie Reisepläne für kommende Jahre machte. Von Ägypten träumte sie dann, von Indien, gar von Japan! Weiter nichts?
Annastina saß vor dem Toilettenspiegel und ließ sich frisieren. Die Uhr auf dem Kamin ihres Schlafzimmers tat neun Schläge. Die schöne Frau gähnte ein bißchen übernächtig. Sie waren erst um drei Uhr von der Gesellschaft bei Exzellenz Buxbaum heimgekommen. Aber mochte Antonius nur brummen, verloren konnte man den Abend nicht heißen. Der Prinz Peter hatte sich fast zwei Stunden lang mit ihm unterhalten und einen Atelierbesuch in Aussicht gestellt. Plötzlich klopfte es sehr laut und ungeduldig an die Tür. Sie fuhr empor.
»Ja, was ist? Was soll das heißen! Wer da?« rief sie scharf.
»Soll ich mal schau'n, gnä Frau?« fragte die Jungfer und huschte schon davon.
»Ich bin's, gnä Frau. Der Stettner«, erklang von draußen aufgeregt die Stimme des Dieners. Das Mädchen öffnete spaltbreit und sagte neugierig:
»Was is denn, Stettner? Nein, Sie können net herein.«
Doch er schob sie beiseite und trat heftig ins Zimmer.
»Gnä Frau!«
Annastina war aufgesprungen und hielt die Spitzenjacke über ihrer Brust zusammen.
»Was fällt Ihnen ...?« Sie stockte mitten in ihrem zornigen Satz. Mit großen Augen starrte sie in sein verstörtes Gesicht.
»Gnä Frau, der Herr Professor!«
»Was?! Was?!«
»Wie ich ihn wecken wollte ...«
»Tot!« schrie Annastina mit seltsam hoher, schriller Stimme und sank besinnungslos in ihren Stuhl zurück. Aber bevor die Jungfer das Riechsalz unter die Nase halten konnte, war sie schon wieder bei sich.
»Tot?« fragte sie dumpf und ließ die Fingerspitzen von den Schläfen über die Wangen niedergleiten. Die Alte nickte und bat, ein Schluchzen unterdrückend, kläglich:
»Möchten die gnä Frau net mit 'nüberkommen?«
»Nein, ich kann nicht! Ich muß erst ...«, wehrte sie in einem heftigen Schauer ab. »Nein, gehn Sie gleich wieder zu ihm und bleiben Sie da, bis ... Und Sie, Alwine, Sie telephonieren an den Doktor; er soll gleich ...«
»An den Herrn Hofrat, ja.« Die Jungfer lief schnell hinaus. Stettner folgte ihr kopfschüttelnd.
Es dauerte eine Weile, bis der dumpfe Wirrwarr in Annastinas Kopfe klareren Gedanken wich. Wie hart sie das doch traf! Daß es gerade jetzt kam! Was wurde nun aus all den schönen Plänen, die sie für die Zukunft gemacht hatte! Und überhaupt, es war ja nichts vollendet und gesichert; es lag alles im Nebel. Diese entsetzliche, sinnwidrige Möglichkeit hatte sie nie ins Auge gefaßt. Sie ahnte nicht einmal, ob sie genug zu einem Leben haben würde, das nach ihren Begriffen eines wäre. Abhängig zu sein von der Hilfe der Schwiegersöhne, wie bitter für ihren Stolz! Und ob die Bilder soviel brächten ...? Warum nur alles Unglück dieser Welt sich auf ihr Haupt sammeln mußte? Das Mitleid mit sich selber packte Annastina, sie gab sich haltlos einem wilden Schluchzen hin.
Die Hausglocke trillerte scharf. Konnte das schon der Doktor sein? Sie wischte sich schnell die Tränen ab und blickte, während die Finger mit geübten Griffen ihre Frisur betasteten, ernst und aufmerksam prüfend in den Spiegel. Schrecklich verweint! Nun ja, das durfte ihr nach einem solchen Schlag wohl niemand übelnehmen. Nein aber, wie sie aussah! Gewohnheitsmäßig griffen ihre Finger zum roten Stift, sie netzte ihn mit der Zungenspitze und frischte die Farbe ihrer Lippen auf. Jetzt noch ein bißchen Puder; nur einen Hauch. Sie war nicht in der Stimmung, sich erst lange schön zu machen. Alwine kam an die Tür und meldete den Arzt.
»Er soll ...«, rief Annastina. »Führen Sie den Herrn Hofrat zu ... Sie wissen ja. Ich komm' gleich nach.«
Aber sie gewann es nicht über sich, das unaufgeräumte Sterbezimmer zu betreten. Sie ließ dem Doktor sagen, sie erwarte ihn später in ihrem Boudoir. Und als der alte Herr dort eintrat, fand er sie, ein Bild des steingewordnen Schmerzes, auf der Chaiselongue sitzen, in einem dunklen Morgenkleid von schön geordnetem Faltenfluß. Er sah auf den ersten Blick, daß sie ihr Leid vornehm mit sich selber abmachen wollte. Die langjährige Übung in seinem Beruf hatte ihm eine sichere Witterung dafür geschenkt, was bei Todesfällen die Hinterbliebenen von ihm erwarteten. Hier begnügte er sich damit, der Witwe respektvoll die Hand zu küssen und undeutlich ein paar kurze Worte in den Bart zu murmeln, durch die seine innere Ergriffenheit nur leise hindurchklang. Dann nahm er Platz und ließ gedämpften Tones hören, was er als Arzt zu sagen hatte. Von Arteriosklerose sprach er und davon, daß sich die Katastrophe wohl sicher durch leichtere Anfälle in Gestalt von Ohnmächten vorausverkündet haben müsse. Der Herr Professor hätte ihm übrigens erst jüngst – wenn er nicht irre, in einiger Besorgtheit – telephoniert, er fühle sich nicht Wohl und wolle sich am nächsten Tag einmal gründlich von ihm untersuchen lassen. Gekommen sei er dann allerdings nicht. Aber es wäre für eine wirkliche Hilfe auch da schon bestimmt zu spät gewesen. Und so schwer solch ein jähes Ende die Angehörigen treffe, versöhnend wirke doch, daß dem Heimgegangenen vielleicht hilfloses Siechtum erspart geblieben sei. Früh freilich, viel zu früh sei der Herr Professor den Seinen, der Menschheit und der Kunst entrissen worden. Nun, eine volle Lebensarbeit hätte er trotzdem geleistet; weit mehr als mancher, der erst mit achtzig stürbe. Man wisse ja, welch ein leidenschaftlich tätiger Mensch er gewesen sei. Und das stelle natürlich auch seine Ansprüche an die Maschine, die das Blut durch die Adern pumpe. Mag sein: wenn er sich in dieser Hinsicht von jeher ein bißchen mehr hätte schonen wollen . . . Hier stockte der Hofrat und deutete ein leichtes Hüsteln an. Er war plötzlich über seine eigenen Worte erschrocken. Ob er da nicht am Ende einen wunder Punkt berührte? Doch Annastina sagte ruhig, in sanftem, kaum ein wenig bitterem Klageton:
»Ach, warum hat er sich nicht mehr geschont!« Die grünen Augen schlugen sich traurig gegen die Decke auf. Es war der Blick einer Dulderin, in dem die kindlich vorwurfsvolle Frage brannte: Hat er denn gar nicht an mich gedacht? Die Spannung in dem Gesichte des Doktors löste sich; unwillkürlich nickte er Beifall. Er stellte sich ihr noch für alle gewünschten Dienste zur Verfügung und empfahl sich dann bald. Diese Frau brauchte ihn nicht weiter. Er hatte schon häufig ihre Sicherheit auf dem Parkett der großen Welt bewundert, jetzt wußte er, daß sie jeder Lebenslage gewachsen war. Und daran hatte er als alter Skeptiker halt seine sozusagen künstlerische Freude.
Toni lag kalt und bleich auf seinem Bett. Mit einundfünfzig Jahren war er gestorben. Zu früh, das sagten dem ersten, der es aussprach, späterhin noch viele nach. Als seine Zeit erfüllt war, sagte der Meister, der die innere Unruh dieses Lebens für immer stillgestellt hatte. Vom Arzt war Annastina, aus Überzeugung oder aus Liebenswürdigkeit, der Trost gespendet worden, daß ihres Mannes Ende plötzlich und sanft gewesen sei, vielleicht nur ein Hinübergleiten aus dem zeitlichen Schlaf in den ewigen. Aber die Ärzte haben leicht reden. Wer diesen Toten richtig ansah, wußte es besser. Und mochte der Tod ihn schnell wie der Blitz aus dem Hinterhalt überfallen haben; wieviel Zeit braucht denn ein Mensch, um vor dem Sturz ins Dunkel seinen Erdenweg noch einmal zu gehen! Dies ist der Weg, der uns ans Ziel führt: zur Erkenntnis. Und Toni war ihn gegangen; davon sprach sein letztes Gesicht. Es zeigte die wächsernen Züge eines vom Leben aufgebrauchten Mannes, Leiden und Leid hatten ihre Narben hineingeprägt, aber dafür lag ein stilles, starkes Lächeln, das die Jahre auszulöschen schien und wiederbrachte, was sie vertrieben hatten: den hellen, mutigen Unschuldschimmer der Jugend. – Wie? War, was ihm als Frucht und Summe seines Lebens in der erstarrten Hand lag, denn schon einmal sein Besitz gewesen? Im Keime, ja! Die Todesstunde bringt nichts in uns zur Reife, was nicht von jeher in uns wuchs. Wir konnten es nur nicht mehr sehen, weil unsere eigne Torheit, Bequemlichkeit und Sünde, weil unsere Einbildung Dornen und Disteln darum wuchern ließ. Es ist noch nicht zu spät, wenn erst der Vollender Tod das geile Unkraut rodet. So spiegelte der Glanz, der von Tonis letztem Antlitz ausging, ins Ewige vereinfacht wider, was die Kameraden froher Werdetage einst sein Lausbubenlächeln genannt hatten. Mit pfiffigem Mißtrauen hinter die Dinge schaute dieses Lächeln und war doch von Herzen verliebt in die närrische Welt, spöttisch und gütig war es, kindlich und aller Weisheit voll: der unbewußten, noch nicht durch neunmalklugen Schwatzkram fadenscheinig gemachten Weisheit des Gefühls. Da schaut ihr! sagte dieses Lächeln. Nun hat ein starker Mann am Ende doch noch seine Kraft gefunden. Es wurde langsam Zeit! Gott, war ich dumm!
Und einer hatte es vielleicht noch mehr und etwas Besonderes zu sagen: Annastina. Als sie, die vor Leichen ein Grauen empfand, endlich zögernden Fußes an den Sarg trat, war es ihr, als blickten die toten Augen höhnischen Mitleids voll durch die geschlossenen Lider. Sie barg ihr Gesicht in den Händen. Sie wollte das nicht sehen, wollte es nicht ablesen von dem auf immer stummen Mund, sein letztes Wort an sie: Ich bin gegangen, ich bin dort, wohin du mir nicht folgst. Ich habe meine Sünden abgebüßt, und ich bin frei. Ich weiß jetzt alles, was dir auf alle Zeit verborgen bleibt, du armes Ding mit deiner Weltanschauung.
Den Kopf scheu weggewendet, schlich sich Annastina hinaus. Vor der Tür preßte sie die Fäuste auf ihr pochendes Herz und schüttelte sich leise. Wie er sich verändert hatte! Ganz fremd, ganz fern! Fern mochte Toni ihr wohl sein: er war bei sich.
Nein, dachte sie, ich will ihn als Lebenden in der Erinnerung behalten. So gehörte er mir. Wär' ich doch meinem Gefühl gefolgt und gar nicht zu ihm hingegangen! Wie lange werd' ich brauchen, bis ich dies häßliche Lächeln nicht mehr sehe!
Trübsinnig starrte sie zu Boden. Plötzlich ging ein Ruck durch ihre Gestalt. Sie horchte. Hatte es nicht geklingelt? Der Diener kam und meldete mit einer Leichenbittermiene, ein Herr von den »Neuesten« wünsche die gnädige Frau zu sprechen. Sie richtete sich auf.
»Führen Sie ihn ins Boudoir! Ich komme!«
Das Leben forderte sein Recht. Gut denn, so tat man seine Pflicht.
Wer wohl um Tonis Tod das reinste Leid trug, das war Trautchen. Sie hatte einen guten, lieben Mann, mit dem sie in inniger Harmonie zusammengewachsen war. Fünf frische, wohlgeratene Kinder, zwei Buben und drei Mädel, lärmten fröhlich durch ihr Haus, alles gedieh ihr, und es blieb ihr kaum etwas zu wünschen. Toni hatte sie seit vielen Jahren nicht gesehen, ihn gar nicht sehen wollen. Ob er nun lebte oder starb, das gab ihr nichts und nahm ihr nichts. Dennoch war es ihr, als sie die Anzeige in der Zeitung las, als sinke mit ihm ein gutes Stück ihrer eigenen Jugend in die Gruft. Hatte vielleicht in einem schattigen Winkel ihres Herzens noch irgendein Restchen Bitterkeit gegen ihn sein verborgenes Dasein gefristet, jetzt schmolz auch das dahin. Sie wußte, daß es ihm nicht gut ergangen sein konnte, sie ahnte, was seinem Erdenweg so schnell das Ziel gesteckt hatte.
Einen Tag lang trug sie das still mit sich herum; dann eröffnete sie sich ihrem Mann.
»Rudi«, sagte sie zum Schluß, »ich weiß nicht, ich hab' das Gefühl, ich sollte ihm doch auch einen Kranz bringen, einen kleinen selbstgemachten aus unserm Garten. Verstehst du das? Nicht wahr, ja, du verstehst es auch? Nein, nein, auf die Beerdigung geh' ich natürlich nicht. Nachher, wenn niemand da ist, gegen Abend ... Ich finde, das gehört sich so.«
Er schaute verloren in die Luft. Dann nickte er eifrig und bestimmt.
»Natürlich! Du hast recht!«
»Aber wenn du nicht meinst?« entgegnete sie zögernd und musterte ihn in plötzlich ausgestiegenem Zweifel.
»Nein, nein!« Er mußte beinah lachen. »Was glaubst du denn, und warum soll' ich ...? Glaubst du, ich wäre eifersüchtig? Bin ich das je gewesen, solang' er am Leben war?«
»Das wäre auch noch schöner!« stellte Trautchen fest.
»Na dann!« sagte er. »Und jetzt erst recht! Also: wenn du's nicht tust, dann heißt das, daß du mich für dumm hältst. Nein, ich besteh' darauf. Und ich finde, es macht auch deinem Herzen alle Ehre.«
Damit war es beschlossen. Aber es ließ ihr keine Ruhe. Ein bißchen traurig war er gewesen wenn er es auch nicht zeigen wollte. Und so bohrte ein seiner Stachel in ihr, als ob von ihrer Seite eine heimliche kleine Ungerechtigkeit gegen ihn darin läge. Am nächsten Morgen nach dem Kaffee, als die Kinder zur Schule abmarschiert waren und auch er gerade im Begriff stand, das Zimmer zu verlassen, fing sie an:
»Du, Rudi, was ich noch sagen wollte: das von gestern war nur so eine Idee. Jetzt habe ich mir's überlegt. Nein, meinen Kranz für Toni trag' ich nicht in die Stadt zu all dem Lorbeer, der dort liegen wird; ich leg' ihn auf Micheles Grab. Das ist das Richtigste. Meinst du nicht?«
In seinen Augen ging eine Wärme auf. Er nickte ihr zu, nahm ihre Hand und drückte sie.
»Also, grüß Gott. Vierzehn Patienten heute früh!«
Er wußte wieder einmal, was er an ihr hatte.
»Komm nicht zu spät!« rief sie ihm nach. »Heut mittag gibt es Fisch. Und der zerfällt so leicht.«
Trautchen tat nichts, als daß sie einen kleinen Kranz für Toni auf Micheles Grabhügel niederlegte. Annastina hingegen arbeitete mit allem Eifer für Antonius von Gwinners Nachruhm, seine Unsterblichkeit. Und trotzdem, so widersinnig ist diese Welt, mußte das Echo, das des starken Mannes Tod im Blätterwald erweckte, Trautchen zu viel größerer Genugtuung gereichen als ihrer Feindin von einst. Zwar in den biographischen Stilübungen der Lokalberichterstatter klang deutlich Annastinas Stimme durch, hier vollführten auch die Glocken des ewigen Friedens ihr feierliches Gedröhn, und der Schatten Bengt Nordlinds geisterte bedeutungsvoll über die Szene. Aber die ernsthafte Kritik, die unterm Strich Antonius von Gwinners Lebenswerk zusammenfassend vor die Lupe nahm, war rein vom Teufel besessen. Bei ihr kamen die berühmten Friedensbilder schlecht weg, höchstens die edle Absicht, die hinter ihnen stecke, wurde gewürdigt, die Porträts vollends ließ man ganz links liegen; des Künstlers wahre Bedeutung fand man in seinen früheren Bildern, in dem, was er selbst seine ironische Mythologie genannt hatte. Sollte man's glauben: von dieser leichten Ware machten die Menschen ein Geschrei! Einer von ihnen verstieg sich sogar zu der Behauptung, diese Bilder erschienen einem heute schon in historischem Abstand, gewännen fast etwas Altmeisterliches. Die Zeit ihrer Entstehung hätte an ihnen nicht mehr als die stupende Malerei und die saftige Lustigkeit bemerkt, heute erst spüre man darin die Tiefe des Blickes, das Dämonische, das einem der Ausblick in die Abgründe der Seele eröffne, die so humorvoll und ohne jedes Pathos vorher kein andrer Maler durchleuchtet hätte. Dies Erstmalige und Einmalige erhebe diese lustigen Werke zum Rang der hohen ernsten Kunst. Der das schrieb, war zudem ein Parteigänger der allerneuesten Richtung, die doch sonst immer so tat, als ob es vorher überhaupt noch keine Maler gegeben hätte. Nein, Annastina ließ sich nicht täuschen: hier handelte es sich um eine Verschwörung. Was sollte dieser Trompetenstoß denn auch für einen andern Zweck verfolgen als den, die Werke ihres Mannes, die noch zu haben waren, verächtlich zu machen! Leider glückte der tückische Anschlag. Die frühen Bilder Tonis, die in der Hand von offenen oder verkappten Händlern waren, wechselten schnell und zu hohen Preisen den Besitzer. Alles, was Annastina selbst noch hatte, lag wie Blei. Niemand fragte danach.
Nun aber zeigte sich die Größe dieser Frau noch im hellsten Licht. Sie drehte effektvoll den Spieß um und ließ erklären, daß diese Werke gar nicht verkäuflich seien. Sie sollten, um ihrem hohen Gedanken weiter zu dienen, ein eigenes Museum bilden, für das sie das Atelier des Meisters und mehrere daranstoßende Räume ihres Hauses zur Verfügung stellte. Die Welt las die Notizen darüber mit Respekt und regte sich nicht weiter auf. Nun ja, erklärte Annastina ihren Freunden, die Menschheit sei heute noch nicht reif dafür. Aber an ihr werde es trotzdem nicht fehlen. Der Architekt arbeitete schon an den Plänen des Umbaus. Zu Weihnachten würde das Friedensmuseum eröffnet. Und eines wisse sie: möge der Besuch im Anfang sein, wie er wolle, noch nach zweihundert Jahren würde die Menschheit dankbar zu dieser Stätte wallfahrten.
Auf zweihundert Jahre hinaus ist leicht prophezeien. Der kurzfristige Teil von Annastinas Voraussage wenigstens erfüllte sich nicht. Es kam etwas dazwischen. Knapp vier Monate nach Tonis Todestag, zu Anfang des heißen Augustes im Jahre vierzehn brach der große Krieg aus. Und der steht freilich auf einem andern Blatt als diese Geschichte vom starken Mann. Annastina war in allen den langen Jahren dem inneren Wesen nach doch keine Deutsche geworden; die sie am vornehmsten dünkenden Gäste ihres Hauses waren Ausländer gewesen, ihre beiden Töchter weilten jetzt von ihr abgeschnitten im feindlichen Lager. So kam es, daß sie kaum etwas von der gewaltigen Welle spürte, die in jenen Tagen durch unser Land ging, nichts von dem Glühen in den Seelen, nichts von dem unheimlich leise drohenden Waffenklirren, mit dem der Riese sich erhob. Sie betrachtete diesen Krieg beinah so, als stürzten sich die Völker Europas nur ihr zum Tort so todverachtend auseinander. Und sie sagte: »Dank wenigstens dem Himmel, daß mein Mann diesen Zusammenbruch seiner Ideale nicht mehr erlebte! Er hätte es nicht ertragen!«
Trautchen aber, die Deutsche, hatte einen anderen Glauben, sie sagte mit leuchtenden Augen ganz leise zu sich selbst: Wenn Toni jetzt noch lebte, er wäre trotz seinen Jahren und trotz allem freiwillig mitgegangen! Und das Michele natürlich auch! Trautchen spielte sich nicht die Spartanerin vor, sie war eine sehr vernünftige Frau. Es bedeutete ihr eine Herzenserleichterung, daß ihre beiden Söhne den Jahren nach als Soldaten noch gar nicht in Frage kamen und daß der Krieg ihren guten Mann auf einen Posten weit vom Schuß in einem Münchener Reservelazarett stellte; sie hatte auch die Kraft und Kühnheit des starken Mannes nie überschätzt und doch: insgeheim war irgendwie ihre erste Ehe das Heldenzeitalter ihres Lebens und Toni ihr Held geblieben. Warum, das fragte sie sich nicht. Wer kann wissen, welche der beiden Frauen mit ihrer Meinung das Richtige traf! Toni lag sechs Fuß tief im Boden seiner Heimat, die in der sicheren Hut der fernen Fronten stand. Er schlief; und droben wurde es nun sehr still von ihm, noch stiller von seinem fleißigen Kampf um den ewigen Frieden.
Es hätte wohl lange so bleiben können, wenn nicht mitten im Krieg etwas geschehen wäre, was seinen Namen aufs neue in den Mund der Leute brachte. Das Völkermorden, das so viel Leben kostete und so viel Schmerz gebar, brachte nebenher das Geld ins Rollen. Wer klug war und von Bedenken frei, konnte sich leicht die Taschen füllen. Und die neuen Millionäre entwickelten sich märchenhaft rasch zu Kunstmäzenen. Sie hatten mannigfache Gründe von großenteils fragwürdiger Natur dafür. Aber der Bildermarkt blühte. Und Annastina beschloß, das zu benutzen. Sie konnte die Einnahme wohl gut brauchen, auch fand sie vielleicht, daß sich die Menschheit nun des ihr zugedachten Museums für alle Zeit unwürdig gemacht hätte. Kurzum, sie ließ Tonis ganzen Nachlaß versteigern. Und der Erfolg gab ihr recht.
Wunderlich genug wirken seine gemalten Friedenshymnen als Wandschmuck bei den neuen Reichen. Zum Glück jedoch fällt das kaum jemand auf. Versäumt es der Besitzer auch selten, einen Besuch, an dessen Meinung ihm etwas liegt, vor diesen Stolz seiner Galerie zu führen, und ruft der Gast dann auch gewöhnlich angenehm überrascht: »Ein echter Gwinner, ah, Respekt!«, so gilt die Verbeugung, die er dazu macht, doch weder der Pinselführung, noch der Idee des Bildes, sondern nur dem Haufen blutigen Geldes, der dafür angelegt wurde.
Tritt aber in einer unserer öffentlichen Sammlungen ein Mensch von Gefühl vor eines der frühen Gwinnerbilder, die nicht gemalt sind, um Ideen zu verkörpern, dann stockt der Atem ihm, er steht gepackt, und hell erblüht in seinen Augen und um seinen Mund das gleiche Lächeln, das auf Tonis letztem Antlitz lag und dort schon vor so manchem Jahr zu Staub zerfiel, dies starke, dieses deutsche Lächeln. Denn ist es nicht vor vielem andern dieses Lächeln, was unser starkes, tüchtiges, jeder Not gewachsenes Volk zugleich den nichts als Tüchtigen so wunderlich, was es so tief, so menschlich macht?