Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreiundzwanzigstes Kapitel. Die Siegerin

Auf dem Wege vom Hotel zum Starnberger Bahnhof sah Toni am nächsten Morgen im Fenster einer Blumenhandlung einen Grabkranz, der ihm ins Auge stach: ein schlichtes, glattes Rund, gebildet ganz aus leuchtend blauen Enzianblüten. Daran hätte der Bub sicher Freude gehabt. Toni trat in den Laden und erstand den Kranz. Wie er dann, ihn am Arme tragend, weiterging, fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf, es möchte wohl auch Trautchen eine milde Rührung darüber empfinden, daß er so an das Michele dachte. Vielleicht würde gerade dies es sein, was ihm wieder den ersten Riegel ihres Herzens öffnete. Das Beste dazu mußte freilich sein Brief an Annastina tun, den er unverschlossen in der Brusttasche trug. Entsprang es dem Bewußtsein, daß er das Gute wollte, oder half dazu die strahlende Pracht des Sommermorgens mit: er war sehr hoffnungsfroh. Aber je näher er seinem Ziele kam, desto unsicherer fühlte er sich wieder. Er hatte wirklich immer, hierin gab er Trautchen recht, eine Scheu davor gehabt, mit ihr über ernste Dinge ernsthaft zu verhandeln. Er war das nicht gewohnt, es lag ihm nicht. Die Unterredung gestern ließ sich damit ja nicht vergleichen. Und auch da hatte er kaum etwas gesagt. Heute aber mußte er sprechen. Wenn er nur die ersten einleitenden Sätze hinter sich hätte! Das Weitere ergab sich dann wohl von selbst.

Leni, das Zimmermädchen, ein langjähriges Inventarstück des Hauses, öffnete ihm auf sein Klingeln.

»Ah, der gnä Herr!« sagte sie. »Is der scheen, der Kranz! G'hört der fürs Michele?«

Er nickte und erkundigte sich, wo Trautchen wäre.

»Noch droben«, antwortete sie. »Grad' vorhin erscht hat die gnädig' Frau nach warm Wasser g'schellt. Sie hat so schlecht g'schlafen heut' nacht. Dös Hundsvieh von Verwalters hat wieder bis in der Früh ka Ruh' net geben.«

»Also ...« Er stockte. Es war doch lächerlich, wenn er sich bei Trautchen feierlich melden liest. Dann schloß er: »Sagen S' es meiner Frau, ich wär' da!«

Sie schaute ihn verwundert an und machte sich auf den Weg nach dem ersten Stock. Als sie zurückkam, zeigte ihm ihre Miene deutlich, daß sie ahnte, was hier im Gange war. Beinah ein Schein von Mitleid und unverhohlenes Bedauern stand in ihren Augen. Leni hatte für den Herrn des Hauses sehr viel mehr übrig als für die gestrenge Herrin.

»Die gnädig' Frau laßt sagen«, so richtete sie ihre Botschaft aus, »daß s' noch net angezogen is; und Kopfweh, sagt s', hat s' auch. Aber die Fräul'n Mina kommt glei runter«.

Dies war Toni eine höchst verdrießliche Kunde. Er schwankte, was er tun solle, und ob er nicht am klügsten wieder ginge. Da aber knarrte bereits die Stiege unter festen Schritten, aus deren langsamem Rhythmus ihm schon so etwas wie ein Vorwurf herauszuklingen schien. Er hatte diese Schwägerin nie leiden mögen, vor allem auch wegen ihrer ihm höchst fatalen Familienähnlichkeit mit Trautchen nicht, an die sie für sein Gefühl auf dieselbe unästhetische Art erinnerte, wie der Affe im Zoologischen Garten dem Menschen gleichsieht. Tonis trübe Erwartungen betrogen ihn nicht. Minna Grunelius gab schon durch die ausdrucksvolle Ausdruckslosigkeit, die ihr bleichfettes Mopsgesicht zur Schau trug, zu verstehen, daß sie ihn für eine Art Verbrecher hielt. Ohne ihn einer Begrüßung zu würdigen, trat sie vor ihn hin, reichte ihm einen zusammengefalteten Briefbogen, sagte kurz und schroff: »Von Trautchen«, und stieg sofort wieder die Treppe hinauf. Er öffnete den Bogen und las die in flüchtigen Buchstaben hingeworfenen Zeilen:

Toni, quäl mich nicht und quäl Dich nicht! Es muß dabei bleiben, was ich Dir gestern sagte. Ich will und werde meine Meinung niemals ändern.

Trautchen.

Er machte ein niedergeschlagenes Gesicht. Ein lauter Seufzer entschlüpfte ihm. Aber er fühlte die Augen der Magd gespannt auf sich ruhen. So tat er sich Zwang an und begann möglichst leichthin und unbefangen:

»Ja, nachher ist's gescheiter, ich geh' jetzt erst und trag' dem Michele den Kranz hin und schau' dann später noch einmal ... Sie, Leni, richten S' meiner Frau aus, daß ich zum Friedhof bin wegen dem Kranz. Vielleicht, daß sie mir doch noch nachkommt. Gel'n S', Leni, und die andre braucht es fei net zu wissen.«

»Is recht, gnä Herr, ich richt's scho aus.« Leni zwinkerte verständnisinnig, als wolle sie ihm zusichern, daß es an ihren Bemühungen, die Sache wieder ins Lot zu bringen, gewiß nicht fehlen würde. Das etwas plump vertrauliche Gehaben des Mädchens führte Toni mit einem Schlag die ganze Schiefheit seiner Lage zu Bewußtsein. Er spürte eine Art von Scham und entfernte sich schnell.

Der gute Mut, mit dem er heute früh erwacht war, hatte getrogen. Er suchte sich an die Hoffnung zu klammern, daß Trautchen durch Lenis Botschaft bewegt werden möchte, ihm auf den Friedhof zu folgen. Dort wäre wohl der rechte Ort, sich über alles auszusprechen. Das Grab des Michele war es doch, was sie am tiefsten miteinander verband. Er konnte freilich die Zweifel immer nur für Augenblicke wegtreiben. Das: Niemals, das Trautchen in ihren Briefchen ausgesprochen hatte, machte es sehr unwahrscheinlich, daß sie schon in einer halben oder auch einer ganzen Stunde anderen Sinnes sein könnte. Und noch einmal den Versuch zu wagen, daheim bis zu ihr vorzudringen, erschien ihm als eine sehr peinliche Aufgabe. Da war die Magd, da war vor allem seine Schwägerin, die ohne Zweifel bei der Schwester so eifrig gegen ihn hetzte, wie es überhaupt nur in ihrer Kraft stand. Und ihre Kraft nach dieser Richtung durfte man keineswegs unterschätzen. Deshalb erschien es auch ganz aussichtslos, Trautchen sein Schreiben an Annastina mit ein paar begleitenden Zeilen zuzusenden. Der Brief allein tat es ja nicht. Es mußte, während sie vom Lesen noch warm war, sofort eine Überrumpelung ihres Gefühls vorgenommen werden. Endlich erkannte Toni es als das einzige Mittel, nicht vom Pippinger Friedhof oder aus dessen nächster Umgebung zu weichen, bevor Trautchen käme, und müßte er bis zum Abend darauf warten. Im Lauf des Tages würde sie das Grab bestimmt besuchen. Dieser Entschluß stärkte seinen Mut von neuem; er machte seinen Rücken straff und schritt kräftiger zu.

 

Toni trat gleichsam zaghaft vor Micheles Grab hin, das ganz allein für sich im hintersten Winkel des kleinen Gottesackers an der Mauer lag, beschattet von dem saftigen Grün eines großen Holunderstrauches, der in dem angrenzenden Bauerngarten wuchs und seine ausladenden Zweige herabschickte. Der flüchtig aufgeschüttelte, noch ungeformte Hügel aus magerem, moränenschuttdurchsetztem Erdreich bot das trübselige Bild dar, wie es ein frisches Grab in den ersten Tagen zu zeigen pflegt. Die Sommerhitze hatte die Kränze schon zu einem mißfarbenen Haufen Heu und Unrat gemacht. Die neugebliebenen blanken Atlasschleifen mit den blitzenden Goldbuchstaben stachen unangenehm dagegen ab. Auch Tonis frischer Kranz wirkte hier mit seiner Leuchtkraft viel zu grell und schreiend.

Toni sagte sich betrübt, daß dieser Augenblick seine Erwartungen enttäuschte. Micheles Grab sprach ihm nicht zum Herzen und zur Seele, sprach ihm nicht von der Größe des Todes, sondern nur von seiner trostlosen Häßlichkeit. Kein matter Abglanz der weichen Hingerissenheit wurde wach in ihm, die er heute nacht dort auf den Stufen vor dem Gitterpförtchen so tief und klar empfunden hatte.

Er starrte eine Weile gerade vor sich hin ins Leere. Und nun begann die Vormittagstille, die über der Welt lag, Gewalt zu bekommen. Sie wurde von keinem Menschenlaut gestört; die Leute waren wohl alle auf den Feldern. Ein leises Vogelzwitschern irgendwo, das dumpfe Brüllen einer Kuh, das Gackern einer Henne in den benachbarten Bauernhöfen machten die Ruhe nur sinnfälliger. Innere Stimmen fingen an zu sprechen. Alles versank, was Hoffnung oder Sorge, Angst und Zweifel war. Toni war mit dem Michele allein und hatte das unverbrüchliche Empfinden seiner Nähe. Er wendete keinen Gedanken an die Frage, ob es ein Fortleben nach dem Tode gäbe, er betete auch nicht. Oder war dies doch ein Beten? Es steht geschrieben, daß von unserm Gebet die andern nichts wissen sollen; vielleicht kann man auch beten, ohne daß man selbst es weiß.

Jetzt ging es Toni auf, was er am Michele verlor, und er erkannte in diesem Verlust die Strafe dafür, daß er Weib und Kind im Stich gelassen hatte um des eigenen Glückes willen, eines Glückes, das seinen Jahren nicht mehr zustand. Demütige Reue wurde stark in ihm; aber er wollte sich diesem Gefühl nicht wehleidig hingeben, sondern es fruchtbar wirken lassen in sich. Nicht mehr das eigene Behagen durfte künftig sein Leitstern sein; sühnen wollte er seine Schuld, nachholen die durch Jahre versäumte einfache Menschenpflicht: gütig zu sein und treu dem Schicksal, das ihm in jungen Tagen einst doch niemand andres geschmiedet hatte als er selbst. Ihm wurden die Augen naß; er war ein Mann und konnte nicht in Strömen weinen, aber die wenigen Tränen brachten dem inneren Drucke Lösung. Ruhe zog in ihm ein. Er wollte nicht mehr grübeln, nicht ängstlich nach dem Wege suchen, den er zu gehen hätte. Der gute Wille findet schon den besten Weg. Er gab sich fromm dem Leben in die Hand.

Plötzlich warf er das Kinn empor und horchte. Als solle das ihm Antwort geben auf seine Gedanken, hatte das Friedhofpförtchen schrill in seinen Angeln gekreischt. Kam Trautchen also doch? Ja, er täuschte sich nicht: es war der leichte, rasche Tritt einer Frau. Aber was war das? Er hatte einen Augenblick gemeint, ein ihm sehr wohlbekanntes feines, gleichsam heimliches Seidenrauschen zu vernehmen. Das war ja ganz unmöglich! Dennoch stockte ihm der Atem, sein Herz klopfte laut. Er knüllte sein Sacktuch zusammen und schob es in die Tasche. Sehr linkisch war seine Haltung, da er so stand und wartete.

»Annastina!« schrie er dann auf, eine seltsame Mischung von Freude und Erschrecken im Gesicht. Die schöne Frau, die ein schlicht dunkles, aber durch nichts an Trauer erinnerndes Kleid trug, ging auf ihn zu und reichte ihm beide Hände zu langem, festem Druck.

»Da bin ich!« sagte sie einfach. »Ich wußte, daß du Trost brauchst.«

»Ja, danke«, stammelte er, entgeistert und doch hingerissen von ihrer Gegenwart. »Bloß ... Wie kommst du her?«

»Toni, als ich deinen Brief las, wußte ich, was ich zu tun hatte. Nur ging vor dem Abend kein Zug mehr. Heut' früh erst bin ich in München angekommen.«

»Nein aber, Annastina, daß du hier ...? Wie konntest du denn wissen, daß ...?«

»Ich suchte dich in deinem Haus«, erklärte sie. »Das Mädchen sagte mir ...«

»Du warst bei mir daheim? Und hast du ...?« Er vollendete die Frage nicht, aber sie entgegnete:

»Nein, ich hab' niemand als das Mädchen gesehen«.

»Ja«, murmelte er hilflos und suchte seine Gedanken zu sammeln.

»Wie du verstört bist!« sagte sie mitleidig. »Was mußt du Armer durchgemacht haben in diesen Tagen!«

»Ach ja!« seufzte er und schickte einen traurigen Blick zu Micheles Grabhügel hinunter.

»Liegt da dein Sohn?« fragte sie mit sanfter Stimme. »Ist dieser Kranz von dir? Ich will ihm auch einen bringen. Ich teile deine Trauer. Sprich dich doch aus, Toni! Mach kein so trostloses Gesicht! Ich kann mir denken: deine Frau, sie hat dir furchtbar zugesetzt.«

»Nein, nein«, versicherte er hastig. »Sie ... Du mußt doch auch bedenken, wieviel für sie zusammenkam!«

»Das weiß ich doch«, gab sie zur Antwort. »Bin ich nicht selbst eine Mutter? Freilich, wenn ich mir vorstelle, es sollte mir eins meiner Kinder gestorben sein, ich glaub', es könnte kein andrer Schmerz der Erde mehr an mich heran, alle Güter des Lebens wären mir gleichgültig.«

»Annastina, du weißt nicht, wie nah der Tod des Buben ihr gegangen ist!«

»Nahgehen!« warf sie gleichsam müde hin. »Schon daß du dieses Wort wählst ...!«

»Nein, ich drücke mich falsch aus, Annastina. Ich kann es net so sagen. Und du meinst vielleicht ... Aber das ist wirklich net der Fall. Im Gegenteil, sie will nix mehr von mir wissen.«

Ein Leuchten des Triumphes glitt flüchtig über ihr Gesicht. Dann aber musterte sie ihn scharf aus dem Augenwinkel und machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Hält sie dich nicht gerade dadurch um so sicherer?« fragte sie. Er rief lebhaft:

»Und wenn ich dir doch sage, daß du dich täuschst!« Dabei kam er sich mit seiner lauen Verteidigung Trautchens recht kläglich vor. Er glaubte den vorwurfsvoll staunenden Blick Micheles auf sich gerichtet zu fühlen.

»Toni«, begann sie wieder, »warum kannst du mir nicht richtig und offen in die Augen sehn?«

»Nicht sie, nicht sie!« entgegnete er nervös und gleichsam ungeduldig. »Glaubst du, ich hab' nix durchgemacht? Innerlich ... Wie soll ich es dir sagen? Es ist so ... Ich hab' es dir geschrieben. Da!« Er hatte plötzlich seinen Brief aus der Tasche gezogen und hielt ihn ihr hin.

Sie nahm ihn zögernd, las die Adresse, erbleichte und biß sich auf die Lippen. Schnell aber raffte sie sich zusammen, holte die Blätter hervor, entfaltete sie und vertiefte sich in den Inhalt. Er beobachtete ängstlich ihr häufig wechselndes Mienenspiel. Da sie zum Schluß gekommen war, ruhte ihr Blick noch eine Weile auf seiner Unterschrift. Die Gedanken arbeiteten heftig in ihr. Sie hatte die andre zu niedrig eingeschätzt; die war viel klüger, als sie nach dem Bisherigen vermutet hätte. Vor allem kannte sie ihren Mann genau und wußte ihn zu nehmen. Aber sie sollte sich täuschen! Annastina fühlte sich dieser Spekulantin gewachsen. So sehr ihr deren Waffen widerstrebten, zur Verfügung standen sie auch ihr. Und wenn sie sie ergriff, so wollte sie mit ihnen siegen. Die Feindin hatte ihr ja selbst den Weg gezeigt. Sie streckte also Toni die Hand entgegen und sagte schlicht und warm:

»Ich danke dir für diesen Brief. Jetzt erst hab' ich dich ganz verstanden. Und ach, jetzt weiß ich, was du mir geworden wärst. Aber es kann nicht sein. Deinem Gewissen mußt du folgen. Tu es und denk nicht an mich! Du bist frei. Was auch geschehen ist, du brauchst dich zu nichts verpflichtet fühlen. Und ich werde unsere kurzen Glückesstunden auf Ursholm nie bereuen, komme, was kommen mag! Ich hab' ja nie gewußt, daß man auf Erden so glücklich sein kann. Toni, leb wohl! Laß es uns kurz machen! Denn sonst ... Ein Schluchzen erstickte ihre Worte. Sie war schneeweiß im Gesicht. Das aufrichtigste Gefühl hielt sie gepackt. Die schönen Empfindungen, denen sie Worte lieh, rissen sie fort in einen Taumel. Die Tränen, die jetzt unaufhaltsam ihre Wangen herunterstürzten, entsprangen echter Rührung über den eigenen Edelmut. Sie wendete sich schnell ab und wollte gehen. Aber er ließ ihre Hand nicht los, faßte mit der anderen Hand ihren Oberarm und zog sie leicht an sich.

»Annastina!« flüsterte er erregt. »Net so! Bleib noch ein bissel! Ich weiß net, wie das werden soll, wenn du jetzt gehst. Ich halt' es ja net aus!«

Doch sie entwand sich ihm sanft und zwang ihr Weinen nieder. Dann trat sie einen Schritt zurück und sah ihn mit bannend ernsten Augen an.

»Toni«, bat sie, »laß mich! Machen wir uns das Herz nicht schwer! Wenn es noch lange dauert, haben wir beide nicht mehr die Kraft!«

»Ich hab' die Kraft schon jetzt nimmer!« brach es aus ihm hervor. Und dabei warf er einen scheuen, erschrockenen Seitenblick nach Micheles Grab. Keine Fiber zuckte in ihrem Gesicht, es blieb so marmorn wie zuvor.

»Und doch muß es sein«, sagte sie. »Das hat mich dein Brief gelehrt. Glaub mir: ich fühle auch mit deiner Frau! Wir sind doch alle, so herrlich wir uns dünken mögen, arme Menschenwesen. Und sie und ich sind Schwestern, und jede trägt ihr Frauenleid. Wenn mir die Bürde ein bißchen schwerer zugemessen wird – nimmt dich das wunder, Toni? Diese Welt ist einmal so eingerichtet, daß die feiner und edler Organisierten mehr leiden müssen als die andern. Ich darf nicht darüber klagen und wäre auch zu stolz dazu.«

»Annastina, wenn ich nur hätte ahnen können, daß es dir so nahgeht!«

»Und daran konntest du zweifeln?!« Sie warf fast feindselig ihr Kinn empor. »Nach allem, was geschehen ist! Sag mir: wofür hast du mich denn gehalten?«

»Nein, um Gottes willen!« wehrte er kleinlaut ab. »Ich weiß! Ich meinte nur: du bist die jüngere! Vor dir liegt noch das ganze Leben. Du findest später wohl ein anderes Glück, mit einem Besseren als ich.«

»Wie wenig du mich kennst!« erwiderte sie bitter. »Gut, denk nur so von mir, wenn dich das tröstet! Auf mich kommt's ja nicht an. Nein, lügen will ich nicht in dieser Stunde. Glück wird dies Dasein mir nie wieder bringen! Aber wo steht es denn geschrieben, daß wir auf dieser Erde sind, um glücklich zu sein? Mein Leben ist verpfuscht von Anbeginn. Einen Augenblick hab' ich geträumt, es könnte nun doch noch ... Der Traum ist aus. Nein, Toni, ich nicht! Wer weiß, ob nicht die andre, ob nicht deine Frau sich viel eher getröstet hätte! Oh, mißversteh mich nicht: das soll kein Vorwurf sein. Im Gegenteil: die Leute sind wohl die stärkeren, die lebenstüchtigeren. Wie oft hab' ich mir schon gewünscht, ich könnte wie die andern sein! Adel, ich spreche hier vom innern Adel, verpflichtet nicht nur, er macht auch arm an Freuden, er gibt einem so eine feine Haut, daß man den Schmerz zehnfach empfindet.« Sie verstummte und drückte wieder ihr Tuch an die Augen. Auch Toni war ergriffen und wie betäubt. Seine Gedanken jagten in blindem Kreislauf dahin. Plötzlich fanden sie einen Durchschlupf ins Freie.

»Annastina«, rief er, »nun seh' ich, was meine Pflicht ist. Der von euch beiden muß ich gehören, die mich nötiger braucht. Ich glaubte, Trautchen wär' es; jetzt weiß ich, daß du es bist.«

»Nein, Toni! Du sollst nicht aus Pflichtgefühl ... Dein Mitleid beleidigt mich.«

»Mitleid, sagst du? Fühlst du denn net, daß ich dich liebe?«

»Frag dich doch selber, Toni, ob du mich wirklich so liebst, wie ich glaubte! Hättest du dann ...? Nein, wozu noch davon sprechen! Toni, ich will dein Opfer nicht. Bring du dein Opfer da, wo es von dir verlangt wird!«

»Es wird ja net verlangt!« erwiderte er fast hitzig. »Trautchen hat mich noch heut, wie ich zu ihr wollte, mit ein paar schnöden Zeilen abgespeist. Da, lies!«

Sie nahm den Bogen und überflog die wenigen Worte. Mit einem Seufzer reichte sie ihn ihm zurück.

»Ach, Toni, diesen Brief hättest du mir nicht zeigen sollen!« sagte sie betrübt und schlug die Augen kindlich zu ihm auf. »Nun war ich mir meines Weges so gewiß! Ich hatte mich schon abgefunden!«

»Und nun?« fiel er ihr atemlos ins Wort.

»Toni, daß sie so schreibt! Kannst du denn diese outrierte Schroffheit für ganz ehrlich halten? Wenn ich alles so genau wüßte, wie daß sie dich wieder in Gnaden aufnimmt! Bitten und betteln sollst du nur vorher, damit sie dich dann um so fester hält. Gerade aus deinem Besten, aus dem, was ich an dir liebe, schmiedet sie ihre Waffen gegen dich. Aber um Gottes willen, ich will ihr nicht unrecht tun! Du kennst sie ja seit vierzehn Jahren. Und glaubst du, daß ich mich täusche, dann ...« Sie brach ab und schaute ihm ängstlich fragend ins Gesicht.

»Nein, es mag schon etwas dran sein«, antwortete er zögernd. Sie hob den Kopf und stand sehr aufrecht da, wie eine, deren Entschluß gefaßt ist.

»Nun, Toni, wenn du selber das Gefühl hast, dann bringe ich's nicht übers Herz; dann wär' es Feigheit von uns und falsche Sentimentalität; dann dürfen wir's nicht nur, dann müssen wir's!«

»Du willst?!« stammelte er in freudigem Erschrecken. Aber seine Füße waren wie festgewurzelt an der Erde. In ihrem Blick erblühte plötzlich ein schelmisches, ganz leise kokettes Lächeln.

»Oder hat sich's der Herr und Meister schon wieder anders überlegt?« fragte sie.

»Du!« keuchte er hingerissen und schlang die Arme um sie. Seine Lippen suchten und fanden ihren Mund. Aber es wurde nur ein scheuer, flüchtiger Kuß. Ihn hatte mittendrin die Scham und ein Erschrecken gepackt, als ob das hier vor dem frischen Grab wie ein Verrat am Michele wäre. Eine scharfe Falte stellte sich zwischen ihre Brauen, die grünen Augen schauten enttäuscht und böse drein.

»Was hast du, Toni? Wenn du glaubst, daß du es bereuen könntest, dann trennen wir uns lieber gleich!«

»Nein doch!« murmelte er verwirrt.

»Toni, bedenk das eine«, fuhr sie sanfter fort, »nehmen wir ihr denn etwas, was sie jemals wirklich besessen hat? Und wir? Geht es hier nicht um mehr als uns: um deine Kunst?«

»Still!« zischte er sie unvermittelt beinah wütend an. Sie prallte befremdet und tief verletzt zurück. Zornige Worte schwebten ihr auf der Zunge. Dann aber horchte sie wie er, bleich und angehaltenen Atems. Das Gitterpförtchen hatte in seinen Angeln gekreischt. Nun näherte sich langsam ein müder Schritt. Die beiden starrten wie gebannt auf das Eck der Kirche, wo der Ankömmling sichtbar werden mußte. Ein befreites Aufatmen, halb wie ein Lachen, entrang sich ihnen: es war nur ein altes, verhutzeltes Bauernweiblein.

»Toni«, flüsterte Annastina hastig, »hast du geglaubt, es könnte deine Frau sein? Wär' das möglich?«

»Sie weiß es, daß ich hier bin«, gab er im gleichen Ton zurück. »Das Mädchen hat ihr sicher auch von dir gesagt. Nach der Beschreibung kann sie leicht ...«

»Dann bleib' ich keine Minute länger hier. Komm schnell!« Sie faßte seine Hand und zog ihn mit sich fort. Es war wie eine Flucht, er hatte nicht mehr Zeit, einen Scheideblick auf Micheles Grab zu werfen.

»Dorthin?« fragte sie besorgt, als sie die ausgetretenen Steinstufen hinabgestiegen waren, und deutete südwärts gegen Pasing hin. »Geht es nicht, daß wir irgendwie anders ...? Ich möchte ihr um keinen Preis begegnen. Ich kenn' ja ihre Hemmungslosigkeit.«

Er überlegte kurz und wies dann der Landstraße entlang gen Norden und dann im Viertelkreis gen Osten.

»Man kann auch so herum nach München. Und besser wär' es. Wenn es dir net zuviel is, eine gute Stund' zu laufen bis zur nächsten Tram?«

Sie schüttelte den Kopf und schritt schon rüstig aus. Toni ging mit einem Schritt Abstand neben ihr. Sie schwiegen beide. Er schaute starr vor sich hin zu Boden und wunderte sich, wie glatt das Leben den Knäuel von Schwierigkeiten abgewickelt hatte, der ihm unentwirrbar erschienen war. Erhob jedoch sein Liebesglück ungestüm das Haupt, so richtete sich sein Gewissen dagegen empor und fragte grämlich mahnend, warum er dann zuerst einen ganz anderen Weg für den richtigen gehalten hätte. Annastina musterte ihn verstohlen von der Seite. In ihren Augen stand kluges Überlegen und eine starke Sicherheit.

Eine Biegung der Straße führte sie um das alte Schloß Blutenburg herum. Vor jedem unberufenen Blick, der sie hätte verfolgen können, waren sie nun geschützt. Da huschte die schöne Frau zu Toni hinüber, hängte sich in seinen Arm und begann ihm zart und mitfühlend zuzusprechen. Trautchens tat sie mit keiner Silbe mehr Erwähnung. Liebreiche Worte aber fand sie für seine Trauer um das Michele, die sie verstand und heilig hielt und ganz gewiß nicht stören wollte. Nur eines könne sie nicht mit ansehn: daß er sich so ungerechte selbstquälerische Vorwürfe mache, wo ihn doch kein Schatten einer wirklichen Schuld treffe. Lief auch ihr Trösten im innersten Kern bloß auf die landläufige Wahrheit hinaus, gegen den Tod sei nun einmal kein Kraust gewachsen: sie wußte so schön zu reden und alles, was sie sagte, in das magisch verklärende Licht ihrer großen, vom Vater her ererbten Weltanschauung zu rücken, daß ihre Worte Wirkung und Gewalt gewannen.

Tonis Bedenken schmolzen dahin. Der schwere Druck ließ nach. Mit behutsam zielbewußten Händen tötete Annastina seine Reue. Reue ist nichts, was ewig leben soll. Doch wenn sie zu ihrer Stunde eines natürlichen Todes stirbt, hat sie ihr Werk getan und ihre Frucht gebracht. Wird sie vorzeitig erstickt, so war sie umsonst: ein Samenkorn, das in die Dornen fiel.

Helleren Auges schon sah der starke Mann in den sonnigen Tag. Und Annastina, die sich jetzt enger au ihn schmiegte, lenkte seine Gedanken mit weichem Zügel fort von der Vergangenheit, munter hinaus in die kommende Zeit. Glück, Glanz, Ruhm, Ehre wurden ihm verheißen und übten ihren Zauber. Vor seinem Blick lief schnurgerade und bequem die breite Straße, an deren Ziel die offne Pforte zur Unsterblichkeit in goldnem Schimmer stand.

Er hatte es nicht vergessen, aber es war ihm kein Erlebnis mehr, daß sein bestes Stück Unsterblichkeit tot unter einem frischen Erdhügel lag, zu Füßen jenes gotischen Kirchleins, dessen spitziger Turmhelm, weit dahinten schon, eben noch über die sanften Geländewellen lugte. Toni sah nicht zurück. Er preßte Annastinas Arm in einer heißen Wallung von Freude stürmisch gegen seine Brust und ging weiter, über Neu-Lustheim und Nymphenburg. Er spürte nichts von der geheimen Ironie, mit der das Schicksal ihm gerade Orte solchen Namens an den Weg ins neue Leben stellte.


 << zurück weiter >>