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Schön ist es auch anderswo,
Und hier bin ich sowieso.
Wilhelm Busch
Jahre, die so glatt verrinnen, daß man sich jedesmal wundert, wenn, wieder schon, eines herum ist, und die sich bei der Rückschau doch ausnehmen, als umfasse ihre Reihe eine kleine Ewigkeit, als hätte es nur in halbvergessener Ferne Zeiten gegeben, die den gegenwärtigen nicht glichen – wie nennt man solche Jahre? Der eine wird sie herrlich heißen, der andre langweilig, der reich an Gewinn, jener versäumt und verloren, wieder einer heute so und morgen so, wie er eben aufgelegt ist. Aber daß es sich da um ruhige Jahre gehandelt haben muß, darüber kann schwerlich ein Streit entbrennen.
»Mei Ruh'!« ist der Spruch, mit dem der Altbayer seinen Standpunkt wahrt, wenn geschäftige Faselhänse ihn für etwas begeistern oder gegen etwas aufmanndeln wollen. Und Toni wäre der letzte gewesen, der sich gern in seiner königlich bayerischen Ruhe hätte stören lassen.
Eines aber hat jeder Mensch mit seiner Taschenuhr gemein. Daß nämlich der Meister, der ihn schuf, inwendig in ihm selber eine Unruh angebracht hat, von der er nichts weiß, solange das eintönige Brausen des Alltags ihm die Ohren füllt. Es gibt jedoch sehr stille Stunden, wo das unterweltliche Ticken merkwürdig laut und metallisch wird. Zu den Übergangszeiten des Lebens häufen sich solche Stunden, und durch ihr Schweigen tropft, Silbe für Silbe, unübertönbar die alte dumme Frage: Wozu leben wir Menschen eigentlich? Das da, soll das das Ganze sein? Man schüttelt den Kopf, an dessen Schläfen man vielleicht gerade in der Frühe beim Rasieren die ersten grauen Haare festgestellt hat, und sagt sich: Hm, das hab' ich mir doch dazumal wesentlich anders vorgestellt, verflucht anders. Ach ja, mir fehlt ja weiter nichts, aber ... Und hinter diesem: Aber eröffnen sich weite, in Dunst verschwimmende Horizonte.
In das vierzehnte Jahr schon ging Tonis Ehe. Ein stilles, dabei nicht zu langsames Wachstum ließ sich spüren an Tonis Künstlerberuf, seinen Bilderpreisen, seinem Bankguthaben und leider auch an der Taillenweite seiner Frau.
»Unberufen!« pflegte Trautchen satt lächelnd zu entgegnen, wenn jemand mit einem abschätzenden Blick über ihren Kubikinhalt fand, nach ihrem Ergehen müsse man wohl gar nicht erst fragen. Zufriedenheit glänzte von ihren Backen, ihrem gemütlichen Doppelkinn, Zufriedenheit mit sich und der Welt. Ob dereinst im Jenseits die Tugend gekrönt würde, darüber machte sie sich kein Kopfzerbrechen. Denn wenn es einen ewigen Richter gab, müßte seine Allweisheit doch sicher ebenso vollkommen einverstanden sein mit ihr, wie sie selber es war. Jeder künftigen Scheidung in Schafe und Böcke konnte sie mit Ruhe entgegensehen. Inzwischen aber lebte sie der Überzeugung, daß sich unsere guten Taten schon in diesem Dasein belohnen, daß folglich das, was sie hatte, ihr nur zu Recht gebührte.
Auch die zwei in ihren Augen wirklich großen Glücksfälle seit der Hochzeit: die Geburt ihres Jungen im zweiten und die Schmückung Tonis mit dem Professortitel im zwölften Ehejahr, sah Trautchen keineswegs wie aus den Wolken gefallne Gnadengeschenke an, sondern als redlich verdient gleich allem andern.
Aber, daß man ihr nicht unrecht tue: so lind es ihr einging, von den Mägden, dem Kohlenmann und den Dreiquartelprivatiers der Nachbarschaft Frau Professor genannt zu werden, ihr höchster Stolz blieb es, Mutter zu sein, Mutter eines so ungewöhnlichen Kindes, wie der kleine Michel es war. So hatte man den Knaben getauft, weil Namen von dieser herausfordernden Schlichtheit zu der Zeit für das Differenzierteste galten.
Doch trotz aller Seligkeit über ihn erzog sie den Buben mit heilsamer Strenge. Der sollte einst im Leben seinen Mann stellen; und dazu gehörte es, daß man ihn zeitig herannahm. Da er das einzige Kind seiner Eltern war und blieb, lag die Gefahr der Verwöhnung ohnehin nahe. Und ihm etwa bloß aus pädagogischen Rücksichten Geschwister in die Welt setzen, nein, dafür dankte Trautchen ergebenst! Neben allem andern sträubte sich schon ihr ökonomischer Sinn dagegen. Denn fällt ein Erbteil nicht am nahrhaftesten aus, wenn es bloß durch eins dividiert wird?
Also gönnte die kluge Mutter ihrem Stammhalter sein einsames Prinzentum und traf nur durch ein festes Mundwerk und eine hier und da sehr rasche Hand ihre Vorbeugungsmaßregeln dagegen, daß der Thronfolger am Ende gar bereits mit fünfzehn, sechzehn Jahren seinen dann bestimmt noch sehr rüstigen Erzeugern über den Kopf wachse. Dieser Gefahr beizeiten Widerpart zu halten, schien Trautchen nicht ganz ohne Grund nötig.
Denn kaum konnte das Michele zur Not laufen, als auch schon sein von ihm völlig verzuckerter Vater es war, der sein verjüngtes Ebenbild mit Eifer in allerhand Lausbubenstreichen zu unterweisen begann. Was Wunder, daß so gar bald eine Art von heimlichem Bündnis zwischen dem kleinen und dem großen Bengel entstand, ein stillschweigendes Einvernehmen gegen die manchmal wirklich »gar zu fade« Frau Mutter, und daß diese nicht selten eine Bitterkeit herunterschlucken mußte, weil ihr Kind – oder hatte vielleicht er es unter Schmerzen zur Welt gebracht? –, weil also ihr Kind viel mehr als an ihr an Toni zu hängen schien, der doch, verglichen mit der Mama, dem Michele bloß ein weitläufiger Verwandter war. Um so klare Naturgesetze zu bezweifeln, muß man wirklich schon ein Mann sein!
Wie sicher nun auch alle Vernunftgründe Trautchen ihren künftigen Sieg im Herzen des Jungen verbürgten, wenn der erst mehr Einsicht besäße, vollkommen bändigen konnte sie es nicht immer, das Nagen der Eifersucht irgendwo da drunten.
Michele gegenüber äußerte sich das hier und da durch plötzliche Anfälle von zärtlicher Schwäche. »Haut schon! Heut is sie gut aufgelegt!« sprach der schlaue Knabe in dergleichen Fällen unternehmend zu seiner Seele und war bestrebt, der Gunst solcher Stunden möglichst viel abzugewinnen: sein erstes Zweirad und sonst allerhand Großes.
Häufiger und weniger wohltätig als der Sohn hatte Toni diese Gemütsblähungen einer gekränkten Mutter zu verspüren. Sie konnten eine gewisse Redseligkeit und Schärfe in ihre sonst so angenehm schläfrige abendliche Zwiesprach bringen, wenn die auf das verantwortungsreiche Feld der Erziehung abbog. Und mußte sich Trautchen hierbei vielleicht nicht ereifern, wo doch die ganze Last auf ihren Schultern lag und ihr Mann, der der Nächste dazu gewesen wäre, von allem andern ganz abgesehen, da noch die neue Mode einführen wollte, andrer Meinung zu sein als sie!
»Geh, laß das Michele gehn, Schnucksibucks! Ein Bub', der kein Lausbub' is, is überhaupt kein Bub', sondern eine alte Tunte! Erziehung, Erziehung? Wer hat denn mich erzogen, draußen am Land? No, und bin ich vielleicht net ganz recht worden?«
Also, mit Gewalt an sich halten mußte Trautchen auf so etwas, um ihm nicht gerade ins Gesicht zu sagen, wem er sein bißchen Erziehung verdanke. Und ob er sich dafür zu garantieren getraue, daß auch das Michele einmal eine Frau fände, bei der es so schön alles Versäumte nachholen könnte?
Außerdem: so gottgewollt und natürlich sie in der eignen Ehe das weibliche Regiment bedeuchte, ihren Sohn wünschte sie dereinst denn doch als den Herrn in seinem Hause zu sehen. Nach einer Schwiegertochter, die ihren traditionellen Einfluß durchkreuzen könnte, stand ihr der Sinn nicht. Kein Mensch wird bestreiten, daß Trautchens Voraussicht weit in die Zukunft ging. Aber auch in der Gegenwart ließ sie sich nicht leicht zu Unbesonnenheiten hinreißen. Sie antwortete ihrem Mann auf seine leichtfertigen Gemeinplätze keineswegs mit Schnödigkeit, sondern lenkte ihre Gereiztheit in vielleicht etwas übertriebener Schärfe auf das Michele ab, dem dies ja weiter nicht weh tat, da der Schlingel um diese Stunde schon wie ein friedliches Engerl schlummernd in seinem weißen Gitterbett lag.
»Ja aber, Vati«, begann sie, »du wirst wohl zugeben, daß es mit dem Jungen bald nicht mehr auszuhalten ist! Red auf ihn ein, soviel du willst – gerade, solang' er bei dir ist! Aus den Augen, aus dem Sinn! Zum einen Ohr herein!«
»No ja«, so unterbrach Toni diese Aneinanderreihung volkstümlicher Wendungen, »ein Bub' halt! Er vergißt drauf. Bös is das weiter net gemeint.«
»Er muß aber gehorchen lernen.«
»Schon recht, Schnucksibucks. Bloß: all der viele kleine Dreckskram, was er soll und net soll ... Schau: wenn er wirklich was angestellt hat, einmal eine solide Watschen ...«
»Ja, Vati, ja! Da wärst du der Richtige!«
»Schau, Schnußsibucks, aber so ... Von in der Früh' bis abends in einer Tour nörgeln und schimpfen!« Der starke Mann erschrak plötzlich und hob den Blick etwas scheu zu seiner Gattin.
»Das heißt also«, stieß sie mit bebender Stimme hervor, »daß ich eine böse Sieben bin?«
»Nein, wo denkst du hin! Wie käm' ich denn drauf?« stammelte er verwirrt und fingerte hastig auf dem Tische nach ihrer Hand.
Selbstverständlich kamen sie sich bald wieder nahe. Das heißt: sie blieb stehen, und er pirschte sich Schritt für Schritt heran, bis sie sich auf dem Boden gleicher Erziehungsgrundsätze fanden.
An solchen Abenden konnte es vorkommen, daß Toni sich gegen seine Gewohnheit eine ganze Weile hellwach im Bett wälzte und eines hartnäckigen Grübelns pflog, während sein Weib, das Lächeln der Siegerin um die Lippen, friedlich schlummerte und den Atem in langen, regelmäßigen Stößen von sich blies.
Ach ja, was sollte das nun für einen Zweck haben, der ewige Streit um des Kaisers Bart! Denn daß sein leiblicher Sohn durch noch so viel stramme Zucht zu einem nach Crimmitschauer Begriffen gesitteten Knaben gemacht werden könne, daran glaubte der starke Mann eben nicht, hielt es nicht einmal für erstrebenswert, wenn er auch zuweilen, bloß um seine Ruh' zu kriegen, so tat. Sollte doch Trautchen selber ihr Heil versuchen und ihn in Gottes Namen aus dem Spiel lassen! Auf eine Tracht Prügel hin schüttelte sich der Bub bloß wie ein nasser Hund, und bei Scheltworten hatte er nicht einmal das nötig, so wirkungslos glitten sie von seiner gesunden Haut ab. Der vertrug einen Puff! Und gar zu hart faßte ihn die Frau Mama schon nicht an, verliebt in das Michele, wie die war. Etwas übertrieben verliebt, durfte man wohl sagen.
Hatte er als Vater ihn denn nicht selbst gern genug, den kleinen Spitzbuben mit den durchtriebenen Augen! Aber mußte man deshalb gleich gar nichts andres mehr kennen? Toni hatte sich in den ersten Ehejahren nicht ungern daran gewöhnt, der Punkt zu sein, um den das Hauswesen sich drehte. Seit das Michele da war, fühlte er sich mit Mißbehagen gegen den Rand des Kreises ausgerutscht. Nicht, daß ihm irgend etwas entzogen wurde, worauf er ein Recht zu haben meinte, die Sache lag tiefer: Trautchen war anders zu ihm geworden, wirklich sehr anders. Das schaute sich ja bald so an, als wäre er weiter nichts als das Mittel zum Zweck gewesen.
Es handelte sich nicht nur um die Erziehungsfragen, er wurde im ganzen nicht gebührend honoriert. Es konnten ihn Zweifel anwandeln, ob er überhaupt noch der Herr wäre, so wenig wurde er gefragt. Äußerte er einmal seine Verwunderung, weil schon wieder in seinem Namen etwas geschehen war, wovon er selbst keine Ahnung hatte, dann meinte Trautchen, sie wären nun wohl lange genug verheiratet, daß sie seinen Willen auch ohne weitschweifende Beratungen kenne. Er solle froh sein, wenn sie ihn mit allem dem Krimskrams nicht erst belästige. Lange genug verheiratet, kein eben schmeichelhafter Standpunkt! Das klang ja, als wäre es schon ganz etwas Selbstverständliches und kaum ein Vorzug mehr, die Frau von einem Kerl wie ihm zu sein. Man merkt wohl: die leise Eifersucht wegen des Michele beruhte bei seinen Eltern auf Gegenseitigkeit.
Übrigens schob Toni hier doch wahrscheinlich manches seinem unschuldigen Kind in die Schuhe, was die Zeit ganz von selbst mit sich brachte. Häufige Übung einer Tätigkeit führt eben zu deren Vereinfachung. Trautchen stand vor dem göttlichen Meisterwerk, als das der Gatte betrachtet zu sein wünschte, wie ein Arbeiter, der eine verschmitzte Maschine bedient. Solange sie ihm neu ist und er noch ein staunendes Vergnügen daran hat, wie sich aus dem Rohstoff, den er an dem einen Ende hineinführt, auf dem Wege zwischen Walzen und sonstigen sinnreichen Vorrichtungen hindurch der fertige Gegenstand entwickelt, um schließlich am andern Ende ruckweise und rastlos hervorgespuckt zu werden, so lange vollführt solch ein Mann seine regelnden Griffe mit liebhaberischer Sorgfalt und elegantem Schwung. Kennt er die Geschichte erst genau, dann schaut er gleichgültig in die Luft, pfeift sich eins, kratzt sich zwischendurch den Kopf, und seine Hände schlagen sachlich und mechanisch, klipp klapp, gegen die stählernen Hebel.
Und wenn das das einzige gewesen wäre! Aber es kam eins zum andern: nicht nur, daß Trautchen die zart respektvollen Formen, mit denen sie selbst ihn verwöhnt hatte, außer acht ließ, sie kränkte sein Malerauge auch dadurch, daß sie aus der Form ging.
Mein Gott, Unmögliches zu verlangen, so bar aller Vernunft war er nicht. Hat jemand Anlage zur Korpulenz, dann darf man es ihm nicht als Verbrechen auslegen, daß er zunimmt. Bändigen aber wenigstens kann man seine Fülle, so gut es geht. Und sie zeigte ja, daß sie es konnte, wenn sie das Haus verließ, oder wenn Gäste kamen. Bloß für ihn fand sie sich schön genug in den unerfreulichen Hängern, die scheinbar notwendig zu ihrer familiären Bequemlichkeit gehörten. Meinte Trautchen denn, sobald man erst einen Mann habe, wäre es Verschwendung, noch begehrenswert zu sein, und sei erst ein Kind da, so könne man nicht schnell genug alt werden?
Er für seine Person fühlte sich noch genau so jung, wie da er von der Hochschule abging, um sich in der Kunst selbständig zu machen. Und was er sich damals erträumt hatte, durfte davon bis heute eigentlich mehr Wahrheit geworden heißen als ein winziger Bruchteil? Ja: er hatte, wie man so sagt, Glück gehabt Man kannte seinen Namen, kaufte seine Bilder, eingeheimst war so ziemlich, was es an großen goldnen Medaillen gab, er wurde Professor geschimpft; zweifellos lauter Träume der Jugend, die sich ihm erfüllt hatten. Doch jedes erreichte Ziel zeigt einem, daß es der Mühe kaum wert war, daß das Ziel, das eigentliche, weiter vorn liegt, undeutlich im blauen Nebel wie je. Weiß der Kuckuck, wo; weiß der Kuckuck, in welcher Gestalt!
»Was verlangst du denn noch, Vati?« konnte Trautchen ihn fragen, wenn er auf die Kunde von dem schönsten Verkauf bloß einen gleichgültigen Seufzer von sich gab. »Tu doch nicht so blasiert! Wenn ich an früher denke, was du da ... Gott ja, na, vielleicht bringen das die Jahre ganz von selbst mit sich.«
Also: ausgerechnet sie warf ihm seine Jahre vor! Aber er kannte diese Manier ja! Auch daß er nicht mehr so leicht begeistert war von den eignen Sachen, daß er mehr Selbstkritik besaß – gerade doch, weil er mehr konnte –, auch das bezeichnete sie gern in verblümter Form als Alterserscheinung.
Sie hatte es nötig! O nein: lag wirklich die Gefahr vor, er könnte lächerlich früh auf den absteigenden Ast geraten, dann war das nichts als eine Ansteckungsgefahr. Und die drohte ihm von ihr! Hat nicht irgendein verflucht gescheiter Schriftsteller einmal gesagt: Ein Mann ist immer so alt, wie seine Frau aussieht? Und sah Trautchen auch nur entfernt so jung aus, wie er sich fühlte?
»Vati« nannte sie ihn; sie ihn! Sie, mit ihrer blödsinnigen Neigung zum Matronenhaften, sie, die sich in dieses Dasein, wie es nun einmal war, breit hineingesetzt hatte, als sei es ein Großmutterstuhl, sie, die nichts dachte als: Wenn es so weitergeht – unberufen! Ihre Träume waren erfüllt: die Unsterblichkeit in Gestalt ihres Jungen, das irdische Wohlbehagen in Form eines ständig wachsenden Vermögens und schließlich, weil er als Vorbedingung zu beiden nicht gut zu entbehren ist, noch der Mann. Na ja, nebenbei hat es schon etwas, sagen zu können: »Mein Mann!« Es sähe ja sonst so aus, als hätte man keinen gefunden. Tief gekränkt stellte Toni manchmal bei sich fest, Trautchen sähe in ihm bloß eine Art von nützlichem und dekorativem Möbel und ließe ihn im übrigen ruhig in seiner Ecke stehen, mit dem Gefühl: Was man hat, das hat man und braucht sich darum nicht weiter groß aufzuregen. Himmlisches Donnerwetter, war sie seiner denn so sicher?
Ach ja, leider war sie das mit der Zeit geworden. Aber darauf sollte sie sich doch nicht zu fest verlassen! Das wußte er besser! Woher? Ja, eben daher ...
Es war nämlich, anfangs bloß unwillkürlich, allgemach aber ganz bewußt, ein lieber Zeitvertreib des starken Mannes geworden, hübsche, junge (und namentlich schlanke) Weiblichkeiten mit feurigen Blicken zu bombardieren. Besonders die Fahrten im Vorortzug wurden dadurch auf das erfrischendste kurzweilig gemacht.
Und siehe da: es fand sich unter diesen Evastöchtern höchst selten eine, die dem gegenüber das Marmorbild spielte. Die Art, ihm das zu zeigen, war je nach Temperament und Erziehung verschieden, aber er lernte sie schnell verstehen und sprechen, alle diese Dialekte der Koketterie. Eben die reiche Abwechslung machte es ja, daß auch ein alter Gedankensünder des Spiels nie müde wurde. Nett war das: jede anders, und doch gab jede ihm zum mindesten eine Ahnung dessen, was ihm so recht im Grund fehlte. Von einem Erlebnis die Ahnung!
Wär's denn ein Wunder, wenn einem Künstler die Arbeit schließlich überhaupt nicht mehr von der Hand ginge, der nicht befruchtet wird vom Erlebnis, der menschlich verkümmern muß in wohlgenährter Bürgerlichkeit, die am Morgen immer genau weiß: dieser Tag wird sich abrollen gleich jedem andern; eine Überraschung, die irgend der Rede wert ist, vermag er gewiß nicht zu bringen! Eine ordentliche Sehnsucht selbst nach den Gerichtsvollziehern seiner liederlichen Junggesellenzeit konnte sich Toni auf die Brust legen, ganz zu schweigen von den gutherzigen kleinen Mädeln, die einst auf flüchtigem Fuß durch seinen sonnigen Morgen getänzelt waren.
Hinter ihnen drein, so hatte er wohl geträumt – oder hatte er das irgendwo gelesen? –, hinter diesen unterhaltlichen Abenteuerchen würde eines schönen Tages das Abenteuer, das große, grundstürzende, über seine Schwelle treten, das eine, einzige, an dem man zu zehren hat bis an sein Ende.
Jawohl! Es war schon ein prophetischer Katzenjammer gewesen, der ihn damals in der zerfallnen Holzknechthütte geweckt hatte, droben am Aufacker! Bestohlen um das Beste des Daseins hatte ihn die ... na ja, die Lebenskünstlerin, die da neben ihm, taktmäßig und etwas zu geräuschvoll atmend, mollig unter molligem Federpfühl lag: seine glückliche Besitzerin. Nur recht geschehen würde es ihr, wenn er, bevor er vertrottelte vor lauter Bürgerfrieden, das Versäumte nachholte, das große Erlebnis suchte, kurz: sie betröge hinten und vorn.
Aber, das war ja das Dumme, er betrog sie nie. Alle Fähigkeiten, die er ehedem als Don Juan entwickelt hatte, schienen infolge mangelnder Übung eingerostet zu sein. Komisch, und er fühlte sich doch keineswegs älter geworden!
Ja: er! Aber hatte er es denn schriftlich, daß diese von ihm mit Blicken aus der Ferne umworbenen grünen Dinger, die ja nicht wußten, was gut ist, in ihm törichterweise doch einen bereits recht gesetzten Herrn sahen, und daß sie ihn nicht am Ende bloß aufs Glatteis lockten, um an seinem Ausrutschen eine gemütlose Gaudi zu haben?
Wo in der Welt lebt der Professor, der sich besonders gern blamierte? Der Teufel kenne sich aus mit den Weibern, und gar mit den jungen!
Ging aber nun eine der Damen so weit in dem heimlichen Ermuntern und Winken, daß Tonis Bedenken schon schwinden wollten, da schien es geradezu, als ob sich die sittliche Weltordnung selber ins Mittel lege: dann fehlten nämlich immer noch so etwa zehn Minuten bis zum Mittagessen. Und zu der Mahnung des Magens trat alsbald noch die der Vernunft: Pasing war schließlich keine Großstadt; die Lieblingsbeschäftigung der Einwohner bildete der Klatsch, und der pflegte vor Trautchens Schwelle keineswegs haltzumachen. So hemmte denn schließlich der starke Mann auch in recht aussichtsreichen Fällen, bevor er endgültig zur Attacke überging, seinen Sturmschritt, warf noch einen melancholischen Scheideblick hinter seiner befremdet von dannen wogenden Huldin her und begab sich zu den Fleischtöpfen des Familienlebens, wobei er sich mit dem immerhin schmeichelhaften Gedanken zu trösten suchte, er sei eben doch ein gar zu anständiger und guter Kerl und hätte als solcher, das wüßte er ja von jeher, ein kränkliches Gewissen. So versteht es der Mensch, aus jeder Not der Umstände eine Tugend seiner Person zu machen.
Hatte Toni in schlaflosen Stunden bis zu diesem ewigen Schlußpunkt gedacht, so wurde er seines Jammers gewöhnlich müde und gähnte herzhaft. Und gerade dann konnte Trautchen, die Frau mit dem sehr gesunden Gewissen, es sich beifallen lassen, ein höchst prosaisches Geschnarch anzuheben. Tief beleidigt schoß er hinter geschlossenen Lidern einen grimmen Blick auf die Ahnungslose ab und kroch bis über die Ohren unter die Decke. Nichts hören wollte er mehr und nichts sehen, und vor allem sich nicht länger wachhalten lassen durch zweckloses Grübeln. Er suchte eine Ablenkung auf tröstlichere Gebiete; und die lagen zum Glück nicht fern. Wozu hatte er denn die formende Malerphantasie!
Die schwingt ihren Zauberstab, und siehe: schon tanzt die hübscheste der koketten Weiblichkeiten aus der Eisenbahn vor seinem Blick herauf! Von Zweideutigkeit jetzt kein Schatten mehr in ihrem Lächeln! Siegessicher darf er ihr folgen, wie sie dahinwandelt, sich leise wiegend auf zierlich hohen Hacken, die rührend schlanken Knöchel durch spinnwebseine Strümpfe modelliert, husch husch, ihm voran in die Traumgefilde!
Nun schnarcht auch Toni, das heißt: sein verheirateter Körper, während die Seele die Reise antritt ins Land der Freiheit. Leider nur mit einem, kurzfristigen Retourbillet! Denn um sieben Uhr zetert grausam der Wecker. –
Ach ja: gibt es ein Alter zwischen zwanzig und dreißig, wo die Männer reif zur Ehe werden, so folgt diesem später eins, wo sie reif werden zum Seitensprung, und damit, stark, wie dieses Geschlecht nun einmal ist, vielleicht schon zur zweiten Ehe.
Gleich einem zeitigen Apfel am Ast, wartet so einer dann nur, daß man ihn herabschüttle. An Liebhaberinnen des Schüttelns wird's schwerlich fehlen. Bloß können sie selten nahe genug heran. Der Zaun um einen richtigen Familiengarten ist hoch. Und darum ist auch die Treue kein leerer Wahn. Hängt einer erst, was öfter vorkommen soll, bis dreiviertelwegs zur Silberhochzeit an seinem Bäumchen, dann schüttelt ihn nur noch eine Mannsfaust herunter, eine hagere, bleiche, wohl einer Frau in den Schoß, doch keiner jungen; einer sehr alten: der Erde, von der wir kommen, zu der wir gehen.
Spät, aber sicher, sei so verheiratet, wie du magst, blüht dir doch noch die Scheidung. Und bis dahin? Mein Gott: Gewohnheit ist das halbe Leben und frißt dir schließlich das ganze.