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Dreizehntes Kapitel. Die Ostsee und der Herr Professor

Toni erwachte aus einem tiefen, guten Schlaf, der ihn nach Pasings Fluren entführt hatte, und sah sich verwirrt in dem engen Gelaß um, das ihn beherbergte. Violettblaues Licht ohne Helligkeit nebelte aus der halbkugligen Glasglocke an der Decke und zeigte gerade noch die mißfarbenen Ornamente, die dort ihre nüchtern wilden Ranken spazierenlaufen ließen.

Jawohl, natürlich, die blöde Reise! In der Eisenbahn war man. Wo sonst in der Welt wird einem heute noch zugemutet, derartiges Jugendstilgemüse, solchen zur Schablone erfrornen Irrsinn für luxuriös zu halten, als in den Menschenbehältern der Internationalen Schlafwagengesellschaft! Bleibe im Lande und nähre dich redlich, es ist, Gott soll es wissen, gescheiter!

Verdrossen wälzte sich der starke Mann auf die rechte Schulter herüber und warf einen Blick in den schmalen Abgrund neben seinem Lager. Er unterschied drunten bei der ungewissen Dämmerung zwei Paar Schnürstiefel, ein großes und ein kleineres, die, müd' gelangweilt und mehr aus Pflichtgefühl, miteinander zu kokettieren schienen. Ihnen zur Seite gähnte mächtig der Schlund einer nagelneuen, hellbraun rindsledernen Handtasche, aus der die Metalldeckel gleich einer Reihe gefährlicher Zähne hervorblicken. Und, horch einmal: machte es nicht den Eindruck, als ob das Ungeheuer, zu dem dies große Maul gehöre, bösartig und voll Ingrimm schnarche?

Die rauhen Laute entquollen natürlich keineswegs dem zahlungsfähig dreinschauenden Reisegerät, sondern hatten ihren durchaus nicht geheimnisvollen Ursprung hinter dem zugezognen Vorhang der unteren Bettstatt; und bösartig verdiente weiter nichts genannt zu werden als Tonis ebenso hämische wie abgeschmackte Auslegung der ihm doch genügend vertrauten, friedlich gemütlichen Nachtmusik des deutschen Familienlebens.

Kurzum aber: er war entschlossen, sich daran zu ärgern. Wie hieß das gleich, was ihm der geistvolle Theo prophezeit hatte, dieser Optimist aus Verzweiflung, dem halt die Freiersfüße völlig bis ins Hirn hinaufgewachsen waren? Neue Flitterwochen? Freilich, es hörte sich beiläufig so an! Fünf Tage schon unterwegs! Wenn Trautchen ihre Verwandlung zu einem andern Menschen immer noch ernstlich im Sinn trug, dann wurde es langsam Zeit. Viel hatte er wenigstens noch nicht davon bemerkt.

Und überhaupt dies Herumkarren in Europa!

Seit der Abfahrt vom Münchener Hauptbahnhof war Toni wie ein wandelnder Protest gegen das ganze ausgefallene Unternehmen anzuschauen gewesen, ein Bild jener frostigen Mißbilligung, die der von Natur seßhafte Mensch gegen alles Ungewohnte ausstrahlt. Na ja, und was hätte ihn auch zu einer Korrektur seiner vorgefaßten Meinung bewegen sollen? Berlin etwa? O mei, Berlin! Wenn einer aus Pasing kommt und sich als Münchener fühlt!

Immerhin lag dieses große Dorf noch in Deutschland, wenn auch in einem verkehrten Zipfel davon. Jetzt aber – wahnsinnige Idee! – ging's nach Schweden, in ein Land, wo die Leute die Naivität besaßen, ohne jede Rücksicht einfach schwedisch zu reden und einen mithin völlig den Dolmetschkünsten eines unzurechnungsfähigen Lyrikers und seiner nicht wesentlich vernunftbegabteren Gattin auszuliefern. Trautchen hatte zwar in den letzten Wochen, was man so sagt, ein Verhältnis mit dem kleinen Meyer, dem Taschenwörterbuch, angefangen. Aber Toni malte sich schon voll schmunzelnder Schadenfreude aus, wie sein kluges Weib bei dem ersten Versuch, diese Sprachkenntnisse an den Mann zu bringen, für eine Chinesin würde gehalten werden. Ihr geschähe es bloß recht! Ja, aber er hätte die Unbequemlichkeiten davon! Ach was: ihm geschah's ebenso recht! Wer plagte ihn denn, sich breitschlagen zu lassen? Was hatte er da droben verloren?

Die famosen Granitfelsen am Ende? Daß ich net lach'! Aus den kümmerlichen Dingern würde man daheim in Oberbayern höchstens Schotter für die Landstraße klopfen. Und das Meer? Der starke Mann kannte es nicht, war aber entschlossen, es als aufgelegten Schwindel zu betrachten, den höchstens profitgierige Fremdenverkehrsvereine neben oder gar über das Gebirge zu stellen die Stirn haben könnten. Einfaches Wasser halt, mit ein bissel Salz drin! Wasser in fader Massenhaftigkeit!

Doch es sollte sich bald zeigen, daß hier jemand bärbeißiger tat, als ihm im tiefsten ums Herz war. Denn jetzt horchte Toni plötzlich auf; ein gespanntes Überlegen trat in sein Gesicht. Sacht schlurfend ging ein gleichmäßiges Zittern und Schüttern durch sein Lager und durch alles ringsum: ein andrer Ton und ein andrer Rhythmus als das Gewackel und Gestoße, das ihn heute nacht zum Schlummern betäubt hatte. Herrschaft, wieviel Uhr war es denn schon? Hastig ließ Toni den elektrischen Schalter knipsen; Helles, warmes Licht brach aus der Glasglocke und wischte schnell den bläulichen Dunst bis in den letzten Winkel fort.

Sechs Uhr durch? Ja, aber dann! Man schwamm! Schwamm schon seit gut zwei Stunden! Tolle Geschichte: es steigt jemand am Abend in die gewöhnliche Eisenbahn, legt sich in die Klappe, und wenn er wach wird, dann schwimmt er, schwimmt mit dem ganzen Zug aus so einem verschmitzten Möbel, so einer Fähre, von deren eigentlicher Einrichtung sich ein vernünftiger Mensch überhaupt keinen halbwegs klaren Begriff machen kann.

Was Toni diese fünf Tage her immer vermißt hatte, wenn er sich grämlich zweifelnd gleichsam den innerlichen Puls abtastete, nun war es mit eins da: das lebhaftere Klopfen des Blutes, die verschmitzte Schulbubenlust am Entlaufen aus dem eingefahrnen Gleise der Pflicht, die Reisefreudigkeit, der nicht einmal das unbequeme Vorgefühl von Zollrevision, Umsteigen, Gepäckaufgabe im fremden Land etwas anhaben kann.

Er schaute wieder über den Rand seines Lagers hinunter und konnte schmunzelnd feststellen: auch die Schnürstiefel hatten einen ganz andern Ausdruck bekommen. Verwogne Glanzlichter flinkerten über sie hin, und ihr legitimes Liebäugeln gewann jetzt wirklich etwas geradezu unpassend Inniges.

»Du, Trautchen!« rief Toni mit frischer Stimme.

»Ja?« klang es erschrocken und verschlafen zurück. Es wurde lebendig da unten.

Nach einem hastigen Geguschel schepperten denn auch die Vorhangringe, und ein schlafrosiges Gesicht unter lässig zum Kranz gelegter Haarfülle lugte zu ihm herauf.

Da er strahlte, strahlten sogleich auch ihre Augen, trotzdem sie doch unsanft aus dem schönsten Schlaf geschreckt worden war; sie fragte warm und gemütlich:

»Nu, was hast du denn, Vati?«

Nicht einmal die von ihm sonst wenig geschätzte Anrede: Vati wurmte ihn heute, jovial und lärmend deklamierte er:

»Auf, auf, sprach der Fuchs zum Hasen; hörst du nicht den Jäger blasen?« Etwas zu lärmend vielleicht rief er das. Denn nun ballerte von draußen an die verschlossene Tür zum Nachbarabteil ein Gegenstand, den man für einen doppelt gesohlten Männerstiefel taxieren mußte. Gleichzeitig erhob sich drüben ein ärgerliches Schmälen in einer unverständlichen Sprache, ein abfälliges Urteil ohne Zweifel über deutsche Sitten. Wiederholte sich doch das Wort » tyskarna« mehrmals darin. Toni lachte wie ein Straßenjunge.

»Horch, der schimpft uns!« sagte er mit gedämpfterer Stimme. »Auf schwedisch!« hob er beinah geschmeichelt hervor.

»Du bist ja so vergnügt?« stellte Trautchen befriedigt fest.

»Je, woran merkst denn das?« erwiderte er und fuhr fort: »Nun aber keine Müdigkeit vorschützen! Raus aus den Posen! Mir schwimmen nämlich schon lang'! Die Ostsee möcht' auch einmal eine Professorin in ihrer hundsnobeln neuen Reisekluft bewundern!«

»Natürlich!« so stimmte sie ihm herzlich zu, schlug dann jedoch vor: »Vielleicht machst du dich erst fertig! Zweie können sich hier ja nicht umdreh'n. Du brennst ja doch drauf. Und ich komm' dann gleich nach.«

Na, das sah er ein. Er turnte unverweilt aus seinem Obergeschoß abwärts und hatte es sehr eilig, einen sauber gewaschenen und gestriegelten, gut angezogenen Mann aus sich zu machen. » Allons enfants de la patri ... i ... e ...«, stimmte er dazu an. Die Fortsetzung aber summte er nur; denn viel weiter erstreckte sich weder seine Kenntnis der französischen Sprache im allgemeinen noch die des Textes der Revolutionshymne im besonderen. Trautchen dehnte sich derweil behaglich in ihrer Klause, folgte jeder seiner Bewegungen mit beifälligen Augen und genoß ihren aufgekratzten Gebieter. Ja, diese Reise! – Hatte sie's nicht gewußt!

»Aber brauch' net so lang', Schnucksi!« sagte Toni, trat aus den Gang hinaus und machte von draußen wieder zu. Dann beeilte er sich, ins Freie zu kommen, fand aber im Vorübergehen noch Zeit, der Nachbartür, hinter der er den cholerischen Schweden wußte, einen Renner mit der Schulter zu versetzen, daß es nur so krachte. Und nun sprang er mit gleichen Füßen auf richtige Schiffsplanken, wie er feststellte, obschon es in Wirklichkeit eher Eisenplatten waren. Seine schwarzen Augen liefen hurtig in die Runde; die stärkeren Eindrücke freilich nahm er zunächst durch die Nase auf: witternd sog er jene sonderbare Luft ein, die an einer Mischung von Salz, Jod, Kesseldampf und Schmieröl geschwängert zu sein scheint und in der auch der Neuling sofort den wahren, ihr allein eignen Geruch der Seereise erkennt.

Schön konnte man es hier übrigens auch bei bescheidnen Ansprüchen nicht finden; der Fernblick wenigstens durfte mehr als beengt heißen. Aber gleich da vorn führte über ein eisernes Treppchen ein Weg in die Höhe, und der starke Mann schlug ihn erwartungsvoll ein. Kaum auf das Promenadendeck gelangt, stand er auch schon vorgebeugt an der Reling, ohne daß es ihm so recht bewußt wurde, wie er dahingekommen war. Und so sahen sie sich denn zum erstenmal von Angesicht zu Angesicht, das Meer und der Professor Gwinner aus Pasing. Wer von den beiden dabei den stärkeren Eindruck hatte, ist ein Geheimnis geblieben. Das große Wasser sagte überhaupt nichts, und auch Toni gab, mit einem herablassenden Nicken, bloß die Worte von sich:

»Hm ja, wahrhaftig, net übel!«

Aber trotzdem er auf die Art äußerlich die vornehmste Fassung wahrte, verschlug's ihm den Atem; etwas wie ein Schwindel packte ihn, leer von Gedanken wurde sein Kopf; nur die Augen schöpften das Erlebnis in sich herein. Und er durfte wohl Augen machen. Denn die Ostsee hatte für diesen feierlichen Moment eins ihrer allerbesten Gewänder angezogen: das sonnenfunkenbestickte seidene, dessen Grün der Nähe so fein in das Stahlblau des Horizonts hinüberklingt und dessen unaufdringliches Wellenmuster hier und da durch die weiße Ellipse eines kleinen Schaumkopfes gerade am rechten Platz sinnvoll verdeutlicht wird. Frauenzimmer sind Frauenzimmer. Sag' mir einer, für wen sich das putzt, wenn nicht für fremde Männer. Und schon erwachte in Toni der Mann, dem so etwas schmeichelt und all sein Herrengefühl zurückgibt. Schon hielt seine Hand einen unsichtbaren Pinsel und setzte Farbenflecke, Striche und Tupfer in die Luft, die gleichfalls unsichtbar waren, für jedermann, bloß für ihn selber nicht.

»Ich zwing' dich!« knurrte er die geheimnisvoll lächelnde Schöne an und kniff die Lider unter drohend gerunzelten Brauen zu scharf forschenden Strichen zusammen. Doch gleich darauf erhellte sich seine Stirn. »Ich zwing' dich!« sagte er noch einmal, jetzt mit der heiteren Ruhe des Siegers. Er ließ einen Besitzerblick um den Himmelskreis laufen, wie einer auf Zeit Abschied nimmt von etwas, was ihm nicht streitig gemacht werden kann; einen tiefen Seufzer noch schlürfte er in sich herein und trat nun eine Erkundungsreise an aus dem Weiten ins Nähere; rund um das Deck führte ihn der lässige Bummelschritt.

Zunächst fesselten ihn die Leute droben auf der Brücke: der eine, der kurze Pfeife rauchte und von Zeit zu Zeit mit dem Fernstecher Ausschau hielt, und der andre, den unser Pasinger mit dem Titel: der Steuermann am Rad ehrte, wobei er sich auf seine Kenntnis der seemännischen Fachsprache auch noch etwas einbildete. Dann kam das Äußere des Kastens an die Reihe, auf dem man schwamm: Masten, Schornsteine, Boote. Toni nickte billigend: alles gut und sachlich und frei von Kunstgewerbe. Besonders dekorativ fand er die Ventilatoren, die er übrigens so lange für Nebelhörner ansah, bis eine Beobachtung, die er machen durfte, ihn darüber belehrte, daß es sich hier vielmehr um Aufzüge zur Beförderung von Schlacke und Asche handle. Wesentlich weniger konnten ihm die inneren Gemächer des Schiffes imponieren, als er sie, die in dieser Morgenfrühe verlassen dalagen, durch die offnen Fenster einer Musterung unterzog. Kaltblütig in die Klasse der: berittenen Schuster zu Fuß reihte er den Raumkünstler ein, der diesen Damen- und diesen Rauchsalon verbrochen hatte.

Vor dem Speisesaal aber verstummte alle Stilkritik, nicht etwa, weil dessen Einrichtung schöner gewesen wäre, sondern weil Toni gänzlich über sie hinwegsah, so völlig wurden seine Sinne von dem gefesselt, was da auf einer ansehnlichen Tafel aufgebaut war. Man mußte an ein kaltes Abendessen für eine große Gesellschaft denken, das gestern aus irgendeinem rätselhaften Grunde unberührt stehengeblieben sei. Nicht, daß Toni sich nicht auskannte! Er wußte sogar, wie das hieß. Philipp Ladurner hatte ihm ja genug von dem berühmten nordischen: Smörgaasbord, oder so ähnlich, vorgeschwärmt; und was man hier sah, strafte den Dichter gewiß nicht Lügen. Aber um halb sieben Uhr morgens! Wenn einem auch der Anblick aller der Herrlichkeiten das Wasser im Munde zusammenlaufen machte, die deutsche Sehnsucht schrie dabei nach Kaffee mit Buttersemmeln. Doch hineinzugehen und das zu verlangen, getraute sich der starke Mann nicht recht. Der bis jetzt einzige Kellner, der da drinnen herumstand und sich mit häufigem und heftigem Gähnen unterhielt, sah ganz verdächtig schwedisch aus. Der konnte sicher kein Wort deutsch, und dann war man eben blamiert. Sich Herr über die Ostsee fühlen, ist in der Tat wesentlich leichter, als einem fremdländischen dienstbaren Geist einen Auftrag geben.

Wenn bloß Trautchen mit ihrem Freunde, dem kleinen Meyer, käme! Was die auch so lang' zu tun hatte?

Schon näherte Toni sich wieder der Treppe, um drunten seine Gemahlin energisch auf den Trab zu bringen, da stockte sein Schritt: dicht vor ihm enttauchte der Tiefe ein Mensch oder zunächst vielmehr bloß ein Kopf mit gepolsterten rosigen Backen und kräftigem Doppelkinn, gekrönt von einer gegen all diese Fülle zu eng wirkenden seidnen Reisemütze, die jene glatte Barettform zeigte, deren Schlichtheit etwas so niederschmetternd Zweckmäßiges hat. Darunter schauten zwei vorstehende, wasserblaue Augen unfreundlich warnend in die Welt: Trete mir ja keiner auf die Zehen! An diesem furchterregenden Kopfe hing, wie sich bald erwies, ohne Vermittlung eines erwähnenswerten Halses eine mehr der Breite als der Länge nach imposante Gestalt, um die ein Schoßrockanzug von unbeschreiblicher Farbe schlotterte, eigentlich überhaupt keiner Farbe; hellgrau wäre ein übertrieben schmeichelhafter Ausdruck dafür gewesen.

Toni atmete auf: kein Adonis fürwahr, dieser Herr, aber – wer hätte da einen Moment gezweifelt? – ein Deutscher, vielleicht sogar ein engerer Landsmann, wenn nicht ein Mitbürger von Trautchen! Buckskin konnte gut und gern seine Branche sein.

Und war es nicht trostreich und erhebend anzusehen, wie unbekümmert er daherkam, ein blonder Herrenmensch, einer unserer Sieger im friedlichen Völkerkampf; was gilt die Wette: ein Geschäftsreisender? Nicht ein Kommis: ein Mann von höheren Graden! Leuchtete sie nicht daumendick, die massiv goldne Panzerkette, die den kühnen Bauch in ganzer Ausdehnung überquerte?

»Ein Kommerzienrat!« hauchte Toni erschüttert. Wie wohlhabend und reisegewohnt schritt das an ihm vorbei und ohne jedes bängliche Zaudern aus den Eingang des Speisesaals zu! Den schickte der Himmel! Harmlos durch die Zähne pfeifend, näherte sich der starke Mann einem der offnen Fenster. Scheinbar träumten seine Augen nach dem Horizont hinaus, verstohlen aber schielten sie zwischendurch nach seinem unbewußten Lehrmeister. Wenn der da: Kellner! riefe, dann wäre die Sache sehr einfach.

»Steward!« schrie der dicke Herr befehlshaberisch.

So ein Reinfall! Jetzt sprach dieser Stiefel englisch. Aber nein! Er schien sich doch darauf zu besinnen, was da draußen von ihm erwartet wurde, und fügte hinzu:

»Kaffee! Bißchen fix! Ja?«

»Ssofort!« erwiderte der Befrackte ganz klein und schoß von dannen.

Toni war begeistert: erstens kam man hier mit Deutsch durch, und dann kannte dieser Mann die Welt! »Bißchen fix! Ja?« Großartig! Aha, richtig: schon begann der Kommerzienrat mit Umsicht Breschen zu legen in das Stilleben, langsam wandelte er um den Tisch, und auf seinem Teller türmten sich die guten Dinge zum Haufen. Aber war das denn möglich? Dazu hätte doch von Rechts wegen eher eine Maß Bier gehört. Doch als kein Zweifel mehr darüber herrschen konnte, daß ein Würdenträger von solchem Gewicht zum Kaffee, als ob das nichts wäre, kalt lächelnd Ölsardinen fraß, entschloß sich sein aufmerksamer Schüler, keck seinem Beispiel zu folgen. Ländlich – schändlich! Und siehe, die ungewohnte Zusammenstellung zeigte sich reizvoller, als Toni je vermutet hätte. So tat auch er den Delikatessen alle Ehre an und suchte darin mit seinem Vorbild zu wetteifern, mußte aber schließlich erkennen, daß dieses in der Hinsicht wie in jeder andern unerreichbar blieb.

Als Trautchen nach langem Suchen endlich ihren Gemahl entdeckt hatte und an seinen Tisch trat, war er durch reiche persönliche Erfahrung in die Lage versetzt, ihr einen lehrhaften und erschöpfenden Vortrag über die Eigentümlichkeiten und Annehmlichkeiten so eines skandinavischen ersten Frühstücks zu halten. Bloß ließ er ihr keine Zeit, dieses Mahl mit der gleichen beschaulichen Breitspurigkeit zu sich zu nehmen, wie er es getan hatte. Er für sein Teil war nämlich satt, und ihn plagte die Ungeduld, ihr nun auch die Honneurs des großen Salzwassers zu machen. Da es aber Trautchens Grundsätzen zuwiderlief, dem Wirt etwas zu schenken, mußte sie nun schneller essen, als es der Gesundheit zuträglich ist. Und vielleicht war es das, was sich ihr auf die Stimmung schlug.

Jedenfalls bemerkte Toni, als sie nachher selbander an der Reling standen, daß sie seinen Erläuterungen zur Ostsee nicht mit der gebührenden Verzückung folgte, vielmehr deutliche Merkmale von Zerstreutheit kundgab und schließlich in Sehnsuchtsklagen nach dem Michele ausbrach. Er zuckte ärgerlich die Achseln.

»Ja, ich war's net, der ihn absolut hat zu Haus lassen wollen!« gab er ihr mürrisch zur Antwort.

»Gott, ich hab' eben geglaubt ...«, sagte sie bekümmert. »Ich wollte mal alle Sorgen los sein und ... Aber sieh, es ist doch das erstemal, daß er ohne uns ist. Und ob das auch gut geht mit Minchen?«

»No«, knurrte er, »zu wenig paßt die ganz gewiß net auf ihn auf!«

»Ja, ja«, wendete sie ein, »das bezweifle ich gar nicht. Alle Mühe gibt sie sich schon. Aber mit Kindern, und besonders mit so einem Jungen, da fehlt ihr doch jede Erfahrung.«

»Auf einmal?!« höhnte er. »Und ich hab' gedacht, er wird uns nachher als ein richtiger Musterknabe wieder abgeliefert, mit Manieren wie ein Lord aus Crimmitschau? – Reg dich 'net auf: mir treffen ihn genau noch als den alten! Und wenn's ihm auch fad genug sein wird, eins beruhigt mich außerordentlich: eine ungetrübte Freude versprech' ich mir für sie erst recht net von der G'schicht.«

»Ach Gott, wenn's nur das wäre!« erwiderte sie. »Soll er meinetwegen so ungezogen zu ihr sein, wie er will!«

Er lächelte und sprach ihr ironisch Trost zu:

»No, das wird er schon pünktlich besorgen, – hab' keine Angst!«

»Nein, Toni, ich weiß nicht, beim Abschied ... Hast du nicht gefunden: er war so ganz anders wie sonst?«

»Himmel, Herrgott, wie soll er denn gewesen sein? Entzückt war er net; nehm' ich ihm auch gar net übel.«

»Nein aber, Toni, ich kenn' ihn doch besser als du.«

»So? Wirklich? Woher denn?«

»Ich weiß nicht: sein Gesicht auf dem Bahnhof! So still unglücklich!«

»Still?« spöttelte Tom, »Ja, weil er sich bei dir halt nix zu sagen traut! Wenn das net wär', dann hätt'st du jemand aber anders können schimpfen hören!«

»Ach, das verstehst du nicht!« sagte sie ernst und unbelehrbar. »Und wie er da neben Minchen stand und unserm Zug nachsah, ich kann die Augen nicht vergessen, die er da machte! Und ich hab' so ein Gefühl ...«

Er wendete ihr kurz den Rücken und drückte sich. – Ein ganzes Stück von ihr entfernt, blieb er stehen und starrte uninteressiert in die Weite. Die Laune war ihm gründlich verdorben. Auch vor ihm tauchte jetzt Micheles herzlich betrübtes Abschiedsgesicht auf, und so etwas wie Sehnsucht regte sich in ihm. Wie hätte der Bub hier geschaut: das Meer und gar erst das Schiff! Das wär' erst die rechte Freude gewesen, dem frischen Kerl das alles zu zeigen. Und das schwedische Frühstück! So ein Futter » à discrétion«! Aber was nicht ist, das ist einmal nicht und läßt sich nicht ändern. Trautchen war selber schuld, daß der Bengel nicht mit war, und jetzt natürlich machte sie es so! Ahnungen hatte sie! Wenn ihnen sonst nix fehlt, kriegen sie's mit den Ahnungen! Weibervolk, hysterisches! Das fühlt sich ja aber nicht glücklich, wenn es sich nicht unglücklich fühlt! Was so einem festen Burschen wie dem Michele wohl geschehn sollte? Aber mach' einer das ihr einmal klar!

Äußerst mißgestimmt sah Toni die flache Küste Schonens aus dem Meer steigen. Er pfiff schon ergebenst auf diese Reise! Das ganze Nordeuropa mit seinen barbarischen Fremdsprachen und seiner blöden Fischkost zum ersten Frühstück konnte ihm gestohlen bleiben! Pfüet di Gott, er wünschte, er wäre in Pasing!

 

Auch die zwölfstündige Eisenbahnfahrt von Trelleborg nach Strömstad machte die Welt- und Lebensauffassung des starken Mannes nicht rosiger. Nichts war ihm recht: der in der Frühe von ihm so freigebig zum Kommerzienrat ernannte Herr, der bis Malmö im gleichen Wagen mit ihnen blieb, erregte seinen Abscheu, weil er so deutsch war; die anderen Reisegenossen wiederum mißbilligte Toni als zu schwedisch. Schnell hatte er das harte Urteil fertig, ein Volk von so ruppiger Unhöflichkeit gebe es auf Erden nicht zum zweitenmal; einfach weil sich diese Leute nicht im geringsten um ihn kümmerten. Hätten sie dies aber getan, so würde er ihnen das noch viel übler vermerkt haben.

Jedenfalls empfand er es in Göteborg, wo man umsteigen mußte und wo die Gepäckrevision stattfand, als eine haarsträubende Frechheit von dem Zollbeamten, daß er, als verstünde sich so etwas von selbst, eine Frage auf schwedisch an ihn richtete. Toni machte entgeisterte Augen und sah Trautchen an; Trautchen, die inzwischen mit unterstrichener Bereitwilligkeit die Koffer aufgesperrt hatte, machte gleichfalls entgeisterte Augen und begann in ihrer Handtasche zu wühlen. Dazu stammelte sie etwas, woraus sich endlich die nicht übertrieben skandinavisch klingenden Worte lösten:

»Ach, sprechen Sie nicht deutsch?«

» Nej«, erwiderte der Zöllner mit der kaltblütigsten Naivität.

»So is recht!« bemerkte der starke Mann.

»Ja, ja, wart' doch!« zischelte sie hastig und suchte auf Mord und Tod in ihrem gedruckten Gedächtnis. Aha, da war es schon, was sie wollte! Sie machte eine gleichsam segnende Gebärde über ihre zahlreichen Gepäckstücke hin und verkündete mehrmals: » brukade saker, brukade saker!«

Und – hatte sie's nicht gewußt! – der blonde Beamte verstand sie; nur bei einer großen, neuen, wie für die Ewigkeit vernagelten Holzkiste plagten ihn offenbar Zweifel, ob sich auch in ihr gebrauchte Sachen befänden. Er deutete mit wißbegierigem Zeigefinger darauf und fragte schon wieder etwas auf schwedisch.

Trautchen bekam einen Heidenschreck. Da drinnen war ihres Mannes ganzes Malgerät. Wenn man das Ding jetzt aufbrechen lassen müßte, wer nagelte es einem bloß wieder zu? Der kleine Meyer rauschte förmlich unter fanatisch blätternden Fingern. Doch, halt: eine Idee, die denn auch sofort zur Tat wurde! Die kluge Frau rettete sich in die Pantomime: ihr linker Daumen bohrte sich entschlossen durch das Loch einer imaginären Palette, die Rechte packte einen gleichfalls gedachten Pinsel, tunkte ihn ausgiebig in nicht vorhandene Farbe und schmiß mit ihm kühne Striche in die Luft. Der unglückliche Schwede brachte erschrocken seine Nase in Sicherheit, seine blaßgrauen Augen wurden rund und verstört.

»Nein«, grinste Toni vor sich hin, »für eine Chinesin hält er sie vielleicht net, aber für tobsüchtig bestimmt.«

Jedenfalls schien es der Zöllner für ein bedenkliches Unterfangen anzusehen, die fremde Dame länger zu reizen. Eine halb resignierte, halb begütigende Handbewegung räumte ihr ein, daß sie vermutlich durchaus recht hätte; beflissen pappte er auf jedes Stück, und auf die verdächtige Kiste zu allererst, das kleine Wapperl, das den Passierschein bedeutete, legte respektvoll die Hand an die Mütze und wendete sich ab. Trautchen beschoß, während sie die Koffer zusperrte, Toni mit sieghaften Seitenblicken. Was? Ob sie die Sprache kannte!

Schwieriger wurde die Lage wieder, als sie nun dem Träger klarmachen wollte, was weiter zu geschehen hätte. Da bewies Toni, daß er die mimischen Künste seines Weibes nicht erlebt hatte, ohne eine Nutzanwendung daraus zu ziehen.

»Strömstad!« befahl er und zeigte mit einer großen Armbewegung zur Tür hinaus in die Weite.

»Station till Strömstad!« fiel Trautchen hastig ein.

» Järnvägstationen!« trumpfte Toni auf. Da hatte sie's nun! Denn was verfolgte sie wohl für einen Zweck mit ihrem überflüssigen Korrigieren? Als ob der Kuli, der ausländische, ihn nicht schon aufs erste Wort verstanden hätte!

Jawohl, der starke Mann mußte wirklich sagen: er stellte sich lange nicht so tappig zum Reisen an, wie er daheim immer prophezeit hatte. Gott sei Dank! Wer holte immer, wenn's Aufenthalt gab, Speise und Trank vom Büfett? Er: Toni!

Das erstemal freilich mußte ihm Trautchen, obgleich er sich seit einer Stunde bitter grollend über Hunger und Durst beschwert hatte, sehr lange und dringlich zureden, bevor er sich widerwillig auf den Weg machte. Dann aber gewann er schnell eine raffiniert überlegne Fouragierungstechnik, die nur den einen Mißstand im Gefolge hatte, daß einem das Portemonnaie so lästig dick wurde vor lauter Kleingeld. Und dies geschah, weil Toni von dem, was da bereitstand, das ihn wünschenswert Dünkende unter eisernem Schweigen an sich raffte und dem Fräulein an der Kasse nachher ebenso stumm jedesmal einen Zwanzigkronenschein überreichte. Das Wechselgeld schob Toni voll edeln Vertrauens ungezählt ein.

All der innerliche Ärger schien so an den Kräften des starken Mannes zu nagen, daß er, um sich überhaupt am Leben zu erhalten, einen bewundernswürdigen Appetit entwickeln mußte und eigentlich ununterbrochen vom Morgen bis zum Abend aß, obgleich er fast ebenso ununterbrochen erklärte, wie sehr ihm schon grauste vor den langweiligen Butterbroten. Noch schärfere Ausdrücke der Empörung widmete er dem Getränk, das er immer wieder einhandelte, weil ihn von den Flaschenetiketten in irgendeiner rätselhaften Zusammenstellung das Wort Pilsner grüßte, das für ihn hier im wilden Norden etwas ungemein Heimatliches ausstrahlte.

»Und das heißen die hier ein Bier!« stöhnte Toni und ließ die ungemein naß wirkende Flüssigkeit mit Todesverachtung durch seinen lechzenden Schlund strudeln. Er ahnte nichts davon, daß er etwas trank, was ein Pilsner nur für das Auge darstellen wollte und in Wahrheit eine Art von alkoholfreier Limonade war. So wirkte auch der reichliche Genuß dieser optischen Täuschung eher niederschlagend als stimmungfördernd.

Und was hätte Toni sonst aufmuntern sollen? Die Landschaft etwa, um derentwillen man doch eigentlich diese Mordsreise unternommen hatte? O Jessas nein, das bissel Landschaft! Solange sie durch das flache Schonen fuhren, äußerte er mehr als einmal verächtlich:

»Weiß wahrhaftig net: auch net anders wie in Berlin!«

Trautchen hütete sich, ihm zu widersprechen, blickte dann aber doch mit leiser Verwunderung zum Fenster hinaus. So viel war ja richtig: Wälder, Wiesen und Felder und blühende Obstbäume gab es in Deutschland auch; was ihn jedoch vor dieser ländlichen Umgebung gerade an Berlin erinnere, blieb ihr einigermaßen rätselhaft. Er aber meinte die Hitze damit, die vom wolkenlosen Himmel herniederknallte. Ja, diese Hitze entlockte ihm manchen Seufzer und manches unwillige Wort. Wie hätte er erst geschimpft, wenn das Wetter kalt und unfreundlich gewesen wäre!

Später, in Bohuslän, kam es auf ein Haar so weit, daß die vorbeifliegende Gegend Toni fesselte. Je weiter die Reise führte, desto nackter drängten sich die mageren Granitrippen des Landes durch seine grünende Haut. Streckenweise verlief sich der Zug in ein pittoreskes, höchst eigenartiges Felsgewirr. Doch der starke Mann verschloß mit Gewalt seine Augen dagegen; er hatte sich nun einmal vorgenommen, Schweden zu mißbilligen.

Um sich darin zu stärken, redete er sich schließlich in eine etwas komische Wut gegen seinen lyrischen Freund und dessen Gattin hinein. Die Abrede war, daß Ladurners sie in Strömstad am Bahnhof erwarten sollten; und je mehr sie sich diesem Städtchen näherten, desto genauer wußte Toni, daß die unzuverlässigen Leute ganz bestimmt nicht Wort gehalten hätten. Recht geschähe es einem übrigens, und das käme davon, wenn man sich am Ende der Welt Rendezvous mit Irrsinnigen gäbe.

Trautchen schaute gottergeben vor sich hin, verhielt sich zu ihrem Gatten wie zu einer entfesselten Elementargewalt und setzte ihre Hoffnung für die Lösung aller dieser Konflikte vertrauensvoll auf die Zeit. Immerhin war es ihr eine Erleichterung, als sich endlich, gegen die achte Abendstunde, die Bremsklötze für heute zum letztenmal knirschend an die Radkränze schmiegten. Dann beugte sie den Kopf zum Fenster hinaus, holte ihn wieder herein, rief ihrem ungnädigen Gebieter zu: »Sie sind da!« und winkte hierauf lebhaft mit dem Taschentuch in die Weite.

»Ihr Glück!« murmelte Toni grimmig.

 

Des rundlichen Lyrikers liebenswürdig lächelndem Jungengesicht konnte selbst ein grundloser Zorn nicht gut widerstehen. So herrschte eine milde, sehr warme Stimmung zwischen den Ehepaaren, in Strömstad und später während der Fahrt im Segelboot. Bei den Männern entsprang das vielleicht auch einer Spur von schlechtem Gewissen. Denn es darf niemand glauben, daß sich vorher bloß der Maler abschätzig über den Dichter geäußert hätte. Das Beste aber zu den guten Gefühlen schenkte ihnen Schweden. Dies Land, das Toni vom Fenster des lärmenden Schnellzuges aus bockig verachtet hatte, nahm ihn während der Segelfahrt ganz in Besitz, nahm ihn auf in die Ruhe und Größe seines heiter ernsten Zusammenklanges aus Wasser und Stein. Ordentlich eine Wolke von Wohlwollen überschattete ihn, und er sagte:

»Du, das war 'ne Idee von dir! Die Landschaft geht mir nämlich ein.«

Philipp verneigte sich mit einem Gesicht, geschmeichelt und doch ein bißchen von oben herab triumphierend, wie ein herausgerufener Dramatiker auf dem Theater. Da er es war, der Gwinners zu der Reise geraten hatte, fühlte er sich ihnen gegenüber gewissermaßen als der Verfasser von Schweden. Und sein Lampenfieber vorher war nicht gering gewesen. Er kannte Tonis, wie er es ausdrückte, herbe Witzigkeit nur zu gut.

»Ja, nicht wahr?« gab er strahlend zurück. »Ist es nicht, wie ich gesagt hab'?«

Toni lächelte, nun doch mit leiser Schelmerei.

»Freilich, Philipp, genau! Die Inseln als bunte Blumensträuße vorm blauen Meer. Ich seh' die Inseln zwar grau, und das Meer bunt; aber das macht fast gar nix. Nein, nein, sei nur zufrieden: ich find' es sogar feiner!«

»Ja, natürlich, hier, das ist klar: die Inseln sind grau«, so wies der Dichter den Verdacht der Farbenblindheit beflissen von sich. »Aber wart' nur, ich zeig' es dir schon noch, daß ich nicht einfach dumm in den Tag hineinred'! Du glaubst immer, ich seh' alles so anders als andere Leute, so phantastisch!«

»Na, sei doch froh!« erwiderte der Maler. »Is das vielleicht ein Vorwurf? Wenn du alles genau so anschau'n würdest wie der Herr Huber und Meier auch, tät' ich gern verzichten auf deine Gedichte.«

Philipp kriegte ein dreifaches Kinn vor Genugtuung. Und ein Wunder war das nicht: Schmeicheleien aus diesem Munde hatten jedenfalls einen Seltenheitswert. Auch Brita hüllte Toni in einen gerührten Dankesblick ihrer blauen Augen. Wer ihr etwas schenken wollte, mußte seine guten Gaben ihrem Mann überreichen. Im Drang ihres vollen Herzens legte sie ihren Arm um Trautchens Schultern, schüttelte sie zärtlich ein wenig und sagte:

»Ach, Alte! Ich bin so froh, daß ihr da seid!«

»Wir auch!« bemerkte Toni trocken. »Denn diese Reise!«

»Ach?! War sie unangenehm?« fragte Philipp erschrocken und geradezu reuevoll, als fühle sich seine Gewissenhaftigkeit auch für alle Zufälle der Bahnfahrt verantwortlich.

»Jetzt sind wir hier«, fiel Trautchen ein, »und hier ist es herrlich.«

»Und, Toni, paß einmal auf: auf Koster erst!« versicherte der Dichter trostreich. »Wir haben ja schon mindestens zwanzig von den Inseln besucht. Wir segeln fast jeden Nachmittag. Und sie sind alle schön. Aber Koster! Ich sag' immer zu Brita: die verzauberte Insel. Keine hat so viel Stimmung; so was, ich weiß nicht, Heidnisches.«

Toni fühlte wohl, was Philipp hiermit ausdrücken wollte. Dennoch lächerte es ihn ein wenig bei dieser konfessionellen Bewertung von Inseln. Aber er unterdrückte jeden schlechten Witz und sagte beifällig:

»Mhm ja, auch schon das da! Weißt, wie sie ausschau'n, all die Felsbuckeln im Nasser? Akkurat doch wie angeschwemmte Leiber von versteinerten vorsündflutlichen Biestern, Mastodons, oder wie die freundlichen Luder gleich g'heißen haben.«

»Ausgezeichnet! Nein, aber wie du nur darauf kommst?« rief Philipp in einer Bewunderung, so verblüfft, daß sie fast etwas Kränkendes hatte. Aber er fügte sofort beflissen und höflich hinzu: »Ja, ja, das Auge des Malers! Ich war nur so frappiert, weil mir das ... Es hat mir schon immer aus der Zunge gelegen. Und nun sprichst du es aus! Brita, jetzt weiß ich's, mein Skagerrakroman muß in der Zeit spielen: vor der Sündflut.«

»Ich denk', du willst hier deinen abessinischen Roman schreiben?« fragte Trautchen, die in manchen Dingen ein unbequemes Gedächtnis besaß.

»Ja, ja, natürlich; zuerst den«, antwortete Philipp zuversichtlich, »Ich hab' die vier Wochen hier schon sehr viel darüber nachgedacht.«

»Aber jetzt ruhst du dich erst einmal gründlich aus!« bat Brita zärtlich besorgt.

Trautchen, die sah, daß Toni einen Witz auf der Zunge hatte, hielt es für vorsichtiger, abzulenken.

»Nein, Vati!« sagte sie lebhaft. »Kuck mal: den Abendhimmel ...!«

»Hi–ja ...!«Er musterte das Netz von rosig glühenden Lämmerwölkchen ziemlich kritisch. »Ich freilich, wenn ich schon ein Abendhimmel war', tät' mich bemüh'n, net gar so süeß in der Farb' zu sein. Aber da schau: das Wasser, wo es so spiegelt, doll! Perlmutterig wie auf dem Pelle Danielsson seinen Bildern.«

»Ja!« warf Philipp dazwischen. »Angenehme Gesellschaft findet ihr auch. Er ist nämlich da.«

»Wer is da?«

»Danielsson. Denk dir!«

»Hm«, brummte Toni, »um Kunstmaler zu besichtigen, reis' ich zwar net da herauf. Das hab' ich in Pasing billiger.«

»Toni, denk einmal: er wußte gleich, wer du bist! Er kennt deine Bilder!«

»Schmeichelt mir ja riesig«, spöttelte Toni.

»Wir haben uns angefreundet und aßen bisher am gleichen Tisch«, berichtete Philipp.

»Spricht er wenigstens deutsch?« erkundigte sich Toni.

»Sehr gut. Ja, wirklich: recht gut. Er war ein Jahr lang in München auf der Akademie. Aber selbstverständlich, wenn ihr den Verkehr nicht wollt, dann sag' ich ihm einfach ...«

»Nein, nein, um Gottes willen!« wehrte Toni ab. »Bloß keine große Kumedi!«

Nun aber faltete sich Philipps Stirn in einem ernsten Bedenken, und er begann zögernd:

»Allerdings, er hat eine Dame bei sich. Verheiratet sind sie nicht. Seine Freundin, wißt ihr.«

»So was! Da staun' ich!« rief der starke Mann mit parodistischer Entrüstung. »Is das 'ne unmoralische Gegend, dies Schweden!«

»Ich meinte aber, es könnte vielleicht deiner Frau ...«, sagte der Dichter.

»Och, wenn sie sonst nett ist!« entgegnete Trautchen lächelnd.

»Furchtbar nett!« rief Brita.

»Ja, Brita«, so schränkte ihr Mann dieses Urteil ein, »das ist dein Geschmack. Ich glaub' ja freilich auch: sie stört wenigstens nicht.«

»Philipp, sie hat gerade dir doch immer gefallen. Und, ich weiß nicht: ich hab' bei ihr so ein gutes Gefühl wie bei dir, Trautchen. Es strahlt innerliche Wärme und Sicherheit von ihr. Sie ist auch so tüchtig.«

»No dann!« sagte Toni, gleichsam beruhigt. »Dann heiratet sie ihn ja außerdem früher oder später doch noch.«

»Wieso?« fragte Trautchen.

»Och«, entgegnete er leichthin, »mir fiel grad' der Theo Schlotthauer ein und seine tüchtige Pepi.«

»Ist ja wahr!« rief Philipp. »Ich hätte dran denken sollen: die verkehren ja auch bei euch und sind nicht verheiratet.«

»Glaubst du?« Der starke Mann blinzelte verschmitzt. »Da wirst du dich täuschen.«

»Wie?! Was?! Nein?! Heimlich getraut?« staunte der Dichter.

»Im Gegenteil«, erwiderte Toni sachlich.

»Gegenteil?«

»No ja: unheimlich«, sagte der Maler und grinste. Der Dichter da glaubte offenbar, die heimlichen Ehen wüchsen in Schwabing wild, wie in den Romanen von Anno Tobak.

Trautchen beeilte sich, den einfachen Tatbestand aufzuklären, und schob damit ein höchst willkommenes Thema in die Debatte. Liegt die Gefahr einer Reibung zwischen Anwesenden in der Luft, so wirkt ein Gespräch über Abwesende wie Schmieröl. Man nähert sich einander so schön im gemeinsamen Lästern über dritte.

Toni beteiligte sich heute nicht an diesem beliebten Gesellschaftsspiel und hörte bald gar nicht mehr zu. Er schwieg sich langsam in einen verträumten und dennoch sehr wachen Zustand hinein. Alle seine Sinne spannten sich wohlig zu ungewohnter Schärfe; er sah, hörte, roch und schmeckte dieses Erlebnis seiner ersten Segelfahrt auf dem Meere. Um es denn auch zu fühlen, senkte er die Fingerspitzen in die Flut und ließ das Wasser in zwei kleinen blanken Bogen an seiner Hand empor- und vorüberschießen. Hurtig gingen seine Blicke von einem zum andern und ruhten doch liebevoll auf allem, was sie berührten: auf den rostroten, bunt geflickten Segeln, die fröhlich und fein gegen Meer und Himmel standen, auf dem schwedischen Fischer, der am Steuer saß, und dessen Augen sehr aufmerksam, aber sehr sicher dem Kurs des Bootes gleichsam wegbahnend vorausliefen, blau und ganz hell in dem seeluftgegerbten kantigen Gesicht, dessen derb klare Linien so ruhevoll und hergehörig waren, so stimmten zu dieser Landschaft, deren Kraft durch Sparsamkeit in der Gebärde zu Anmut wurde.

Munter, und doch geheimnisreich wie eine seelenlose Nixenstimme, plätscherte das Wasser vorn am Bug, springende Metalltöne aus fremden Tiefen glucksten einem hohl unter den Füßen; das trockne Knarzen des Takelwerks gab wichtig flüsternd Antwort. Der Duft des Meeres legte sich einschläfernd auf die Brust, zog einen Schleier vor die Gedanken; man schmeckte Salz auf den Lippen.

Die Sonne glitt unter den Horizont; stiller und reicher wurden die Farben über Himmel, Wellen und Inseln. Das Abendrot dämpfte sich zu heimlicher Gewalt und schlüpfte in die Dinge hinein; jedwedes leuchtete in seinem Ton aus sich selber, nicht gefärbt mehr, nur noch verklärt. Und die Stunde rann und wandelte alles tausendfach, schuf es um, schuf es neu aus dem strömenden, sinkenden Verschwenden des sterbenden Lichtes. Bläßlich blinzelten von den Klippen die grünen, roten und gelben Feuerchen, die das Amt haben, bei Nacht zu warnen, zu rufen, den Weg zu weisen durchs Labyrinth der Schären. Zehnmal sah es aus, als müsse das Boot gleich zerschellen an langgestreckter, lückenloser Steilküste, und dennoch fand es zuletzt auf unbegreifliche Weise ein Sträßlein, das hindurchführte, weiter gen Koster, nach dem verheißenen, heidnischen Land.

Trautchen, Brita und Philipp schwätzten vergnügt und lebhaft. Doch von Toni ward ihnen wortkarge, zerstreute Antwort. Er fühlte sie wie in der Ferne. Viel näher deuchte ihn einer, der doch nicht da war: das Michele meinte er manchmal leibhaftig neben sich zu haben. Er und sein Bub, jawohl, das wußte er: sie beide stimmte die Natur immer auf den gleichen Ton, einen Ton, der stumm bleiben mußte zwischen ihnen, so laut und stark sie ihn auch vernahmen.

Unter der grenzenlosen Kuppel, daran man die Sterne kaum ahnte, band schon das licht silbergraue Halbdämmern der nordischen Sommernacht alles in seine farben- und formendurchgeisterte Einheit, als der Bauch des Bootes an die Pfähle der Landungsbrücke stieß und sich dann hölzern kreischend an ihnen rieb. Toni mußte sich gleichsam wecken. Er war der letzte, der von der Bank aufstand. Und bei dieser Bewegung wurde ihm bewußt, wie weit weg er gewesen war in dem Reich der dunkeln Gefühle. Und das empfand er jetzt vor den anderen als genierlich. Um einen Seufzer zu verheimlichen, der durchaus herauf wollte, blies er die Luft von sich, wie eine Lokomotive den Dampf abbläst, und brummte:

»Endlich einmal!« Das sollte klingen, als hätte ihn die Fahrt bloß gelangweilt. »No, poetischer Philipp«, fügte er dann burschikos hinzu, »jetzt können mir sie ja des nähern beriechen, deine faule Zauberinsel.«


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