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Erstes Kapitel.
Pfarrer Bohnewald und der Handwerksbursch


An einem nebligen Septembermorgen des Jahres 1809 schritt ein ältlicher Herr, der durch seine Menschenfreundlichkeit weit und breit bekannte Pfarrer Bohnewald von Vernau, einem Dörflein im Schwalmgrunde, bedächtig den Wiesenpfad entlang, der zu dem benachbarten Marktflecken Friedendorf führte. Er hatte etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt, da erregte ein Mensch seine Aufmerksamkeit, der mit allen Zeichen der Erschöpfung etwas abseits des Weges am Rande eines kleinen Gebüsches auf einem Baumstumpfe hockte. Die Tracht verriet den reisenden Handwerksgesellen. Ein Felleisen hing an seiner Schulter. Kopf und Oberleib waren nach vorn geneigt, das bartlose Kinn war auf die Hände gepreßt, die, kreuzweise übereinandergelegt, auf dem Hirschhorngriff eines derben Knotenstockes ruhten, und der mit Wachs bezogene Hut war tief in die Stirn gedrückt, so daß von dem Gesicht nicht viel zu erkennen war. Pfarrer Bohnewald blieb stehen, rief einen freundlichen Gruß hinüber und fragte: »Nun Freund, so früh schon wandermüde?«

Der Wanderbursch warf auf den Fragenden einen forschenden Blick, lüftete mit trauriger Miene grüßend den Hut und sagte: »Meine wunden Füße wollen nicht mehr. Mit Gewalt wollt' ich es zwingen heut' morgen, aber es tuts einmal nicht – und nun hab' ich, in der Dämmerung über eine Wurzel stolpernd, mir auch noch einen Fuß vertreten. Hätt' ich nur erst das Dörfchen dort erreicht!« Seufzend blickte er den Weg entlang, den der Pfarrer gekommen war.

Mit wachsender Teilnahme betrachtete dieser den jungen Mann. In der ganzen Erscheinung lag etwas, das ihn fesselte und anzog.

»Also wund und vertreten, hm, hm,« sagte er. Er besann sich einen Augenblick, dann fuhr er fort: »Da glaube ich wohl, daß es mit dem Marschieren nicht länger gehen will. Ist's Euch genehm, so will ich Euch meinen Arm zur Stütze bieten und Euch ins Dörflein führen.«

Ueberrascht sah der Fremde zu ihm auf. Ein Leuchten flog über sein Antlitz. In freudiger Erregung entfuhr es seinem Munde: »Wie, Sie wollten – aber,« fuhr er stockend fort, »werde ich Ihr freundliches Anerbieten annehmen dürfen? Ihr Weg –«

Der Pfarrer unterbrach ihn: »Ei was – mein Weg hat nicht solche Eile. Kommt!«

Und er beugte sich nieder, ihm aufzuhelfen. Von dem Arme des menschenfreundlichen Mannes unterstützt, richtete sich der Hockende mühsam empor. Das Auftreten schien ihm furchtbare Qual zu bereiten. Er verbiß den Schmerz und hinkte mit Hilfe des Stabes am Arme seines Begleiters vorwärts.

Unterwegs gab er über sich Auskunft. Er hieße Kleinhans, sagte er, sei seines Zeichens ein Bäcker, aus dem Werratale gebürtig und nach mehrjährigem Aufenthalt in der Fremde im Begriffe, in die Heimat zurückzukehren. In seiner Sprache und in seinem Benehmen gab sich eine Feinheit kund, wie man sie hinter dem simpeln Handwerksgesellen schwerlich vermutet hätte. In stiller Verwunderung streifte der Blick des alten Herrn sein Gesicht. Die von blondem Gelock umwallte breite gewölbte Stirn schien eher die eines Denkers und Gelehrten als die eines arbeitenden Mannes aus dem Volke zu sein. Auch die übrigen Teile des Gesichts, die gerade griechische Nase, die kühn geschwungenen Brauen, die großen, glänzenden, tiefblauen Augensterne darunter, der feingeschnittene Mund, das edelgeformte kräftige Kinn, hätten den Gedanken an eine niedere Abkunft schwerlich aufkommen lassen, wenn nicht die Kleidung gewesen wäre; allerdings, der fadenscheinige Rock, die geflickten Beinkleider, die plumpen, grob gearbeiteten Schuhe redeten eine unmißverständliche Sprache. Dennoch hatte der alte Herr seine eigenen Gedanken über den Fremdling: er hütete sich aber, ihnen Ausdruck zu geben. Die Verhältnisse der Zeit – einer für Deutschland höchst trübseligen Zeit – nötigten zur Vorsicht. Das Volk schmachtete in den Ketten der Fremdherrschaft. Von Napoleons Gnaden war mitten im Herzen Deutschlands nach Vertreibung der rechtmäßigen Landesherren ein neues Staatengebilde, das Königreich Westfalen, entstanden, dessen Beherrscher, Hieronymus Napoleon, ganz von den Launen des Bruders abhängig war. Die Aufstandsversuche eines Schill, Dörnberg, Emmerich u. a. hatten mit kläglichem Fiasko geendet. Verurteilungen und Hinrichtungen waren an der Tagesordnung. Politische Flüchtlinge durchirrten in mannigfacher Verkleidung das Land. Welcher deutschempfindende Mann hätte es unter solchen Umständen wagen mögen, den Wanderer, der hilfsbedürftig seinen Weg kreuzte oder obdachsuchend nächtlicherweile an seine Tür pochte, zu genau über Woher und Wohin zu befragen? … Die hilflose Lage, in der sich unser Fremdling befand, war just für den Menschenfreund Grund genug, ihm auf jeden Fall seine Hilfe und Teilnahme zuzuwenden.

Mit großer Anstrengung schleppte sich der Wanderbursch an der Seite seines Beschützers dahin. Endlich war das Dorf erreicht. Die Leute, die dem seltsamen Paare begegneten, machten verwunderte Augen, gingen jedoch ohne neugierige Fragen mit ehrfurchtsvollem Gruße vorüber. Die Blicke des Handwerksburschen glitten die Häuser entlang. Ein Wirtshausschild zeigte sich; er machte seinen Begleiter mit unsicherer Stimme darauf aufmerksam und bat, ihn dorthinzuführen.

Doch dieser sagte: »Damit wäre Euch wenig gedient, mein Freund. Folgt mir nur getrost in mein Haus, damit wir dort vor allen Dingen erst einmal die kranken Füße untersuchen.«

»O wirklich, das wollten Sie tun?« fragte der Fremdling gerührt. »Sind Sie denn Arzt? Verzeihen Sie meine Frage – ich hielt Sie für einen Geistlichen.«

»Das bin ich auch,« erwiderte Bohnewald lächelnd, »dabei aber auch ein wenig in medizinischen Dingen bewandert. Ein Pfarrer auf dem Lande muß eben mancherlei können.«

Sie betraten den Pfarrhof. Am Fuße der Steintreppe, die zum Wohnhause, einem großen, zweistöckigen Gebäude, hinaufführte, zeigte sich ein anmutiges Bild: ein junges Mädchen, das, von einer ganzen Schar glucksender Hennen und Küchlein umringt und von einem Schwarm buntschillernder Tauben umflattert, dem hungrigen Federvieh sein Frühfutter streute. Das Mädchen, eine auffallende Schönheit, trug ein einfaches Kattunkleid mit kurzen Ärmeln; ein verspätetes Röslein schmückte das dunkle Haargeflecht, dessen üppige Fülle auf dem Scheitel in einen zierlichen Knoten gewunden war. Ein weißes Täubchen war dem jungen Menschenkinde auf die Schulter geflogen und äugte flügelschlagend nach den Körnern in seiner Hand. Mit einem Lächeln, das auf die sanftgeröteten Wangen reizende Grübchen zauberte, suchte die junge Dame den Spatzen zu wehren, die bei dem verlockenden Anblick von allen Seiten herbeiflogen und, wie oft auch verscheucht, stets zudringlich wiederkehrten, ihren Beuteanteil an der leckeren Kost zu erhaschen. Bei dem Geräusche der nahenden Tritte blickte sie auf. Ein wunderschönes nußbraunes Augenpaar leuchtete unter langen Wimpern den Ankommenden entgegen. Eine lebhafte Ueberraschung malte sich auf ihrem Gesicht, als sie den Hausherrn erkannte, den sie sobald nicht zurückerwartet hatte.

»Ei, Herr Ohm,« rief sie fröhlich, »das heiß' ich aber schnell zurück. Sie können doch unmöglich –«

»Bin garnicht in Friedendorf gewesen, Rosa,« fiel der Pfarrer ihr lächelnd ins Wort; »ich bekam anderes zu tun. Hier bringe ich jemand, der auf einige Tage dringend unserer Pflege bedarf. Ist das Fremdenzimmer in Ordnung?«

»Das Fremdenzimmer?« wiederholte das Jungfräulein gedehnt. Ein forschender Blick traf den Begleiter des Oheims, der, ein stiller Beobachter, mit abgezogenem Hute zur Seite stand; den Blick auffangend, verbeugte er sich achtungsvoll. Seine weltmännische Höflichkeit, der feine Anstand, der, bei der unscheinbaren Kleidung doppelt auffallend, sich in seiner ganzen Haltung bekundete, überraschte sie; sie senkte errötend das Auge, knixte und sah den Oheim fragend an. »Der Herr Oheim,« fuhr sie verlegen fort, »weiß doch, daß –«

»Ah so, ich vergaß,« unterbrach sie der Pfarrer heiter, »unser erwarteter Besuch – nun, so muß eben anderweit Rat geschafft werden, Röschen. In dem Kämmerlein daneben, dächt' ich, wäre noch ein Bett aufgeschlagen?«

Das schöne Mädchen nickte. »Allerdings, dort wird es gehen,« erwiderte sie erleichtert. »Ich bin sogleich fertig und werde das Nötige besorgen.«

Der Oheim wandte sich ab und stieg mit seinem Begleiter die Stufen empor. Ein heller geräumiger Hausflur, aus dem eine breite Treppe in die oberen Räume des Hauses führte, dehnte sich vor den Eintretenden aus.

»Dore, den Schlüssel!« rief der Hausherr.

Aus der Küche im Hintergrunde trat eine ältere Person – es war die Magd, die, gleichsam ein altes Erbstück des Hauses, schon seinen Eltern gedient hatte – und reichte ihm mit einem verwunderten Blick auf den Fremden den Schlüssel. Der Pfarrer öffnete eine Tür zur Rechten des Hauseinganges. Sie führte in ein größeres Zimmer von höchst einfacher Ausstattung; ein großer Schreibtisch, ein Kanapee mit rohrgeflochtenem Sitz, einige Rohrstühle, ein schwerer Eichenschrank mit eisernem Vorlegeschlosse und ein paar große Bücherregale, mit Büchern und Folianten aller Art angefüllt, bildeten die Einrichtung.

»Mein Heiligtum,« sagte Pfarrer Bohnewald lächelnd und bat seinen Schützling, auf dem Kanapee Platz zu nehmen. Wie sehr sich dieser auch sträuben mochte, er mußte es sich gefallen lassen, daß der Pfarrer ihm eigenhändig Schuhe und Strümpfe von den arg zugerichteten Füßen zog.

»Das sieht allerdings schlimm genug aus,« sagte der freundliche Mann kopfschüttelnd. »Eine gute Weile wird's dauern, bevor Ihr Eure Wanderung werdet fortsetzen können.«

Der junge Mann seufzte. »Gott wolle Ihnen,« sagte er leise, »Ihre Barmherzigkeit, Ihre große Güte lohnen.«

Nachdem der Pfarrer sorgfältig die Wunden gereinigt, mit Kompressen von Arnikawasser verbunden und dem Erschöpften einen von Rosa bereiteten Imbiß aufgenötigt hatte, ging er daran, seine Überführung in das Krankenzimmer, ein Gemach im Oberstocke des Hauses, anzuordnen. Eine Weile später lag unser Handwerksbursch wohlgebettet auf dem weichen Lager, das Rosa mit Hilfe der Magd für ihn zugerichtet hatte. Der kühle Verband, sowie der Imbiß hatten ihm wohlgetan; es dauerte nicht lange, so senkte sich ein erquickender Schlummer auf seine Lider.

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