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Zwölftes Kapitel.
Bei Pfarrer Sträubelein


Es war eine Stunde nach Mitternacht. Aus einer Erdspalte, die, durch Dorngestrüpp verdeckt, sich am sogenannten Judenrain, dem nördlichen steilen Abhange des Klosterberges aus dem Innern des Berges öffnete, tauchten die Köpfe zweier Männer empor, und der Schein eines Lichtes fiel heraus.

»Alles stille,« flüsterte eine Stimme, »es werd schon gehn. Kriechen Se uf der Ähre Erde., dörch de Dornen fort, unnen sin Se glich an der Werre. Schwimmen Se na dem Werdchen – Se kunn doch geschwimmen?«

»Ja, Vater Börner,« flüsterte es zurück, »das kann ich.«

»Nu gütt, ich lüchte Se so lange mit der Laterne, bis Se unnen sin. Vom Werdchen – na, Se wissen jo, do müssen Se noch emol ins Wasser. Un was ich Se noch gefrögen wull, Se wissen doch na Schwebede hen Beschied?«

Friedrich bejahte. »Lebt wohl, Vater Börner!« Er reichte dem Türmer die Hand. »Habt Dank, herzlichen Dank für alles! Mutter, Schwester und ich werden es Euch unser Lebtag gedenken, was Ihr an mir getan.« Er wandte sich ab und kroch auf Händen und Füßen ins Freie. Der Schimmer der Laterne glitt über den Abhang; glücklich erreichte der Flüchtling, durch das Gestrüpp sich hindurchzwängend, den Fluß. Schnell warf er Rock, Schuhe und Strümpfe ab, schob die Sachen in sein Ränzel, befestigte letzteres wie einen Tornister auf der Schulter und glitt in den Strom. Ein geübter Schwimmer, kam er glücklich durch die beiden Arme des Stromes ans andere Ufer. Er schüttelte das Wasser aus seinen Kleidern, zog die abgelegten Sachen wieder an und schlug, so schnell ihn seine Füße trugen, die Richtung nach Schwebda ein.

Die Nacht war finster, der Himmel von Wolken verdeckt, aus denen von Zeit zu Zeit ein Regenschauer niederrauschte. Nur hie und da lugte verstohlen wie ein schüchternes Mädchenauge ein Sternlein aus dem Gewölk, dessen Widerschein in den gurgelnden Wassern glänzte. Das spärliche Licht genügte dem einsamen Wanderer, daß er, auf dem holprigen Feldwege am Ufer hinschreitend, nicht Pfad und Richtung verlor.

Eine dunkle Häusermasse tauchte vor ihm auf; es war Schwebda. Glücklich fand er sich, den Kirchturm als Führer benutzend, nach dem Pfarrhofe zurecht. Hinter einem Fenster schimmerte Licht. Er klinkte die Hofpforte auf – sie war unverschlossen – und betrat das Gehöft. Seine Schritte knirschten im Sande. Plötzlich ward das Fenster geöffnet und eine gedämpfte stimme fragte: »Wer da?«

»Die Rose Symbol des Tugendbundes, der, von dem preußischen Justizassessor von Bardeleben u. a. gegründet, auch im Königreiche Westfalen zahlreiche Anhänger hatte. blüht,« rief der Flüchtling leise hinauf. »Kennt der Herr Pfarrer das Zeichen?«

»Es ist gut, ich komme,« schallte es von oben zurück.

Das Licht verschwand, Tritte näherten sich auf dem Flur und die Haustür öffnete sich. Der Flüchtling schlüpfte hinein und reichte dem Pfarrer mit leisem Gruße die Hand.

»Willkommen, mein teurer Herr Professor,« erwiderte dieser den Gruß. »So wären Sie denn glücklich da – ich habe Sie schon eine Weile erwartet. Sie haben mein Schreiben bekommen, ja?«

Der Flüchtling bejahte.

»Schön. Nun ja, sonst wären Sie eben nicht hier. Aber Glück haben Sie gehabt, Herr Professor, das muß ich sagen! Merkwürdige Dinge, die mir da mein Junge erzählt hat.«

»Ja ja, der Junge, der Rudolf,« fuhr der Sprechende in einer Anwandlung väterlichen Stolzes fort. »Ich hatte ihn mit dem Zettel nach Niederhone geschickt; da er Sie dort nicht fand, hat er sich sofort nach Eschwege aufgemacht und die Gelegenheit abgepaßt.«

Er hielt die Lampe hoch und leuchtete dem Angekommenen ins Gesicht. »Aber mein Gott,« rief er erschrocken, »wie sehen Sie aus – von oben bis unten naß wie ein begossener Pudel. Schnell hinauf, damit Sie zunächst Ihre Kleider wechseln.«

Er verschloß die Tür und geleitete den Gast in seine Stube.

»Der Kleiderwechsel,« bemerkte dieser, »wird kaum angängig sein, Herr Pfarrer, da ich noch in dieser Nacht weiter muß und eine Änderung des Wetters kaum zu erwarten steht. Haben Sie aber eine Tasse Warmbier oder dergleichen, die würde ich annehmen mit allem Dank. Zunächst aber, lieber Herr Pfarrer,« er drückte dem Geistlichen von neuem die Hand – »gestatten Sie, Ihnen meinen tiefgefühlten Dank auszusprechen für die Güte und Freundlichkeit, mit der Sie sich des heimatlosen Flüchtlings angenommen haben. Lohn' es Ihnen der allmächtige Gott!«

»Ach, gehen Sie doch,« versetzte Sträubelein schmunzelnd, »was ist da groß zu danken? In solchen Zeiten hilft eben ein Patriot dem andern, so gut er vermag. Für einen erwärmenden Trunk ist übrigens schon gesorgt. Und die Kleider – ich rate Ihnen, wechseln Sie sie Ihrer Sicherheit halber lieber doch. Das Handwerkskleid hat seine Dienste getan: jetzt muß es ein anderes tun.«

Sprachs und eilte hinweg. Ein Bündel Kleider auf dem Arme trat er gleich darauf wieder ein.

»So,« rief er gutgelaunt und warf die Sachen auf einen Stuhl, »nun schnell umgekleidet, Herr Professor; in der Zeit besorge ich uns das Getränk.«

Er verschwand von neuem.

Verwundert betrachtete der Flüchtling die Kleider. Es war ein Anzug, wie ihn etwa Pächter oder Gutsbesitzer auf Reisen tragen mochten: ein langer brauner Gehrock mit breitem Kragen und zurückgeklappten Schößen, eine langschößige altfränkische Weste, samtene Kniehosen und hohe gelbbraune Gamaschen; auch eine Pelzmütze war dabei, wie ein Dreispitz gestaltet. Der Professor probierte den Anzug und siehe, er paßte zu seiner Figur ganz vortrefflich. Ohne längeres Zaudern wechselte er die Kleider.

Er war eben fertig damit, als der Pfarrer, ein Tablet in den Händen, das außer einer Porzellankanne und zwei großen Tassen eine Rumflasche, ein Glas goldglänzenden Bienenhonigs und einen Teller mit Brotschnitten enthielt, wieder in die Stube trat.

»Sieh da,« lachte er, »wie gut das Zeug Ihnen steht. Ruft mich da neulich, als ich gerade am Schlosse vorbei ging, unser Gutsherr, Herr von Keudell, hinein, sagt, er habe da einen verbrauchten Anzug liegen, vielleicht wüßte ich Verwendung dafür; irgend ein armer Teufel könnte ihn ganz gut noch gebrauchen. Ich möchte ihm den Gefallen tun und das Zeug mitnehmen. Na, ich dachte, ich würde schon jemand finden, und tat ihm den Gefallen. Für Sie kommt der Anzug gerade wie gerufen. Aber nun langen Sie, bitte, zu.«

Er goß ein. Mit Verwunderung betrachtete der Professor den goldbraunen Trank.

»Der Tausend,« rief er, »das ist ja Tee – trotz der Kontinentalsperre –«

»Ist nicht ganz so schlimm damit, wie es aussieht,« schmunzelte Sträubelein. »Trotz der strengen Verordnungen des Kaisers haben erst noch neulich wieder an die dreihundert Wagen mit englischen Waren, geleitet von westfälischen Gendarmen – hören Sie, von westfälischen Gendarmen! – und einem Haufen bewaffneter Bauern, die Douanenlinie Zollgrenze. passiert und unsere Schiffer ein gut Teil dieser Waren die Weser und die Werra heraufgebracht. Kaiser und König liegen sich mal wieder in den Haaren wegen der neuen Douanenlinie, die der Kaiser, ohne lange den Bruder zu fragen, mitten durch das Königreich gezogen hat. Ein Glück! – von dem Streite konnte unsereiner noch was profitieren. Zuletzt freilich wird, wie immer, König Lustik wohl wieder dünn beigeben müssen, natürlich. Schon jetzt wird die Sperre wieder strenger gehandhabt. Die kaiserlichen Douanenbeamten kümmern sich den Kuckuck um die Proteste des westfälischen Hofes: die tun einfach, was ihr Herr, der Kaiser, haben will, ja mehr als das, und konfiszieren lustig darauf los. Ich sage Ihnen, diese Douaniers sind die ärgsten unter allen Spitzbuben, die uns dieser Generalerzhalunke – Pardon,« – ein höhnisches Lächeln zuckte um seinen Mund – »wollte sagen, Se. Majestät Kaiser Napolium – hat ins Land geschickt. Die Waren, die sie konfiszieren, verkaufen sie selber, um sie danach von neuem zu konfiszieren und von neuem zu verkaufen, und niemand« der Pfarrer ballte ingrimmig die Faust »kann etwas dagegen tun. Es ist, um die Kränke zu kriegen … Auch hier im Werratale haben des Kaisers neue Maßregeln schon ihr Opfer gefordert. Aber essen und trinken Sie, Herr Professor!«

Trotz dieser erneuten Aufforderung aß jedoch unser Freund nur wenig: dem Tee dagegen sprach er mit Behagen zu. Neue Lebenswärme strömte durch seine Glieder. Auch der Pfarrer hatte sich eingeschenkt. Friedrich wunderte sich im Stillen über die Menge Rum, die er dem Tee zugoß, und noch mehr über die Leichtigkeit, mit der er das starke Getränk hinunterschlürfte.

»Sie sprachen von einem Opfer,« fragte er: »wie verhält sich's damit?«

Des Pfarrers Miene wurde ernst. »Ja, das ist eben die Sache,« erwiderte er, »auf die sich meine Mitteilung auf dem Zettel bezog. Als ich vorgestern Abend bei dem Schiffer Völke eintrat, war ein groß Wehklagen im Haus. Der Schiffer lag krank vor Schreck und die Frau lamentierte. Kaiserliche Douanenbeamte waren kurz zuvor dagewesen und hatten das Haus von oben bis unten durchsucht, weil man erfahren haben wollte, daß der Schiffer Schmuggel mit dem Auslande triebe. Unglücklicherweise hatten die Spürnasen wirklich mehrere Ballen englischer Waren aufgestöbert, die, nach Wanfried bestimmt, in einem seiner kleineren Schiffe verstaut lagen. Die Ballen waren, obwohl mit inländischem – preußischem – Certifikat versehen, sofort konfisziert und das für die Fahrt nach Bremen schon geladene Frachtschiff mit Beschlag belegt worden. Der arme Mann kann sehen, wie er zu seinem Schaden kommt. Natürlich kann er unter diesen Umständen die Fahrt nicht antreten. Das Ärgerliche ist, daß die Geschichte uns selbst einen so dicken Strich durch die Rechnung macht. Denn bei andern Schiffern nachzufragen, hatte ich, da ich ihrer keinen hinlänglich kenne, nicht den Mut: es müssen schon sichere Leute sein, die man sich getrauen darf, ins Geheimnis zu ziehen. Kurz und gut, mit Ihrer Absicht, zu Schiffe fortzukommen, ist's nichts. Wir müssen auf einen andern Weg denken.«

Der Pfarrer schwieg. In tiefen Gedanken sah der Flüchtling vor sich nieder.

»Schade, mich dauert der Mann,« nahm er nach einer Weile wieder das Wort. »Sonst, was mich betrifft, so war ich ja durch Ihre Mitteilung vorbereitet. Ich habe mir die Sache bereits überlegt.«

Er setzte dem Pfarrer seinen Plan, nach Rußland zu fliehen, auseinander.

»Merkwürdig,« erwiderte dieser und nickte, »auch ich hatte diesen Gedanken. Wie viele deutsche Patrioten haben dort gleich dem Freiherrn von Stein eine Zuflucht gefunden! Es ist freilich ein längerer Weg, aber die Gefahr schließlich nicht größer als auf jedem andern Wege auch, eher noch geringer, zumal für Sie, da Sie in Herrn von Gehren, wie Sie sagen, einen so hilfsbereiten Freund gefunden haben. Wenn Sie erst das Westfälische hinter sich haben, hätte es, sollt' ich meinen, nicht so viel Not mehr. Sie glücklich über die Grenze zu bringen, das ist jetzt die Aufgabe. Und ich gedenke die Aufgabe zu lösen, Herr Professor.«

»Ich danke Ihnen, Herr Pfarrer, für dieses Wort,« versetzte der Flüchtling. »Ich gestehe, ich habe bei meinem Plane sehr stark auf Ihre Hilfe gerechnet. In welcher Form, verzeihen Sie, gedenken Sie mir diese Hilfe zu gewähren?«

»Ich selbst werde Sie mit meinem Jungen, dem Rudolf, begleiten. Wir nehmen den kürzesten Weg, der in diesem Falle zugleich der sicherste ist, den Weg über den Heldrastein. Mein Junge soll bei Ihnen bleiben, bis Sie glücklich über die Grenze sind. Ich selbst muß leider zeitiger zurück, da mich noch heute wichtige Amtsgeschäfte erwarten.«

»Sehr gütig, Herr Pfarrer, ich nehme die Begleitung dankbar an. Aber« – der Sprechende besann sich – »wird sich die Frau Pfarrer nicht etwa am Morgen wegen Ihrer Abwesenheit ängstigen?«

»Die ist tot, Herr Professor – seit einem Jahre,« versetzte Sträubelein leise und machte ein bekümmertes Gesicht.

»Ah,« rief der Professor bedauernd. »Verzeihen Sie – ich bin betrübt, daß ich durch meine Frage die schmerzliche Erinnerung auffrischte. Übrigens, wann brechen wir auf?«

»Wenn Sie wünschen, sogleich. Ich werde den Jungen wecken.«

Der Pfarrer entfernte sich. Völlig marschfertig, einen Radmantel um die Schultern, in der einen Hand einen großen altmodischen Regenschirm und eine kleine Blendlaterne in der andern, trat er nach ein paar Minuten wieder ein.

»Mein Junge kommt sogleich,« sagte er. Er deutete auf seinen Mantel: »Leider habe ich nur den einen und sonst nur noch diesen Schirm zur Verfügung. Darf ich Sie bitten, ihn zu nehmen?«

Friedrich lehnte ab. »Sie sind viel zu gütig, lieber Herr Pfarrer; ich kann mich recht wohl ohne das Schutzdach behelfen. Lassen Sie den Schirm Ihrem Knaben.«

»Nehmen Sie nur das Ungeheuer,« drängte jener. »Der Rudolf braucht ihn nicht. So ein Junge muß das Wetter vertragen lernen.«

Widerstrebend nahm der Professor den Schirm.

Rudolf trat ein, mit einer Flausjacke, kurzen Hosen und Gamaschen bekleidet. Höflich begrüßte er den Gast. Mit einem wohlgefälligen Blick in sein kühngeschnittenes, offenes Gesicht reichte ihm dieser die Hand. Der Vater schenkte ihm eine Tasse Tee ein und hieß ihn ein wenig essen. Die übriggebliebenen Brotschnitten bestrich er mit Honig, legte die Stücke über einander, packte alles in eine Düte und schob diese dem Sohne in die Tasche. Während der Knabe den Tee trank, entfernte sich der Pfarrer abermals, kehrte jedoch, eine Wurst und ein großes Stück Brot in den Händen, schon nach wenigen Augenblicken zurück. »Stecken Sie dieses ein, Herr Professor,« bat er.

Der Flüchtling wollte Einwendungen machen, aber der Pfarrer drängte: »Machen Sie keine Sperrenzien, Herr Professor! Sie wissen nicht, wie Sie es brauchen.«

Da nahm jener dankend die Gabe an.

»So, und nun vorwärts!« sagte jener. Er löschte das Stubenlicht, barg die Laterne unter dem Mantel und öffnete die Tür. Sie verließen das Haus. Vom Turme der nahen Kirche schlug es drei.

»Gerade die richtige Zeit,« bemerkte der Pfarrer, indem er das Haus verschloß und den Schlüssel, damit ihn die Kinder am Morgen finden konnten, unter der Tür in den Hausflur schob. »Bis es Tag wird, haben Sie die Grenze hinter sich.«

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