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Vierzehntes Kapitel. Die Zauberinsel

Schon die nächsten Tage sollten erweisen, daß Toni gar nicht daran dachte, grämlich an seinem neuen Aufenthaltsorte zu kritteln. Er wohnte sich schnell ein und verliebte sich in die Insel vorbehaltlos. Streichelnd fuhr sein Auge über die Linien der alles beherrschenden Granitbuckel, die, bald vereinzelt, bald zu weitverzweigten, spinnenähnlichen Gebilden zusammengewachsen, ringsum aus dem Boden wuchteten. Eis und Wasser hatten an ihnen geschliffen und ihre Kanten sanft abgerundet; dennoch blieben sie wild, zeichneten einen Reichtum von eigensinnigen Formen in die Luft, so voll heimlicher Stärke wie die Farben, die sich unter der verwitterten Haut des Gesteins bargen. Nur, wo die zerrissen war, leuchteten die frischen Bruchstellen, zogen sich hier tiefschwarze Wellenstreifen der Quere durch ein heißes Rostgelb, sprenkelte dort fahles Olivgrün eine glimmerglitzernde fleischrote Fläche, oder stürzte milchweiß eine lotrechte Quarzader, gleich einem gischtenden Gießbach zu schauen, durch eine kräftig graublaue Schlucht herunter.

Dies waren die Felsen, zu denen man aufsah. Doch gab es auch andre. In den höheren Tälern der Insel hatten, wie Toni das ausdrückte, die steinernen Mastodons Junge gekriegt. Da mochte man meinen, als ein Riese im Hochgebirge zu wandeln. Überall kahle Zinnen und Gipfel, die kühn getürmt gen Himmel trotzten und einem doch kaum über den Scheitel stiegen. In den Mulden dazwischen hatte sich dünn etwas Erdkrume angesiedelt, und darüber spreitete der Wacholder, der hier nur zur Spannhöhe erwuchs, seine unregelmäßig ausgebuchteten Polster. An Tannenwälder konnten die einen gemahnen, wie man sie vom Berg aus tief unter sich aus die Hänge gelagert sieht, und das Preißel- und Heidelbeerkraut an fernewinzige Laubbäume, dunkle und lichte. Die Blütensterne der Heckenrose, die alles Geröll auf Koster mit dornigen Ranken bekroch, wurden daneben seltsam groß und tropisch unwahrscheinlich. Und die wirklichen Bäume, die spärlich eingesprengt waren, fielen kaum aus dem Bild. Schauten sie gleich sehr von oben herab aus die Zwergwälder, Zwerge waren auch sie. Das machte der Seewind. Den schiefen Eichen, Eschen und Espen hatte er die Kronen glatt wie mit dem Messer bekappt; die fräuleinhaften Birken duckten sich zierlich vor ihm, als wollten sie mit hellem Schreckensschrei leichtfüßig davonhuschen; sie wanden ihre Stämmchen gleich aufgeregten weißen Schlangen, ließen die Laubflammen treulich immerdar ostwärts lodern, wie vom Sturme gepeitscht selbst dann, wenn einmal an einem seltenen Tage kein Lüftchen wach war.

Ging man hier auch auf einem Pfade, den schwere Stiefel vieler Geschlechter in den Stein gehöhlt hatten, jedesmal war es einem, als sei man durch die Zeiten zurückgeschritten und stünde in einer noch von keinem Auge erblickten Urnatur, unter der Sonne des Schöpfungstages, der das Feste zuerst aus der Flut hob. Führte einen der Weg dann abwärts in das Innere, die Tiefebenen der Insel, so breiteten sich da sauber in Rechtecke abgeteilte Felder und Wiesen: fügsamerer Boden. Aber auch bei ihm durfte man den Granit nicht vergessen, der ihn hart machte und arm und ihn doch schützte vor dem donnernden Feinde da draußen. Fleißig geschichtete Mäuerchen zogen Grenzen zwischen Flur und Nachbarflur, hängten sich gleich straff gespannten Spitzenfäden winklig aneinander, zickzackten über die Breite des Tals hinweg, zwangen Koster von Küste zu Küste unter ein bedeutungsvoll steinernes Netz. Weit über das Grün verstreut, lagen die kleinen Häuser, blutrot oder silbergrau, mit weißen Fensterstöcken, spielzeughaft adrett, doch nicht wie vom Zufall in die Natur geworfen, sondern gleichsam erwachsen aus dieser Erde, voll der schüchternen Anmut des Selbstverständlichen, wie Baum, Strauch und Blüte in ihren schmalen, staketumfriedeten Gärten.

Gestenlos gaben sich auch die Menschen in ihrer protestantisch nüchternen, halb städtischen Tracht, mit den germanisch klar und sauber geschnittenen, ruhig zugleich in die Weite und in sich herein träumenden, dabei so schlicht wachen Gesichtern, mit dem bedächtig Fuß vor Fuß setzenden, schweren und sicheren Gang, leibliche Kinder des Urgesteins.

Engere Verwandtschaft noch mit dem Felsgrunde, der sie gezeugt hatte, als bei den Leuten wollte Toni bei deren vierfüßigen nächsten Gefährten erblicken. Mit dem lieben Vieh glaubte der Bauernsohn daheim doch wirklich gut Freund gewesen zu sein. Aber hier die zottigen falben und braunen Gäule, die weißen oder gelbbunten Rinder hatten für ihn die Fremdheit von Fabelwesen. Nahte man so einer weidenden oder nachdenklich wiederkäuenden Kuh, und sie wendete den Kopf und sah einen an, dann konnte einen ein Frösteln überrieseln von diesem in seiner Leere ungeheuerlich tiefen Blick, ein andächtiger Schreck, wie er einen schütteln müßte, wenn plötzlich ein Baum willkürliche Gebärden machte. Es schien ein Erinnern auf dem Grunde dieser weißumwimperten Augen zu schweigen, ein unbeirrbares Wissen um in Ewigkeitsdämmer versunkene Zeiten, da Tier und Pflanze noch eins waren, ein Erinnern, vielleicht gar ein ewiges, längst still und gefaßt gewordenes Heimweh nach Wurzeln.

So konnte einem manches durch den Kopf gehn auf Koster – nicht als Gedanke: als beglückendes dumpfes Gefühl.

Noch nie hatte Toni die Einheit alles Geschaffenen auf diese Art sinnlich angefaßt, nie war er so jedem Stein, jedem Wassertropfen Bruder gewesen wie auf dieser Schäre, der einen unter den Tausenden längs der Küste im Skagerrak. In Wahrheit sinnlich genoß er das und suchte seinem Behagen keine überstiegnen Worte, keine tönenderen als etwa ein anerkennend hervorgegrunztes »Fein, fein« oder »Nobel, alles, was recht is«. Nur heimlich irgendwo drunten war ihm zumut wie einem, der jahrelang in der Luft gehangen hätte und nun aus der Berührung mit der Erde in sich herein neue Kräfte steigen fühlte. Ja, oder wie denn? Waren es nicht die alten? Wurzelgeheimnis, einfachstes, tiefstes! Baum und Mensch und weckendes Frühjahr! Und Sonne!

Jeden Morgen glitt sie im Osten hinter dem ferneblauen Wall des Festlands empor, die Sonne, jeden Abend glitt sie im Westen müd in die offene See, und von Aufgang gen Untergang rollte sie Tag für Tag ruhevoll ihre Bahn durch ein gläsern bis ins Unendliche sichtiges Firmament. Gierig trank sie die Dünste des Wassers und duldete keines Wölkchens weißlichen Hauch. Über die Grenzen gescheucht war der Feind, der alte; und trieb er einmal seine Plänkler auf Kundschaft vor, so hatten die kaum ihre Nasen über den Himmelsrand gestreckt, da packte sie schon das Entsetzen vor dem grimmig strahlenden Antlitz der Siegerin, und sie entwichen, woher sie gekommen, ohne Spur in das Nichts. Gleich blanken Kugeln auf glatter Bahn, wie droben die Sonne, ewig gleich, ewig-neu rollten die Tage aus der lässig geöffneten Hand des Sommers.

»So kann es bleiben, von mir aus noch lang'!« pflegte Toni zu sagen.

 

Ein Wort, das er selber gedankenlos hinwarf, sollte dem starken Manne zuerst ein Licht menschlich nüchternen Begreifens in das werfen, was er hier bisher nur als gedankenferner Sohn der Natur fühlend und ahnend erlebt hatte. Das geschah eines Abends, als er mit seinem Freunde Philipp auf einem der Felsbuckel stand und der Sonne zusah, wie sie langsam ins Meer sank.

»Also, hier auf Koster, die Farben! Nicht einmal in den Tropen hab ich solche Farben gesehn!« rief der Dichter ekstatisch und umfaßte mit weiter Armbewegung all die Glut, von der die Welt flammte. Dann fragte er in einem Einfall: »Das da, sag': könntest du das malen?«

»Dieses weniger. Aber ich muß ja auch nicht«, antwortete Toni mit gravitätischer Wurschtigkeit.

»Weiß nicht: das würde mich nun gerade reizen!« wendete Philipp, fast etwas mitleidig, ein.

Der starke Mann unterzog sich nicht der Mühe, solche Laienideen über die unbegrenzten Möglichkeiten der Malerei erst groß zu bestreiten. Bloß einen kurzen Seitenblick gönnte er dem Poesiedichter, und um seine Mundwinkel schlängelten sich vergnügte Spottfältchen. Mit einem Ruck aber wurde sein Gesicht ernst. Ein Nachdenken trat in seine Augen. Was hatte er da gesagt?

Er mußte hier nicht. Jawohl, da lag das Geheimnis, warum er sich auf Koster so neugeboren fühlte. Vor allem machte er sich eine Kunst wieder zu eigen, in der er einst Bedeutendes geleistet hatte, bis sie ihm dann in der Ehe allmählich so ganz unter der Hand wegeskamotiert worden war: die edle und freie Kunst des Faulenzens.

Nicht einmal Trautchens besorgtes Zureden, er solle sich nur ja richtig erholen und am liebsten die ganzen zwei Monate keinen Pinsel anfassen, vermochte seinen Widerspruchsgeist aufzustacheln. O nein: entsprachen ihre Ratschläge nur seinen Wünschen, so zeigte er eine Fügsamkeit, daß es ihr hie und da beinah unheimlich wurde. Wie soll man seinen Mann denn regieren, wenn er zu allem freundlich lächelnd ja sagt?

Und fand sie es hie und da unumgänglich, einmal ein ernsteres Wort mit ihm zu reden, so hörte er zu, sagte wiederum ja und tat, was er wollte, ganz im Gegensatz zu daheim, wo er dann immer in beleidigter Manneswürde höchst stürmisch nein gesagt und – nachher getan hatte, was sie wollte. Das erinnerte sehr an die Art, wie er sich ihr gegenüber einst in den Bräutigamstagen aufgespielt hatte. Die Luft hier schien in der Tat verjüngend auf ihn zu wirken, mehr als nötig vielleicht. Denn oft schoß seine Fröhlichkeit zu einem Lausbubenübermut ins Kraut, der mit Vorliebe gerade die geheiligte Person seines Eheweibes zur Zielscheibe von allerhand Frozzeleien und schnöden Witzen machte. Wenn sie die schönen Träume zurückrief, in denen sie sich vor Antritt der Schwedenfahrt nicht ungern gewiegt hatte, konnte sie ein leises Bedauern verspüren, weil er gleich so übertrieben jung geworden war. Netter wäre es schon gewesen, er hätte damit etwas früher gebremst, etwa bei dem Entwicklungsstadium, in dem er sich während ihrer ersten Pasinger Jahre befunden hatte. Eigentlich war das doch ihre beste Zeit gewesen.

Aber weinerliches Bedauern gehörte nicht zu Trautchens Liebhabereien. Sie war vernünftig und eine Realistin. Hochzeitsreisen im vierzehnten Ehejahr nachholen, das klingt ja sehr schön, aber schließlich sind Erholungsreisen auch nicht zu verachten. Und man sagt ja, daß bei Sommerfrischen die Wirkung nachkommt, später, wenn man wieder daheim in seinem Alltag ist. Die Hoffnung stärkte und tröstete Trautchen, zeigte ihr die Zukunft in sanft rosigem Licht, machte ihr Herz nachsichtig und ihre Prinzipien weich.

Nun, und Gefahren schienen ja keine vorhanden. Brita Ladurner und Fröken Kajsa Sundström, die Freundin Pelle Danielssons, waren, legitim die eine, die andere illegitim, viel zu verheiratet mit ihren Männern, als daß sie Toni hätten gefährlich werden können. Und die schwedischen Strohwitwen, die alle Fremdenzimmer des kleinen Hotels lebhaft bevölkerten, zeichneten sich doch wohl mehr durch die in der Tat überraschende Zahl ihrer Kinder aus als durch irgendwelche verführerischen Eigenschaften. Und das nahm Trautchen nicht ungern wahr. Wenn nur ihr Mann keiner andern gegenüber den schmachtenden Seladon spielte, fand sie sich damit ab, in Gottes Namen auch für ihre Person darauf zu verzichten. Ließ seine Art gleich etwas wie eine Leere in ihr, so tat sie ihr doch zum mindesten nicht weh. Es fehlte ja schließlich bis zu einem gewissen Grade auch an der rechten Gelegenheit für die Verwirklichung ihrer heimlichen Träume. Vor Zeugen konnten gesetzte Eheleute, wie sie, nicht gut ein schnäbelndes Zärtlichkeitstheater ausführen. Und ungestört unter vier Augen durfte man sich eigentlich nur in der Zeit zwischen Morgenkaffee und Mittagessen genießen, beim Bad und dem sich daran schließenden faulen Herumliegen im Sande.

Philipp zwar hatte es sich besonders idyllisch vorgestellt, wenn man auch gemeinsam baden würde; und es mag ja sein, daß Trautchen einst in ihren ledigen Malerinnenjahren diesem Gedanken Reiz abgewonnen hätte. Heute aber fühlte sie sich, gottlob, zu verheiratet, vielleicht nebenbei auch nicht mehr schlank genug, um hinter derartigen Veranstaltungen irgendeinen Sinn zu erblicken. So suchte denn vormittags hübsch jedes Paar seinen eigenen Strand auf. Es gab ja überall dafür passende kleine Buchten, die heimlich zwischen hohe, bis ans Meer vorspringende Felsrücken eingekesselt lagen.

Trautchen hatte mit sicherem Instinkt einen Platz ausfindig zu machen gewußt, wo man sich vor unberufenen Spähern völlig geborgen fühlen konnte. Und es bildete in ihren Augen keinen Nachteil, daß damit zugleich ihrem Mann jede Gelegenheit verpatzt war, etwaige fremde Nixen zu belauschen, die hierzulande ja häufig ohne jedes Kostüm zu baden pflegten. Sie legte es übrigens auch nicht darauf an, ihm zum Ersatz für solche Entbehrung nun ihrerseits ein leichtfertiges Meerweib vorzugaukeln. Trat sie hinter dem Weidenbusch hervor, der sie bei der Toilette verbarg, so wirkte sie fast noch sittsamer bekleidet als für gewöhnlich in ihrem ungemein ausführlichen Badeanzug aus marineblauem Cheviot mit kindlich neckischen weißen Borten um den Matrosenkragen und sonst an allen irgend dafür geeigneten Stellen. Ein besonders diebisches Vergnügen aber bereitete Toni der große Anker, den sie in hellblauer Kurbelstickerei schräg auf der Brust trug.

»Die deutsche Flotte!« grinste er dann wohl in sich herein. Und war sie, in jeder Bewegung das Bewußtsein ihres wirklich niedlichen Aussehens, mit vorsichtig kleinen Schritten bis an die Knie in das feuchte Element gestelzt und vollführte da draußen unbegabte Schwimmversuche, so fuhr er lieblos fort: »Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser. Daher der Name Wasserverdrängung.« Jawohl, dort plätscherte sie nun: seine Vergangenheit, Gegenwart und, na, in Gottes Namen, auch Zukunft! Warum schließlich nicht! An sie war er einmal gewöhnt. Und Weiber sind Weiber. Man muß sie bloß nicht für das Wichtigste nehmen im Leben.

 

Während so der starke Mann vergnügt dahinlebte, geschah das Unerwartete, daß mit der Zeit Philipp in der Zauberinsel ein Haar fand, und zwar eigentlich, weil sich eine Befürchtung nicht erfüllte, die er gehegt hatte: daß nämlich die beiden Maler und ihre Damen schlecht miteinander harmonieren würden und er, als der Vermittler der Bekanntschaft, dieserhalb von links und rechts Nackenschläge bekommen könnte. Und nun harmonierten diese Leute sofort in einer Weise, daß man es wirklich nicht gut anders als übertrieben nennen konnte.

Pelle Danielsson war so recht ein Mensch nach dem Herzen Tonis, groß, breit, ruhig, sogar schon ein wenig zu Korpulenz und Phlegma neigend, dabei ein Philosoph, der aber diese Gabe nicht etwa zum Philosophieren mißbrauchte, sondern sie in der fröhlich klingenden kleinen Münze eines gewissen untergründig ironischen Humors ausgab, kein Sprüchmacher Gott sei Dank, aber ein Mann für unterhaltsame Gespräche. Das eben schätzte jeder von den zwei Malern an dem anderen, daß ihm hier einer gegenübersaß, der nicht in einem fort die geheimsten Tiefen seines Innern hervorstülpte oder gar eine Weltanschauung auf dem Wirtshaustisch plattwalzte.

Zwischen Trautchen und dem rothaarigen Fröken Kajsa Sundström hinwiederum konnte zwangloses Geplauder nicht gut die Brücke schlagen. Verfügte doch keine von ihnen über einen nennenswerten Wortschatz in der Muttersprache der andern. Und außerdem schwieg sich Fräulein Kajsa auf schwedisch fast ebenso hartnäckig aus wie auf deutsch. Aber ihr Schweigen hatte nichts Gewaltsames, Peinliches; es gehörte einfach zu ihr und bald, als Stoff für allerhand gutmütige Scherze, ebenso zum Behagen des kleinen Kreises. Blieb ihr Mund auch meistens stumm, um so beredter waren die Neigung ihres Kopfes, die Haltung ihrer Schultern, die Art, wie sie die großen, weißen, ein wenig sommersprossigen Hände ineinander legte, die gescheite Aufmerksamkeit in ihren blauen Augen, die außerdem die Gabe hatten, plötzlich so strahlend sonnig und aus dem Herzen heraus lächeln zu können, wie man sonst nur die unschuldigen Spitzbubengesichter gesunder Kinder lächeln steht. Trautchen mußte dabei unwillkürlich an das Michele denken. Ja, dieses Mädchen gefiel ihr. Und geradezu wohltuend war es, wie kräftig man den Einklang zwischen ihr und Danielsson empfand, trotzdem die zwei kaum je miteinander sprachen und nie einen verliebten Blick wechselten. Das hatten sie eben gar nicht nötig. Solch eine schlechtweg glückliche Ehe, und mag sie tausendmal zu der Klasse der sogenannten wilden Ehen gehören, hat für eine Frau, die selber Ziel und Sinn des Lebens im Kreise der Familie findet, etwas Gottgewolltes, zur Andacht Stimmendes, Herzerwärmendes. Daher kam es, daß schon am zweiten Abend die Frau Professor aus Pasing ihre vorsichtige Reserviertheit fahren ließ und diesem, streng genommen, doch gar nicht gesellschaftsfähigen kleinen Mädel so recht zärtlich billigend zunickte. Und Kajsa verstand gleich, was ihr da gesagt wurde. Sie reckte mit der impulsiven Geradheit des Naturkindes ihre Hand über den Tisch und streichelte sanft und liebevoll die kleine, rundliche Faust ihrer neuen Freundin. Denn Freundinnen waren und blieben sie von Stund' an, vielleicht auch darum, weil sie nicht viel miteinander reden konnten. Der Austausch von Meinungen soll ja, zumal beim weiblichen Geschlecht, nicht gerade immer ein Mittel der Annäherung sein.

Kurz, aus dem allen entwickelte es sich von selbst zur Regel, daß zum Beispiel auf Spaziergängen Toni und Danielsson, immer in eifrigem Gespräch, die Spitze nahmen und als zweites Paar Trautchen und Fröken Kajsa folgten, diese schweigsam, doch die Arme vertraulich ineinandergehenkelt. Philipp hatte das Nachsehen und durfte mit seiner getreuen Brita hinterdreinhatschen. Nun mag einer über alle Begriffe glücklich verheiratet sein; wenn man ihn in einem größeren Kreise vorwiegend der Gesellschaft seiner Frau überläßt, empfindet er das trotzdem leicht als etwas demütigend. Ja, das mußte unser Dichter schon sagen, zumal auch bei den Mahlzeiten im Hotel wirklich wenig Rücksicht auf ihn genommen wurde: nicht nur, daß man meist von Dingen sprach, die ihn langweilten, man redete ganz naiv über ihn hinweg, wie wenn da ein x-beliebiger Mensch säße.

»Es ist ja beinah, als ob man gar nichts mehr wäre!« äußerte Philipp mehr als einmal in grollendem Staunen zu seiner Frau. Wohl wußte er, wer er war, und konnte deshalb nur Mitleid empfinden mit dem anmaßenden Größenwahn dieser Maler. Mein Gott, wo deren Bilder wohl wären, dereinst in den fernen Zeiten, da seine Lieder immer noch klingen würden! Aber so ganz tröstete ihn der sichere Nachruhm doch nicht über die verständnislose Nichtachtung hinweg, die ihm aus der Ungezwungenheit der anderen zu sprechen schien.

Oh, er hatte sich in der Hand, er hielt viel aus; und wenn er nicht wollte, merkte ihm keiner seine Leiden an. Nur Brita schenkte er das Vertrauen, sie zur Zeugin seines aufgewühlten Innenlebens zu machen, wenn sie, so recht schön ungestört, in den vier Wänden ihres Fischerhäuschens weilten. Dann litt Philipp in der Erinnerung bis zum Erbrechen unter dem ewigen banalen und klobigen Geschwätz dieser Leute, das ihm das Hirn gänzlich aushöhlte.

Damit fing es an. Bald aber gab es hier überhaupt nichts mehr, worunter er nicht gelitten hätte. Das eintönige Essen, und dazu die rücksichtslose Art der anderen, gerade von dem am meisten zu nehmen, was ihm noch so halbwegs schmeckte, die harten Betten, die ihm blaue Flecken in die Haut drückten, die stimmungmordend häßlichen Tapeten in den fliegendurchsummten Stuben, der an den Nerven zerrende ruhelose Wind, der unentrinnbare Salz- und Tanggeruch, die schauerlichen grauen Steine, die längst nicht mehr wie bunte Blumensträuße vor der unendlichen Bläue standen, das alles peinigte ihn entsetzlich.

Ach, und die Abenteuer, die ihm in dieser starren, ungütigen Heidenwelt nun immer häufiger begegneten! Ein »tollwütiger« Stier fuhr empor bei seinem Anblick, brüllte, wie Philipp nachher höchst plastisch erzählte, gleich einem losgelassenen Höllenhund, rammte seine Hörner in den Boden und schleuderte Erdschollen und Felsblöcke hoch in die Luft. Nur durch blitzschnelles Erklimmen einer senkrechten Granitwand vermochte sich der geistesgegenwärtige und akrobatisch veranlagte Dichter eben noch zu retten. Dann ließ sich eines schönen Tages dieser Idiot von Hotelwirt zu einem fürchterlichen Attentat auf die Phantasie des Poeten verleiten: er erzählte ihm leichtfertigerweise, daß es hier einen verrückten Fischer gebe. In die Kreisirrenanstalt könne er erst aufgenommen werden, wenn dort wieder ein Platz frei würde, die Unterbringung in einer Privatklinik hinwiederum erschiene der Gemeinde zu kostspielig. So hause der Kranke nach wie vor in seiner Hütte, und die übrigen Männer von Koster hielten umschichtig die Wache bei ihm, zu zweit bei Tage, selbviert bei Nacht. Jawohl ja, das klang gewiß recht schön! Aber wenn diese Wächter nun einmal unversehens einschliefen, oder nicht richtig aufpaßten, oder sich gegen die übermenschliche Kraft nicht mehr zu wehren vermöchten, die die Tobsucht verleiht, was dann? Seit diesem Tag konnte dem unglücklichen Philipp kein Fischer mehr entgegenkommen, ohne daß er ihm schon auf hundert Schritt am Blick angesehen hätte, daß es der Irre sei. Sollen solche Aufregungen vielleicht dazu beitragen, einer feinfühligen Natur die Erholung zu schenken, die sie einmal im Jahr, im Sommer, doch so bitter notwendig braucht?

Dazu kam als das Verstimmendste, daß außer Brita kein Mensch die Todesgefahren wirklich ernst nahm, denen der große Ladurner immer nur mit Not und Mühe entrann. Toni drohte sogar, aus dem Abenteuer mit dem erbosten Rindvieh ein Gemälde zu machen. Dieses Werk beschrieb er höchst spaßhaft und sprach dabei die Hoffnung aus, Philipp würde doch sicher so freundlich sein, ihm dafür im Interesse der Kunst ein wenig Modell zu klettern. Überhaupt ließ der starke Mann seiner derben und gefühllosen Lust daran, billige Witze auf Kosten von Leuten zu reißen, die er nicht verstand, auf das taktloseste die Zügel schießen. Was aber tat Danielsson, dieser Schwede, der doch froh sein durfte, wenn sich der erste unter den lebenden deutschen Lyrikern überhaupt mit ihm abgab? Er entblödete sich nicht, ganz unverhüllt zu lachen, so grob und unästhetisch zu lachen, daß ihm der blonde Vollbart wackelte.

Diese zahllosen Widrigkeiten ließen in Philipp allmählich die Sehnsucht nach einem milderen Klima entbrennen. Wenn er die länger, als es sonst seine Art war, im Busen verschloß, so lag das daran, daß er noch auf der Suche nach einem zwingenden, durchaus einleuchtenden Grund für seine Abreise war. Freilich: Brita gegenüber mochte der Hinweis auf die Unmöglichkeit genügen, hier etwas zu schreiben, während ihn doch ein so stürmischer Arbeitsdrang fiebern machte. Trautchen aber und Toni – oh, er kannte diese Leute, er hörte schon ihre hämischen Glossen. Denn übelnehmen würden sie ihm sein Fortgehen natürlich schwer.

Aber Gott verläßt keinen Dichter. Als Philipp eines schönen Samstagmorgens erwachte – überraschenderweise ganz richtig erwachte, trotzdem er hier schon seit Wochen kein Auge mehr zutat –, da stand auf einmal, gegen jede Gewohnheit und Sitte, der Himmel nicht mehr als hohe, reinblaue Kuppel über der Schärenwelt, sondern hatte sich tief und grau mit Wolken verhängt; und aus denen plätscherte ein Regen herunter, der solid und wie für die Ewigkeit gemacht aussah. Nun war es entschieden: Das Schicksal selbst hatte gesprochen! Daß sich ein Dichter von seinem Rang hier ihnen zuliebe den Tod hole, das konnten Gwinners unmöglich verlangen.

Richtig: schon kündigte sich prompt ein schwerer Gelenkrheumatismus an. Vor schauderhaften Schmerzen in der linken Schulter hinkte Philipp mit dem rechten Fuße – so sensitiv war er –, als er sich nun schleunigst in Schlafrock und Pantoffeln zu Brita hinüberbegab, um sie in kurzen und starken Worten von der mörderlichen Wetterkatastrophe und den Folgerungen zu unterrichten, die er am Montag früh, denn sonntags sei hier das Essen ja besser, daraus zu ziehen gedenke.

Und sie – sie fand es fast rührend bescheiden, daß er bloß an den Lago maggiore und nicht vielleicht nach Valparaiso oder Yokohama mußte, um dort seinen Skagerrakroman zu schreiben. Ihre Trauer über seine mit brechendem Herzen getroffene Anordnung, sie selbst solle aus Gründen vernünftiger Sparsamkeit nicht mit ihm gehen, sondern auf Koster bleiben, schluckte sie tapfer herunter. Sie war es ja schließlich gewohnt, einen Herrn über sich zu wissen, der keinen Widerspruch litt. Für einen Pantoffelhelden von Tonis Schlage hätte sie sich auch schönstens bedankt! Jawohl, das hätte sie!

 

Es war ein Staunen, nicht ganz frei von Unwillen, mit dem Philipp feststellen mußte, wie wenig Sensation im Grunde seine Reisepläne hervorriefen, oder, richtiger gesagt, wie gut die andern, ihm so recht zum Tort, ihren Ärger und ihre Enttäuschung zu verstecken wußten. Nun ja, vielleicht war es um des lieben Friedens willen so besser. Was Trautchens gesunder Menschenverstand und Tonis Spottlust ohnehin noch zu der Sache zu bemerken hatten, verstimmte und langweilte ihn gerade ausreichend. Gott sei Dank genügte es, sie mit dem schlichten Hinweis zu entwaffnen, daß er ja nicht aus Laune oder zu seinem Vergnügen fortginge, sondern weil seine Gesundheit es nun einmal gebieterisch verlange. Dies öfters hervorzuheben, war schon deshalb nicht ganz überflüssig, weil dieser Grund zur Flucht inzwischen durch die Umstände leider fadenscheinig geworden war. Das aller vernünftigen Vorausberechnung nach so dauerhafte Unwetter vom Samstagmorgen hatte sich als flüchtige Regenbö entpuppt; schon nach ein paar Stunden war wieder die Sonne durchgebrochen, und seitdem strahlte die gewohnte Hitze vom wolkenlosen Firmament, als ob es überhaupt nie geregnet hätte. Ein schwächerer Geist wäre dadurch vielleicht beirrt worden, Philipp nicht. Was bewies ihm die Temperatur! Er führte den Gegenbeweis und erschien auch heute am Sonntag nicht nur in einem Winteranzug aus stockigem, dickem Wollstoff, sondern zog im Freien noch einen warmen Herbstmantel darüber. Und trotzdem überlief ihn in angemessenen Zwischenräumen ein plötzlicher Frostschauer. Seine Natur reagierte eben auf Feuchtigkeit in der Luft schärfer als der feinste Hygrometer.

In solcher Verpackung saß unser Poet denn auch nach dem Mittagessen inmitten der sommerlich hell gewandeten Tischgesellschaft auf dem sogenannten Siestaplatz. Es war dies eine flache, halb durch ein elastisches Graspolster ausgefüllte Mulde im Felsgrund vor der Front des Hotels. Hier lagerte man sich täglich zu dieser Stunde, schlürfte den guten schwedischen Kaffee, führte ein gemächlich dahintröpfelndes Gespräch und ließ geruhsam die Augen schweifen: den steilen Steinpfad hinunter zur Landungsbrücke, über das blaue Wasser mit den hundert, so in dem grellen Licht wirklich bunten Inseln, deren Farben alle Möglichkeiten zwischen dem sattesten Schwarzblau und dem hellsten Honiggelb durchliefen, bis an den vom Sonnendunst violetten, gen Norden wie gen Süden im Unendlichen verschwimmenden Streifen der Festlandküste. Als man sich heute hier niedergelassen hatte, reckte sich Toni, stieß eine Art von wohligem Grunzen hervor und sagte:

»Alles, was recht is! So ein Essen, wie das, jeden Tag, das ließ' sich meinem Vater sein einziger Sohn eingehn.«

»Ach!« machte Philipp verächtlich abwehrend; und dann auf einmal blitzten seine hübschen Zähne in einem schwärmerischen Lächeln, und er sprach aufgeräumt: »Wie eine Erlösung wird es mir sein: in Italien die Küche! Alles in Öl gebraten, so gütig!« Der Dichter verwendete neuerdings das Wort gütig oft und meist in den überraschendsten Zusammenhängen, um Toni auf seine Weise zu Gemüte zu führen, was er an ihm so schmerzlich vermißte.

»In Öl? Pfui Teifel!« rief der starke Mann.

Der Dichter verschmähte es, sich mit ihm über die italienische Kost zu streiten. Klagenden Tones fuhr er fort:

»Hier ewig die elenden Fische! Fisch und Fisch und Fisch!«

»No?« sagte Toni, der nun einmal keine Ruh' geben wollte. »Davon warst doch gerade du so verzuckert, weil Fisch die Denkkraft steigern soll: Phosphor ins Hirn?«

»Das ist's ja!« erklärte Philipp. »Die Überladung mit Phosphor! Es kann doch für einen Dichter nichts Schlimmeres geben, als wenn bei ihm der Verstand auf Kosten von allem andern zum Hypertrophieren gebracht wird!«

»Ah?!« staunte der Oberammergauer. »Und das is dir hier passiert?!«

Trautchens Hand deutete ablenkend auf ein weißes Segel, das, nur zur oberen Hälfte sichtbar, hinter dem steinernen Wall einer Nachbarinsel still und langsam dahinglitt.

»Kuckt mal: das Boot!« rief sie. »Ob das wohl zu uns kommt?«

Dies war denn nun eine Frage, die bei dem eintönigen Leben auf Koster des Interesses nicht entbehrte. Ein neuer Gast bildete stets ein Ereignis; allerdings meist nur, bis man ihn in Person erblickt hatte. Nachher konnte man sich für gewöhnlich enttäuscht beruhigen. Aber trotz dieser Erfahrung veranlaßte Trautchens Wort auch heute eine lebhafte Debatte. Toni behauptete, das Boot dächte gar nicht daran, Kurs hierher zu haben, was für Philipp natürlich ein Grund war, mit Leidenschaft die entgegengesetzte Meinung zu verfechten.

»Also, wenn es nicht herkommt!« verschwor er sich. »Ich weiß nicht, das fühlt man doch, wie es da so sonderbar bestimmt seine Bahn zieht: wie das Schicksal.«

»Und weiter nix!« brummte der starke Mann belustigt. Inzwischen hatte Danielsson mit der Kellnerin, die eben den Kaffee brachte, ein paar Sätze auf schwedisch gewechselt und wendete sich nun zu den andern:

»Ja, Esther sagt, es soll heute noch ein neuer Gast eintreffen, eine Dame.«

»Was denn auch sonst?« spöttelte Toni. »Na, und wieviel Kinder?«

»Ich beklage, aber das wurde mich nicht vorraten. In das Schuhmacherhaus hat sie gemietet. Wirklich, das wird sie sein«, sagte der Schwede und zeigte aufs Meer. Das Boot hatte gekreuzt und schoß nun, auf einmal in ganzer Gestalt, aus dem schmalen Wasserarm zwischen den beiden nächstgelegenen Schären hervor.

»Na, Toni, wer hat nun recht?« triumphierte der Dichter.

»Du«, war die gleichmütige Antwort. »Aber, du hörst ja: kein Schicksal, bloß eine Schicksel!«

»O der Kalauer, Vati!« seufzte Trautchen humorvoll.

»Das habe ich nicht ganz vorstanden«, erklärte Danielsson neugierig.

»Sein S' froh!« lachte Toni. »Es war net so geistreich.«

Drunten legte das Boot an. Der wohlbeleibte Hotelwirt, Herr Olsson, der nebst seinem Hausknecht plötzlich auf der Landungsbrücke aufgetaucht war, dienerte lebhaft und half einer schlanken, hochgewachsenen, in Weiß gekleideten Dame an Land. Trotzdem man die von hier oben aus nur als winziges Figürchen sah, reckten die Männer die Hälse; aus ihren Augen war jede Siestaschläfrigkeit weggewischt. Und dies gab den Frauen Anlaß, nun auch ihrerseits dem neuen Gast mit ebenso großem, nur vielleicht nicht ganz so wohlwollendem Interesse entgegenzublicken.

»Donnerwetter!« sagte Toni feinschmeckerisch. »So von weitem, alle Achtung! Und, das is ja ganz was Neues: kein einziges Kind!«

»Das ist doch ein junges Mädchen, in jeder Bewegung!« entgegnete Philipp.

»Wär' ja auch weiter kein Fehler.« Der starke Mann lächelte verwegen.

»Nein, kuckt doch: die Koffer von der Person!« bemerkte Trautchen mißbilligend.

»Drei Stück, und jeder so groß wie ein Haus«, stimmte Brita ein. »Die verwechselt Koster wohl mit Ostende.«

»Nun ja, laß sie doch! Stört es dich vielleicht?« so wies ihr Gemahl sie zurecht. Es war sonderbar, was für eine gereizte Stimmung plötzlich in der Luft lag.

Mittlerweile näherte sich die Dame langsam. Besonders die Maler wendeten keinen Blick von ihr. Sie schritt aber auch mit einer leichten Grazie bergan, die vollendet schien, höchstens um eine Kleinigkeit zu vollendet. Auch ihre Kleidung war wohl von duftigerer Eleganz, als es bei einer Segelfahrt übers Meer sachgemäß ist; und das hochhackige weiße Schuhwerk nahm sich etwas sonderbar aus auf dem steinigen Pfade. Jedoch sprang dieses vorwiegend dem weiblichen Teil der Gesellschaft in die Augen, die Männer fanden ihre Füße entzückend und nahmen es nicht übel, daß sie auch die zierlichen Fesseln in den flordünnen Seidenstrümpfen bewundern durften; denn die Fremde hatte das Spitzengeriesel ihres Rockes gerafft, in direkt unpassender Weise, mußte Trautchen bei sich bemerken. Als die Höhe erreicht war, hob die schlanke Frau in Weiß den Kopf und schaute sich nach dem langsameren Herrn Olsson um.

Ein leiser, gleich im Entstehen unterdrückter Laut der Überraschung trat auf Danielssons Lippen; nach einem unmerklichen Zaudern zog er mit gemessener Höflichkeit den Hut. Auch Toni und Philipp taten das gleiche; und ihnen zerrte ein verbindliches Lächeln die Münder in die Breite. Wie eine Herzogin, so knapp grüßte die Dame wieder. Und schon war sie neben dem dicken Wirt um die Hausecke verschwunden, nachdem sie die drei Paare noch einmal mit einem ungeniert abschätzenden Blick gemustert hätte.

»Sakra, Sakra!«: Toni schnalzte beifällig mit der Zunge. »Damisch nobel is die in der Farb'! Die roten Haar'! Und in dem hellen G'sichtel die schwarzen Augen! Und kennt sich aus, was sie kleidet! Das Weiß und dazu der scharfgrüne Schleier und der Gürtel!«

»So was Hergerichtetes! Und wirklich eine sonderbare Manier, einen anzukucken!« wendete Trautchen ein. Aber bevor sie fortfuhr, erkundigte sie sich weislich: »Doch keine Verwandte von Ihnen, Herr Danielsson?«

Es wurde ihr fürs erste keine Antwort. Fräulein Kajsa war nämlich dabei, im Flüsterton gleich ein paar hastige Fragen hintereinander an ihren Liebsten zu richten; und er entgegnete darauf, ebenfalls leise und auf schwedisch, ein wenig verdrossen, so schien es. Der starke Mann mußte lachen.

»Ja, Fröken!« staunte er. »Was ist denn mit Ihnen! Sie reden ihn ja heut förmlich tot, Ihren Pelle!«

Kajsa hatte den Sinn der Neckerei erfaßt. Lächelnd nickte sie Toni zu, als wollte sie sagen: Ich hör' ja schon auf! Und damit sank sie in ihre gewohnte Haltung zurück, ließ ihren Rücken rund werden und legte die Hände ineinander; ihre Augen schauten wie immer, klug und so ruhig, als sähen sie weit in der Ferne ein sicheres Ziel.

»Wer ist die Dame?« wollte Philipp wissen. »Sie kennen Sie, Herr Danielsson?«

»Ja, flüktig«, war die Antwort. »Ja; das will sagen: es sind schon viele Jahre. Näher, nein, näher nicht.«

»Aber doch keine Schwedin?« fragte Toni und schnupperte in der Luft. »Der Schwanz von Wohlgeruch, den sie hinter sich herzieht! Berlin WW, taxier' ich.«

»Die typische Skandinavin!« widersprach Philipp. Danielsson lächelte.

»Auf gewisse Weise haben Sie recht und Sie recht. Ja, Berlin; zumindestens hat sie da lange ihr Leben geführt, wenn sie auch aus Schweden herstammt. Es ist die Frau Erik Baginsky.«

»Von dem großen Kunsthändler?« rief der Dichter.

»Hat uns schon viel abgekauft«, warf Trautchen ein und fand die Fremde plötzlich weniger unsympathisch.

»Ja aber, wart mal ...«, begann Toni und runzelte nachdenklich die Stirn.

»Oder«, so verbesserte sich Danielsson, »jetzt riktiger wieder Frau Annastina Nordlind. Sie hat sich separeert.«

»Das ist die kleine Annastina?« rief Brita.

»Nordlind?« rief zu gleicher Zeit der starke Mann lebhaft. »Und der blöde Vornamen, natürlich! Weißt noch, Schnucksi, das war die Schwester, von der der Calle so Wunderdinge verzählt hat.«

»Sie kennen ihm, Calle Nordlind?« fragte Danielsson erstaunt.

»Wir auch, wir auch!« betonte Philipp.

»Freilich, Schnucksi!« fuhr Toni fort. »Das is die Bewußte, die Schwester; und zu der ihrer Hochzeit, es war gar net so lang' nach der unsern, is der Calle doch dazumal fort von München und nach Berlin. Weißt nimmer: den letzten Abend in der Bar, wo er so voll war von Sekt? Tjaja, der Calle! Sagen S' mir, Danielsson, was treibt er denn jetzt, der alte Idiot?«

»Sie kennen ihm wirklich, das sehe ich jetzt«, erwiderte der Schwede. »Nun, er tut, was er wahrscheinlich auch dann tat: nichts und als Abwechsling: reisen. Er ist selten in Schweden und imponeert lieber die ganze Welt mit seines Vaters Namen und seiner Frau Geldern.«

»Also doch ne reiche Partie!« schmunzelte Toni. »No, ich sag's ja: wer immer strebend sich bemüht ... Übrigens, was ich fragen wollt': der alte Nordlind, der Mann mit dem Weltfrieden in Essig und Öl, der is aber tot?«

»O ja, vor fünf oder sechs Jahre«, gab Danielsson etwas verwundert und leicht belustigt zur Antwort. »Und das konnten Sie, dachte ich, wissen. Denn seine Frau und seine Kindern – sie machten doch von diesem Tod das größeste europäiske Evenement es überhaupt noch gegeben hat. In alle illustrierte Zeitungen haben Photographier von der berühmten Familie Trauer an seine Bahre gestanden.«

»Du, Brita!« warf Philipp dazwischen. »Du hast doch intim im Hause Nordlind verkehrt. Da mußt du sie aber doch kennen?«

»Ja, das heißt, eigentlich: befreundet war ich mit der Schwester. Sie war damals wohl nicht mehr als ein Backfisch. Ja, ich sehe sie noch: intelligent und schon sehr kokett, lang, mager und eher häßlich.«

»No, dafür hat sie sich aber gut ausgewachsen«, fand der starke Mann. Und unvermittelt fuhr er fort: »Nein, das kann die ja gar net sein, zu der ihrer Hochzeit damals ... Vor vierzehn Jahren! Die is doch heut keine fünfundzwanzig.«

»Präzis: dreiunddreißig Jahre und fünf Monate«, entgegnete der Schwede.

»Schau, schau, der Danielsson!« rief der starke Mann pfiffig. »Gar so oberflächlich, wie er vorspiegeln möcht', ist, scheint's, die Bekanntschaft aber net. Fröken, Fröken, tun S' ihn nur recht festhalten am Bandl! Sonst spielt eine gewisse Jemandin am End' gar noch ein bisserl Schicksal für einen gewissen Jemand.«

Kajsa verstand seine Worte nicht, aber sie fühlte genau, worum sie sich drehten.

» Nej, Nej« erwiderte sie in ihrer gelassenen Art; und plötzlich deckte sie für einen flüchtigen Augenblick, scheu gleichsam, die eine Hand sanft über die ihres Pelle. Es war das erstemal, daß man zwischen den beiden so etwas wie Zärtlichkeit sah.

»Da kommt Carlsson mit unserm Boot!« sagte Trautchen. Sie blies, wie erlöst, die Luft von sich und erhob sich. »Ihr segelt heute wohl nicht mit?« fragte sie Ladurners.

»Nein, ich ... Und Brita muß packen«, erklärte Philipp »Also denn: auf heut abend!«

»Vergeßt auch die Wärmflasche nicht!« schrie Toni hinter den Abziehenden her und wendete sich dann wieder an seinen Kollegen: »Tja, um nun auf die wohlriechende Huldin zurückzukommen ...«

»Hör doch schon auf damit, Vati!« murrte Trautchen verweisend. »Bald seit einer Stunde reden wir jetzt von nichts anderm! Und, ich weiß nicht: so was Merkwürdiges ... Finden Sie sie eigentlich hübsch, Danielsson?«

»Tja?« Der Gefragte flüchtete sich hinter eine zweifelnde Handbewegung.

»Also«, fuhr sie mit naivem Eifer fort, »ich kann sie nicht hübsch finden, Mein Mann findet sie scheinbar hübsch.«

 

Als die drei Paare sich zur Stunde des Sonnenuntergangs wieder vor dem Hotel trafen, durfte man schwerlich behaupten, daß das Thermometer seit dem Nachmittag gestiegen wäre; ungeachtet dessen hatte sich Philipp aus allen den Häuten seiner wollnen Verpuppung geschält und trat nun in einem weißen Pikeeanzug und weißen Halbschuhen auf, wozu er eine scharf grüne Krawatte und grüne Strümpfe angelegt hatte. In Erwartung der Wirkung, die sein wirklich glorreiches Aussehen hervorbringen mußte, lächelte er den andern entgegen, sieghaft und doch vielleicht ein klein wenig unsicher, weil Toni dabei war, den er schon oft bei sich einen Mörder seiner Naivität genannt hatte. Und richtig mußte dieser der erste sein, der seiner Bewunderung Ausdruck verlieh.

»Da legst di nieder!« rief er. »In was für nem Verzug kommst denn du auf einmal daher? Und wo hab' ich denn diese Farbenzusammenstellung schon früher gesehn?«

»Ich weiß nicht, was du meinst«, entgegnete Philipp und sah verwundert an sich herunter.

»Richtig ja: in der sächsischen Flagge«, erklärte der starke Mann infam harmlos. »Also Trautchen zu Ehren!« Plötzlich aber markierte er einen heftigen Frostschauer. »Brrr, und es friert ei'm, wenn man dich bloß anschaut!«

»Ach, findest du?« staunte der Dichter lebhaft. »Ich meine: jetzt, wo es endlich geregnet hat, ... Die Feuchtigkeit gibt der Luft etwas ... Es macht sie so ganz anders, so ... so ...«

»So gütig«, schlug Toni merkwürdig boshaft vor, »Feuchtigkeit – das Beste für Gelenkrheumatismus!«

»Denkt, nun muß er gar nicht reisen«, sagte Brita zufrieden.

»Ähemm!« so räusperte sich der starke Mann anzüglich und schoß einen sehr sprechenden Seitenblick auf Philipp ab.

Der Gute spürte gar nicht, daß gleichzeitig er selber mit einem mindestens ebenso sprechenden Blick gemessen wurde, von Trautchen. Die verstand es vollkommen, daß es ihm nicht schwer fiel, seinem Dichterfreund in der Seele zu lesen. War er, der Professor Gwinner aus Pasing, nicht heute, ganz gegen seinen sonstigen Brauch, nach der Segelfahrt heimgegangen, um fürs Abendessen ein bissel Toilette zu machen, einen frischen Kragen umzuknöpfen, sich die Künstlerlocke genau und schwungvoll in die Stirn zu kampeln und unter Anwendung der Wurzelbürste seine Hände zu waschen? Mehr noch: er hatte zum Schluß widerrechtlicherweise, und unbeobachtet wie er glaubte, den Nagelpolierer seiner Gemahlin zu leihen genommen und sich damit buchstäblich manikürt!

Ei, ei, verwechselten hier nun schon mehr Leute Koster mit Ostende?


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