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Erstes Buch

Wo sind sie, die vom breiten Stein
Nicht wankten und nicht wichen,
Die einst bei Lieb, Gesang und Wein
Den Herrn der Erde glichen?

Altes Burschenlied

 

Erstes Kapitel. Gesunde Knochen und ein krankes Gewissen

Die Sonne lauerte durch den Spalt der lichtbunten Vorhänge an dem Mansardenfenster und warf einen Streifen über das Fußende der breiten Bettstatt aus polierten vierkantigen Messingstäben, über die gelbseidne Steppdecke und die großen Füße, die darunter hervorgeschloffen waren und sich neugierig im Zimmer umsahen, erlöst gleichsam aus der Abhängigkeit von dem sie sonst regierenden Kopfe, der indes droben, eine Backe ins Kissen gewühlt, offnen Mundes schnarchte, in einem traumlosen Schlafe, dahinein nicht einmal das Gespenst eines Gerichtsvollziehers Zutritt hatte.

Ob es nun davon herrührte, daß der Straßenbahnwagen, der gerade unten vorüberdröhnte, das ganze, schön modern gebaute Haus ins Wanken brachte, oder ob den Sonnenstrahl wirklich das Lachen ankam – jedenfalls schüttelte er sich ein weniges; und es lag kein Grund vor, anzunehmen, daß das nicht vor Heiterkeit über dies Gemach und seinen Bewohner geschehen wäre.

Ein weltläufiger Mann, der unvorbereitet hätte raten sollen, wem dieses Schlafzimmer gehöre, würde es vielleicht einer galanten Dame zugeschrieben haben, aber dieser Kenner wäre mit seinem Indizienschluß hereingefallen. Denn in dem frivol prunkhaften Bette lag ein derber Kerl mit langen Gliedern und breitem schwarzhaarigen Bauernschädel.

Und dies war niemand andres als der Maler Anton Gwinner, in den Kreisen seiner Genossen unter dem Beinamen starker Toni je nach der Gefechtslage beliebt oder gefürchtet und bei den Eingeweihten zudem als talentiertes Aas angesehen: »... wenn bloß das Faultier ein bissel mehr schruppen wollte!« – Unter Schruppen verstand man dabei die nervöse Fühlhorntätigkeit des Künstlerpinsels.

Die Tür öffnete sich leise. Ein langer, hohlwangiger Mensch mit wirr in die Luft stechenden roten Haaren und rotem Spitzbart lugte herein.

Wer Anton Gwinners Freund und Ateliernachbarn Theo Schlotthauer um diese Stunde zum erstenmal erblickt hätte, wäre des Staunens voll gewesen bei der Kunde, daß dieser sonst für einen hübschen, und namentlich, daß er für einen eleganten Menschen galt. Er hatte sich über das offenstehende Nachthemd ein altmodisches, dürftiges Jäckchen mit hochgeklapptem Kragen gezogen; seine dürren Beine staken in einer nach jeder Richtung zu knappen Hose, die nackten Füße schlorrten in heruntergetretnen Hausschuhen aus kariertem Wollstoff.

Theo musterte den Schnarcher mit einem gleichsam maßnehmenden Blick, schaute dann suchend durchs Zimmer und an sich herunter, entdeckte in seiner äußeren Brusttasche ein paar schöne Dachshaarpinsel, zog mit einer bewillkommenden Geste seiner affenartig schmalen Hand einen davon hervor und machte den ersten Angriff auf den heiligen Schlaf, indem er das Kunstgerät dazu mißbrauchte, seinen Freund an der Fußsohle zu kitzeln. Toni trat heftig gegen einen der kalten Messingstäbe; und als ob von der Sohle ein schnurgerader Nervenstrang bis zur Nase führe – so prompt quittierte er dieses Kältegefühl mit einem Niesen, brummte dazu etwas Unverständliches, zeigte jedoch wenig Neigung, sonst eine Lebensäußerung von sich zu geben.

Der Attentäter sah ein, daß hier drastischere Mittel vonnöten waren. Er warf mit einem leichten Stoß das Federbett auf den Boden, packte einen Zipfel der Steppdecke und retirierte vorsichtig zur Tür. Tonis riesige Pratzen griffen nach etwas nicht mehr Vorhandnem und zogen es über seinen Brustkasten herauf. Trotzdem er keineswegs undeutlich »Rindvieh!« brummte, öffneten sich seine Lider nicht, und er schien fest entschlossen, noch lange zu schlafen.

»Das kriegen wir schon!« sprach Theo zuversichtlich in sich hinein. Er schlich sich auf den Zehen zum Waschtisch, nahm den großen Schwamm, ließ ihn im Krug erst einmal ordentlich trinken und warf ihn aus sicherer Entfernung – so rechnete er wenigstens – auf seinen Herrn Nachbarn.

Dieser aber war, als ihm das triefende Wurfgeschoß auf die Hüfte klatschte, auch schon aus dem Bett und ließ dem andern keine Zeit, die Tür zu gewinnen, geschweige denn, sie von außen zu verschließen. So heuchelte Theo denn Tapferkeit und bückte sich zur Ringkämpferpose, um wenigstens den Untergriff zu gewinnen, obgleich er sich sagen konnte, daß auch dieser Vorteil ihm nichts helfen würde.

Doch er erlangte ihn gar nicht. Toni hatte den Mörder seines Schlafes blitzschnell gepackt – und zwar so, daß dem die Rippen sich bogen.

»Laß los! Puh Deuwel! Das ist doch kein Witz!« stöhnte Theo.

»Sofort! Bitte gleich!« grinste der andere ingrimmig. Dabei hob er sein Opfer ein bißchen vom Boden und feuerte es rücklings gegen den weißlackierten, mit Reihen von schwarzen Quadraten keusch und kunstgerecht verzierten Kleiderschrank.

Bum, schlug Theo gegen diese nüchtern saubre Pracht. Die Zunge des Schlosses zerknackte mit grellem Metallton, die Türflügel wichen respektvoll nach innen. Bum, schlug Theo gegen die Rückwand. Ihr weiches langfaseriges Holz kreischte weinerlich anklagend auf und barst in schön geschwungener Linie von oben bis unten. Bum, setzte sich Theo auf den hohl zum Himmel brüllenden Boden des Schrankes, und über ihn ergossen sich mit seufzendem Laut seines Besiegers Festtagsgewänder. Theos Beine allein zappelten noch lang und beschämt in die Welt des Sicht, baren hinaus.

Tonis Zorn war verraucht, seine schwarzen Spitzbubenaugen wurden blank vor Vergnügen. Er schmetterte ein Lachen des Triumphes über das Schlachtfeld.

»Grobian!« so ließ sich Theo, den Umständen nach gefaßt, vernehmen. Er war wieder zum Vorschein gekrochen und trat in seine beiden Schuhe, während die Hände sein magres Gestell forschend betasteten.

»Hast du außerdem noch einen Zweifel?« fragte Toni mit Hohn, aber nun plötzlich doch nicht ganz frei von Sorge.

»Jescheerter Bauer!« knurrte der andre und rieb sich mit andächtiger Behutsamkeit die Gegend unterhalb des Kreuzes.

»Es kann halt net ein jeder einen preußischen Briefmarkenbändiger zum Alten haben«, gab Toni zurück. »Hätt'st dir net so viel 'traut, du bissel Mannsbild!«

Theo, dem klar war, daß sich mit Gekränktheit hier schwerlich große Effekte erzielen ließen, hielt es für ratsamer, seinen Humor wiederzufinden. Er deutete auf den Schrank:

»Hab' ich's dir nicht gleich gesagt: sie sind nischt für dich, die jeschnasigen Backfischmöbel! Für dich wär' Gußeisen die richtige Marke!«

»Gußeisen! Sei froh! Z'samm'kehren könnt' jetz' die alte Gschwendtnerin das, was übrig wär' von dir und deinen Talenten!«

»Wenn ich nicht so gute Knochen hätte ...!« wagte Theo zu erwidern.

»Heißt man das auch Knochen, die preußischen Makkaroni?« erkundigte sich Toni und bückte sich zu dem verschandelten Möbel hinunter. »Schau, da is es noch ganz – bei dem Rumpler!« Er hob seinen Fuß und stampfte so heftig in den Schrank, daß nun auch das Bodenbrett platzte. »Das sind Knochen!« stellte er fest und wendete dem Schranke den Rücken. »Froh bin ich, daß das Gelump einmal hin is! Da hab' ich mich schön ausschmieren lassen damit!« Doch plötzlich griff er nach seiner Hüfte. »Patschnaß is man! Was fallt denn dir ein, du Hammel!« Und schon zog er sich das Nachthemd über den Kopf.

»Dann hättest du mir nich das Ehrenwort abnehmen dürfen, daß ich dich heute früh wecken soll!« erwiderte Theo.

»Also, so ausgeschamt muß man auch net lügen!« Toni griff nach dem Oberhemd, das bös verknittert zu Füßen des Bettes am Boden lag.

»Aber! Arbeiten hast du wollen!«

Ein großes Staunen trat in Tonis schwarze Augen.

»Muß ich besoffen gewesen sein!« sagte er. Dann strich er sich mit der Hand über die Stirn, hinter der plötzlich ein in Wellen steigender Schmerz fühlbar wurde, und fügte düster hinzu: »Ja, man ist ein Schwein.«

»Warum dir das grad' heute auffällt?« grinste Theo.

»Wieviel Uhr haben wir denn?« Toni ging zum Nachttisch und starrte verblüfft auf die Marmorplatte.

»Die Zwiebel suchst du?« erkundigte sich sein Freund. »Die is doch futsch.«

»Versetzt?« überlegte Toni und gab sich gleich selber die Antwort: »Ach was!« Sein Finger zeigte auf einen liederlich zusammengeknüllten Tausendmarkschein, der neben einer Handvoll Gold-, Silber- und Nickelmünzen auf dem Nachtkastl lag.

»An die Wand hast du sie geschmissen, die Uhr, wie wir heut nacht nach Hause gingen. In tausend Stücke! Aus Lebensfreude, hast du behauptet.«

»Was so ein Preuß' schon versteht! – Is das vielleicht net Lebensfreude?«

»Oder Delirium – wie man es auffaßt.«

Toni hatte keine Antwort auf diese lieblose Deutung. Er fegte mit der Rechten seinen Geldvorrat in die Höhlung der Linken und betrachtete ihn aufmerksam.

»Is das der Rest des väterlichen Vermögens?« fragte Theo.

»Sollt' man's glauben?« fragte Toni leis melancholisch zurück. »Zwanzigtausend hab' ich 'kriegt für den Hof,« kalkulierte er dann. »Keine dreiviertel Jahr', daß der Alte jetz' tot is! – Freilich: die Schulden hab' ich zahlt, und die Möbeln hab' ich jetzt auch.«

»Aber doch nich bezahlt!«

Tonis Faust schloß sich über dem Gelde und knallte es auf die Marmorplatte.

»Das kann ich mir leicht noch verkneifen. Die ganzen Möbeln zahlen – dazu langt es eh nimmer. – Da kauf' ich mir doch gescheiter Farben.«

»Für über tausend Mark? – Reicht bei deinem Fleiß bis ans Lebensende! – Und hast du Farben schon einmal bar bezahlt?«

»Halt's Mäu, Fadian!« knurrte Toni. »Und paß bloß auf: von morgen an, da wird geschruppt, daß es nur a so raucht!«

»Das sagst du schon lange ...!« so hob Theos Mund zu einer Moralpredigt aus. Und er hielt dem Freunde seinen bei diesen Gaben wirklich sündhaften Mangel an Eifer mit so beweglicher Grobheit vor, daß Toni, wenn auch ohne viel Zuversicht, gelobte, noch heute, zu dieser Stunde, gleich nach dem Kaffee, solle ein – hol' mich der Teufel – neues Leben beginnen.

 

Als sein Freund ihn verlassen hatte, um sich »für den Kaffee zu interessieren«, saß der arme Sünder noch eine Weile gebrochen auf seinem Lager und sann stumpf dem verzweifelten Entschlusse nach, mit diesem Schädel nach so langer Pause wieder einen Pinsel in die Hand zu nehmen. – Daß er sich darum nicht drücken könnte, war ihm aber ganz klar. Theo würde aufpassen, da gab's keine Hoffnung.

Und unser starker Mann hatte eine Schwäche: er war von der Meinung andrer Leute innerlich abhängiger, als es sich mit seiner Lebensführung eigentlich vertrug. Sein kränkliches Gewissen nannte er das bei sich und hatte durch diesen ebenso erlesenen wie angelesenen Ausdruck die doppelte Genugtuung, sich tief problematisch und sehr gebildet vorzukommen. Gleich den meisten faulen Leuten, las er viel; und sein Streben nach Kultur und Feinheit, das er im Kreis der spottsüchtigen Genossen ängstlich zu verbergen genötigt war, führte ihn zu Büchern, die der Mode des Tages als die edelsten Blüten im Garten der Literatur galten. So hatte sich sein Geschmack gebildet, und er kannte sich auch auf diesem den meisten jungen Malern von damals fernliegenden Gebiet darüber aus, was Kunst war, und was ein anständiger Mensch als Schmarr'n zu bezeichnen hatte.

Heute nun äußerte sich seine Gewissenskränklichkeit in dem fehlenden Mut dazu, Theos Aufruf zur Arbeit kühl abzulehnen, und in der gräßlichen Vorstellung, mit welchen Ausdrücken wohl seine bäuerlichen Verwandten zu Füßen des Kofels in Oberammergau über ihn sprechen würden, wenn sie wüßten, wie wenig er von seinem Vatergut noch übrig hatte.

Es war eine Tränenwelt!

 

Unter solchen Gedanken verflog die Zeit. Toni war keineswegs weiter in seiner Toilette als zuvor, da hörte er die Flurtür gehen, was ihm sagte, daß Frau Gschwendtner, die Hausmeisterin und im Nebenberuf die Zugeherin der beiden Herren Kunstmaler, sich schon mit dem Kaffee nähere. Er stieg hastig in seine hochgeschnäbelten, silbergestickten Türkenschuhe und begab sich, im übrigen nur mit dem Oberhemd angetan, in sein Atelier.

Dies war ein Raum, der sich durch eine Möblierung mit Klubsesseln und andern Herrlichkeiten von den Ateliers andrer junger Leute unterschied und etwas angenehm Wohnliches hatte. Bloß das Handwerksgerät des Hausherrn, Staffeleien und was sonst dazu gehört – das alles sah, wie Theo Schlotthauer zu sagen pflegte, entschieden unbewohnt aus. Befremdend wirkte es ferner, daß übereck mitten in dem Gemach ein großer Biedermeierschrank stand. Der war nachträglich bei einem Tandler zu der Einrichtung hinzugekauft worden; und so hatten ihn damals die eiligen Dienstmänner hingesetzt, die ihn brachten. Toni war inzwischen noch nicht dazu gekommen, ihm einen Platz an der Wand anzuweisen.

Theo lehnte in dem Sofa und hatte sich, was Toni mit Mißfallen bemerkte, für Bleiben und Schaffen eingerichtet. Auf dem Tisch vor diesem Arbeitsfanatiker lag ein altersgeschwärztes Reißbrett, das mit einem schneeweißen Bogen Papier bespannt war; daneben zeigte sich außer ein paar Pinseln, einem Fläschchen Tusche und einer Tube Deckweiß ein unwahrscheinlich schmutziges, förmlich von Dreckreliefs überzogenes Glas, zur Hälfte mit einer dunkelgrauen Flüssigkeit gefüllt, die Wasser vorstellen sollte.

»Also!« sagte Theo mit nicht geringer Entrüstung. »Im Hemd is er noch!«

»Warum denn net? – Is ja doch Sommer!«

Es klopfte: die alte Gschwendtnerin trat ein.

»Je!« krächzte sie und machte eine Bewegung, als wolle sie sich das Tablett, das sie trug, vor die Augen halten.

»Schmeißen S' bloß den Kaffee hin!« schrie Toni erschrocken.

Sie schob abgewandten Blickes das Brett auf den Tisch und vollführte dabei mit Gesicht und Schultern eine so lebhafte Mimik, daß Theo sich erkundigte, ob sie Leib- oder Zahnweh hätte.

»Ja, spannst du's denn net: Die Gschwendtnerin markiert die G'schamige!« grinste Toni herzlos.

»Sie san schlimm!« kicherte die Alte und enthüllte in einem gespenstisch wirkenden schüchternen Lächeln die beiden untern Stockzähne – soweit man sah: das einzige, was sie in diesem Artikel zu zeigen hatte. Mit schiefem Kopf, die wasserblauen Äuglein, in denen ständig eine Träne schwamm, züchtig zu der roten Nase niedergeschlagen, stelzte sie schnell wieder zur Tür hinaus.

»Die hat's!« jauchzte Toni. »Jetz' tut die auf einmal, als wenn sie auch ein Weiberl wär'!«

Theo, der Kaffee eingoß, feixte voll Hohn.

»Schöner Toni, da derfste dir was einbilden ... Verschossen is se in dich!«

»Wer könnte da auch widerstehn?« renommierte der starke Mann und schmiß zwei Brocken Zucker in seine Tasse.

»Tja, ich kann mir den Grund schon denken,« spöttelte Theo, »Du hast ihr heilig mal eine Liebeserklärung gemacht, in der Besoffenheit!«

»Affe!« knurrte Toni überlegen. In der Beziehung war sein Gewissen rein; und wer die Gschwendtnerin ansah, mußte ihm das wohl glauben. Dennoch weckte dieser phantastische Gedanke eine schaudernde Nachdenklichkeit in ihm.

Er schüttelte sich. Dann griff er, ohne hinzusehen, nach seiner Tasse und wollte schon trinken, als ein sonderbares Gefühl in den Fingerspitzen seine Aufmerksamkeit darauf lenkte, daß er das schmierige Pinselglas an den Mund führte: sein Freund hatte die Gefäße heimtückisch vertauscht. Und nun waren Gedanke und Tat eins: bevor Theo Zeit hatte, sein vergnügt gespanntes Lauern durch einen andern Ausdruck ablösen zu lassen, fuhr ihm schon der schwärzliche Wasserstrahl mitten ins Gesicht. Schnaubend und prustend sprang er in die Höhe und machte Miene, seinen Gegner kurzerhand zu töten.

»Nur her, wanns d' a Schneid hast!« sprach ihm Toni mit gravitätischer Ruhe zu.

Darauf überlegte sich der Zürnende die Sache und wendete sich verächtlich ab.

»Das ist ein Schweinestall!« stellte er fest.

»Das is noch für vorhin!« war die Antwort.

»Jetzt kann ich mich umzieh'n gehn!«

»Dafür bist aber gleich g'waschen!«

Toni blieb allein und bekam es plötzlich mit dem Frühstücken sehr eilig.

 

Als nach wenigen Minuten Theo wieder erschien, da waren das einzig Eßbare auf dem Tablett gerade noch zwei trockne Semmeln. Die ganze Butter und der Kaffee bis zum letzten Tropfen hatten den Weg in Tonis Magen genommen.

»Nein,« sagte Theo, »das is gemein!«

Was zuviel war, war zuviel. Es half auch gar nichts, daß Toni aus einer Art von Reuegefühl, das ihn mitten in seiner Belustigung packte, die Sache auf seine Weise zu entschuldigen und ins Komische zu ziehen suchte – Theo fand so etwas eben nicht mehr komisch, er entdeckte nicht die Spur einer Pointe darin und blieb wehleidig und unerbittlich.

»Nein, das is gemein!« wiederholte er abschließend und begann zu zeichnen. Zwischendurch steckte er unter das Schicksal anklagenden Seufzern einen dürren Semmelbrocken nach dem andern in den Mund.

»Ich zieh' dann was an«, sagte Toni möglichst nebenhinaus, doch ein wenig zaghaft und ging auf die Schlafzimmertür zu.

»Das gibt's nich!« rief Theo hastig. »Geschruppt wird!«

»Aber im Hemmat!«

»Macht nischt! Es is ja Sommer.«

»Ich will doch bloß ...«

»Nein, nein, das kenn' ich! Dann is kein Fertigwerden bis Mittag. – Vor lauter Faulheit manikürst du dich, Ferkel!«

Seufzend fügte sich Toni. Er war ein starker Mann, hatte aber ein kränkliches Gewissen.

Recht lange suchte er dennoch herum, bevor er Platz nahm, das Reißbrett auf seine Knie stellte, ihm an der Platte des Zeichentisches eine Stütze gab, dann mit Aufsehen forderndem Elan den Pinsel in die Tusche tunkte und zunächst eine kühn gezackte Linie auf das Papier fetzte.

»Was willst du denn machen?« fragte der Nachbar.

»Erscht einmal schkizzieren. Ich hab' einen lebensgroßen Schinken in Öl vor: ›Wie der Teufel den Kunstmaler holt‹.«

»Immer die Selbstporträts!« stichelte Theo.

»Jawohl, du wirst dich noch wundern!« grinste Toni. »Bleib nur ruhig da hocken! Es is grade recht so.«

Theo gab keine Antwort. Er schnaufte bereits vor Fleiß und schnitt angestrengte Gesichter – drehte es sich ihm hier doch um etwas sehr Wichtiges.

Er war bei einem illustrierten Tagesblättchen ultramontaner Richtung fest angestellt und fungierte dort als »unser Spezialzeichner« in Konstantinopel oder Nicaragua oder je nachdem – es kam ganz darauf an, wo zuletzt eine Hinrichtung, ein Erdbeben, ein Massenmord, kurz gesagt, eine Tagesneuigkeit stattgefunden hatte, bei der man sich gratulieren durfte, fern vom Schuß gewesen zu sein. Alle diese Dinge wußte Theo mit einem Ahnungsvermögen darzustellen, als ob er sie mit eignen Augen gesehen hätte, und genau so, wie sie sich in der Phantasie eines Abonnenten malten, so daß diese guten Leute nie etwas andres kriegten, als was sie erwartet hatten. Und dies ist ja schließlich das Geheimnis jedes künstlerischen Erfolges, der seinen Mann nähren soll.

Trotzdem er sich nun in diesem Amt werktäglich zwanzig Mark verdiente und deshalb bei seinen gleichaltrigen Kollegen für äußerst wohlsituiert galt, schweiften Theos Ehrgeiz wie seine Geldgier viel, viel weiter. – So schuf er denn auch heute an einem Kunstwerk erhabneren Charakters, das er endlich einmal als Titelblatt bei der »Jugend« anzubringen hoffte.

Wen kann es überraschen, daß er deshalb aus der Tiefe seines Gemütes ein schlankes weibliches Akterl schuf, das über eine lenzliche Wiese hüpfte und mit einem Blütenzweig drei bebrillte und beperückte Ratsherren aus der Zopfzeit in die Flucht schlug?

Theo arbeitete wütend, umschichtig mit Tusche und mit Deckweiß, und sah sich schon aus der niedrigen Fron seines jetzigen Amtes befreit.

Aber trotz aller Entrücktheit mußte es ihm endlich auffallen, welche geradezu schreiende Totenstille drüben bei seinem Nachbarn herrschte. Er hob den Kopf und schaute prüfend hinüber.

Toni saß friedevoll an seinem Platz und markierte einen seltenen Fleiß. Auffällig erschien es nur, daß die rechte Hand mit dem Pinsel gar so regelmäßig an einer Kante des Papiers auf und nieder fuhr, während seine Augen doch wohl eigentlich ganz woanders waren und waagrecht hin und her gingen.

Theo erhob sich lautlos, schlich hinüber und spähte auf das Reißbrett des andern. Ein Blick, ein Griff – hoch in der Luft schwang er das Reclambüchel, in das Toni vertieft gewesen war.

»›Niels Lyhne‹ liest er!« stellte er mit unsäglicher Verachtung fest und fügte hinzu: »Du Ästhet, du verreckter!«, aus welchem schmückenden Beiwort man ersehen kann, daß dieser Norddeutsche in München schon halbwegs zu den intimeren Feinheiten altbayerischer Mundart vorgedrungen war.


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