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Fünftes Kapitel.
Die Anekdotenerzähler im Zollhause


In der Nähe von Niederhone, einem Dörflein des Werratales, stand dort, wo sich die Kasseler Straße mit der von Witzenhausen kommenden kreuzt, ein ziemlich niedriges Gebäude. Der graugrünliche Anstrich und die eigentümliche Bauart, die in Fenstern und Türen die Rundbogenform zeigte, gaben dem Häuschen etwas Apartes; seine Bestimmung ließ jedoch der Schlagbaum erkennen, der neben dem Eingange seinen langen Arm in die Lüfte streckte. Es war ein Chaussee- oder Zollhaus, eins jener Gebäude, wie sie in früheren Zeiten überall an den Kreuzungen der Landstraßen zu finden waren, deren Bewohner übrigens neben ihrem eigentlichen Amte, von den vorbeifahrenden Fuhrwerken den Wegzoll zu erheben, in der Regel zugleich eine Schankwirtschaft betrieben.

Wir treten in die zur Linken des Hausflurs gelegene niedrige Gaststube ein. Im Hintergrunde des verräucherten Gemachs, in dem bereits die beginnende Abenddämmerung ihre Schatten wob, saß, von einem großen Kachelofen fast verdeckt, ein junger Mann in Handwerkertracht. Ein Tischchen stand vor ihm, auf dem neben einem halb geleerten Bierglase noch die Reste eines Abendbrotes sichtbar waren. Er mochte wohl sehr müde sein; er hatte die Füße von sich gestreckt, die Arme über dem Tische gekreuzt und den Kopf darauf gelegt, sodaß von seinem Gesicht eigentlich nichts zu erkennen war. Es war unser Handwerksbursch. Nach langer Wanderung, wobei er, die Heerstraße vermeidend, sich meist auf Waldwegen gehalten und zuletzt gründlich verirrt hatte, war er vor einigen Stunden den Meißner heruntergekommen und todmüde eingekehrt. Er schlief jedoch nicht, wie es den Anschein hatte, horchte vielmehr heimlich und aufmerksam auf die Reden hin, die gelegentlich von den ab- und zugehenden Gästen vorn an dem großen Wirtstische geführt wurden.

Soeben hatten sich dort mehrere Männer von behäbigem Aussehen in langen, altfränkischen Röcken und Wämmsern niedergelassen, die aus großen Stangengläsern Bier tranken und dazu gemächlich ihr mitgebrachtes Vesperbrot verzehrten. Ehrsame Bürger von Eschwege, wie unser Freund auf den ersten Blick erkannte, hatten sie in dem breiten schnarrenden Dialekte der Werrastadt bald eine lebhafte Unterhaltung begonnen, an der auch der Wirt und Zolleinnehmer, ein langer, spindeldürrer Mann mit lebhaftem Mienenspiel, ab und zu sich beteiligte.

»Ja, Herr Nachbar,« sagte ein ungewöhnlich großer, breitschulteriger Mann mit einer Allongenperrücke in einem Tone, dessen selbstgefälliges Pathos seiner Rede einen Beigeschmack unnachahmlicher Komik verlieh, »es ist das ein höchst merkwürdiges Ding – ein Schauspiel, das wir in der Geschichte und in den Kämpfen der Menschheit wie auch sonst im Reiche der Natur sich des öfteren wiederholen sehen, daß nämlich das Kleinere und Schwächere dem Großen und Starken über wird. Ich wage zu behaupten, daß, stände nicht dieser Riesengeist, der Napoleon, an der Spitze der französischen Nation, es hätte« – mit einem Seitenblick auf den scheinbar schlummernden Handwerksburschen dämpfte der Redende die Stimme – »diesen kleinen, windigen Franzmännern schwer genug werden sollen, unser schönes Hessenland zu erobern. Aber« – seine Stimme hatte wieder den gewöhnlichen Klang – »um wieder auf unsern Fäßchenwirt in der Forstgasse zurückzukommen, so gebe ich Ihnen zu: stark ist der Mann. Einen großen Schmiedenagel mit den Fingern wie eine Schraube zu drehen und einen Zinnteller wie ein Papierblatt zusammenzurollen, das ist schon etwas. Aber ich, der Subkonrektor Andreas, getraue mich, ohne Ruhm zu vermelden, doch noch Besseres fertig zu bringen. Fragen Sie einmal den Fuhrmann Heckmann aus Reichensachsen, der kann Ihnen ein Stücklein von mir erzählen, das macht mir der Fäßchenwirt nimmermehr nach. Prosit!«

Er stieß mit den andern an, nahm bedächtig einen gehörigen Schluck und sah, während er das Glas wieder niederstellte, mit einem selbstzufriedenen Blicke seine Zuhörer an.

»Dunnerlitzchen, ein im Werratale gebräuchlicher Ausruf. Herr Andreas,« rief einer, »das ist ein großes Wort. Das Stückchen müssen Sie uns einmal verzählen.«

Der Subkonrektor – eines der vielen Originale, an denen damals und auch später noch die Werrastadt reich war – schmunzelte. »Wenn Sie es wünschen,« sagte er, »sehr wohl! – Gehe ich da also eines Tages auf der Straße nach Reichensachsen spazieren, als mein Blick auf einen schwerbeladenen Frachtwagen fällt, so auf der einen Seite in den Straßengraben abgeglitten war und sich völlig festgefahren hatte. So heftig auch die Pferde, mit Hühott und Peitschenknall zur äußersten Anstrengung gespornt, anziehen mochten, sie brachten den Wagen nicht von der Stelle. Die Männer, die das Gefährt begleiteten – es waren ihrer vier –, strengten vereint alle ihre Kräfte an, das Fuhrwerk wieder flott zu machen: sie stemmten sich, den keuchenden Tieren zu helfen, hinter den Wagen, schoben an den Rädern – es war alles vergebens. Ein Weilchen sehe ich der Geschichte zu, endlich aber verliere ich die Geduld. Ich bat die Männer, zurückzutreten und mir einmal die Sache zu überlassen. Mit ungläubigen Gesichtern folgten sie der Aufforderung. Ich zog meinen Rock aus, stemmte die Schulter unter die Achse des Hinterrades – ein Ruck, ein Krach – und der hintere Teil des Gefährtes stand oben. Ebenso geschah es mit dem Vorderrade. Du lieber Himmel, was machten Ihnen die Leute für Augen! ›Ja, ja, Ihr Schwächlinge,‹ sagte ich und zog meinen Rock wieder an, ›ich bin im Zeichen des Löwen geboren, darum habe ich auch Löwenstärke!‹ Sprachs und ging meiner Wege. Prosit!«

Lachend, mit lauten Ausrufen der Verwunderung, taten die Männer dem Erzähler Bescheid.

»Dunnerwehre!« rief einer, »sülls denn woll wohr gesin? Daß Sie stark sind, Herr Andreas, weishaftig so viel wie wahrhaftig., das sieht me Ihnen schon an, aber das Stückchen!« Er lachte wieder.

»I – worümme süll's nit wohr gesin?« bemerkte ein anderer. »Unser alter Oberst von Münchhausen, unter dem ich den Feldzug von anno 92 habe mitgemacht, ich glaube, der hätte das Stückchen auch fertig gebracht. Hühnerledder, wie dem immer die Lanze entzwei brach, wenn er bei der Parade damit salutierte. Ein Ruck und – verdowweri! hessische Kraftausdrücke. – der Schaft war kaput, wie ein Strohhalm zersplittert. – Heda, Wirtschaft, noch ein Glas! … Karle!« Der Rufende sah sich nach dem Wirte um und trommelte mit dem Glase auf dem Tische. »Hühnerledder, wo bleibt der Kerl?«

Der Zolleinnehmer stürzte herein.

»Holla, Banes Eobanus.,« rief er lachend, »meinste, ich wäre taub geworden? Ich komme ja schon.« Er füllte die Gläser und setzte sich wieder zu den Gästen.

»Ja, ja, es gitt starke Menschen in der Welt,« nahm jemand mit nachdenklicher Miene das Wort, »me süllt's nit gegläuwen.«

»Item, die starken Knochen helfen auch nicht allemal, Herr Homeier Hospitalshofmeister.,« äußerte schmunzelnd ein Mann, der in Kleidung, Wort und Benehmen sich durch eine gewisse Vornehmheit auszeichnete – er hieß Bartholomäus, war seines Zeichens ein Tuchfabrikant und hatte den Titel Kommerzienrat –; »die Körperkraft allein macht es bei einem Menschen nicht aus. Der Herr Subkonrektor hat eine tiefe Wahrheit ausgesprochen, daß der Kleinere und Schwächere oft mehr ausrichte als ein Starker. Gelt, Herr Andreas« – er zwinkerte schelmisch mit den Augen – »Sie selbst haben in Ihrem Berufe darin schon merkwürdige Erfahrungen gemacht?«

»Heda, Herr Andreas,« rief Holzapfel, der Veteran, »eß es denn wohr, was de Lite Leute. verzählen, daß des Hellmuts Ältester, der Johannes, Ihnen hätte die Bohnen im Garten verdemmelt zertreten, weil Sie ihn hätten schlagen wollen?«

Die Männer wechselten miteinander einen lustigen Blick.

Der Subkonrektor, der inzwischen einen tiefen Zug aus seinem Glase getan hatte, setzte ab, wischte sich ärgerlich den Mund und rief: »Der Strick, der Fant! Nein, das hat er nicht, er hat mir aber damit gedroht.«

»Wie war denn eigentlich die Geschichte?« forschte der Fabrikant, der sich mit dem etwas beschränkten Manne gern einen Spaß erlaubte, mit der unschuldigsten Miene von der Welt.

Ohne die Schelmerei, die in der Frage lag, zu bemerken – denn die Geschichte, in der er selbst gerade nicht die schmeichelhafteste Rolle gespielt hatte und die seiner Schuldisziplin nicht eben das günstigste Zeugnis ausstellte, war in der Tat bereits stadtbekannt –, hob der Subkonrektor an: »Kommt mir da eines Tages der Metzgermeister Meinung auf die Bude gerannt und erzählt zornglühenden Gesichts, welch einen Unfug das saubere Früchtchen, der Johannes Hellmut, ihm angerichtet. Der Strick war mit drei anderen Rangen den Cyriaxberg hinangeschlendert. Sehen die Bengel da auf einmal auf dem abschüssigen Wege einen Wagen stehen, dessen Rädern der Besitzer, ein Hinabrollen zu verhindern, Steine untergelegt hatte. Wie der Blitz schießt dem Johannes ein nichtsnutziger Gedanke durch den Kopf. Die Steine wegzunehmen und den Wagen den Berg hinuntersausen zu lassen – ha, das wäre ein Spaß! Gedacht, getan! Jedem der Schlingel wird sein Platz angewiesen – der Johannes kommandiert: »Eins, zwei, drei – los!« – die Jungen reißen die Steine weg und – brr, donnert der Wagen mit Gerassel den Berg hinab, dem Meinung gerade in den Laden hinein. Wie der in heillosem Zorne herausstürzt, sind die Missetäter natürlich verschwunden. Nur den Johannes sieht er noch, wie er mit flatternden Rockschößen – der Junge trägt ja immer die abgelegten Kleider seines Vaters – soeben um die Ecke saust. Ein Nachbar jedoch, der den Vorgang aus seinem Fenster beobachtet hatte, erzählt ihm, wie alles sei zugegangen. Rein außer sich vor Ärger und Zorn kommt also der Meinung zu mir gerannt und fordert mich auf, an dem Rangen einmal ein gehörig Exempel zu statuieren, was ich mir denn auch ernstlich hab' vorgenommen. Aber dieser Windbeutel, der Johannes! Wie ich am andern Morgen betrübten Herzens in das Schulzimmer trete und nach dem Stocke greifend sage: ›Johannes Hellmut, was habe ich von Dir hören müssen? Komm doch einmal heraus!‹ was meinen Sie, tut der Schlingel? Mit ein, zwei Sätzen ist er über die Subseillen Schulbänke. hinweg – wie der Blitz steht er oben auf dem Fensterbrett und schreit: ›Herr Andreas, wenn Sie mir was tun, springe ich auf der Stelle in den Garten hinab und verdemmele Ihnen Ihre Bohnen!‹ ›Mein Johannes,‹ rufe ich erschreckt, ›das wirst Du doch mir, Deinem Lehrer, nicht antun?‹ und mache einen Schritt dem Fenster zu. Der Junge schreit: ›Wenn Sie noch einen Schritt näher kommen, Herr Andreas, dann springe ich – und verdemmele Ihnen die Bohnen so, daß Sie das ganze Jahr keine Bohnen zu essen kriegen!‹ – und wahrhaftig, er duckt sich bereits zum Sprunge. Was wollte ich machen? Wohl oder übel mußte ich, wollte ich meine schönen Bohnen behalten, mich aufs Bitten verlegen. ›Komm herunter‹ sage ich, ›ich will Dir die Strafe erlassen.‹ Aber der Nichtsnutz traute dem Wetter nicht. So dumm, lachte er, wäre er nicht. Erst müßte ich mich verheißen verschwören., daß ihm nichts, auch gar nichts wegen der Geschichte passieren sollte. Was blieb mir übrig, als dem Schlingel den Willen zu tun? ›So komm herunter, lieber Johannes‹ sagte ich, ›ich will Dir ja ganz gewiß nichts tun!‹ Da sprang er herunter vom Fensterbrett und setzte sich wieder an seinen Platz.«

Die Männer lachten, daß ihnen die Tränen von den Backen liefen.

»Kostbar,« rief der Kommerzienrat. »Herr Andreas, darauf kommt Ihnen etwas!« Er stieß mit dem Subkonrektor an, der, nachdem er seinen Schulärger in einem tüchtigen Schluck hinuntergespült hatte, in voller Harmlosigkeit mitlachte.

»Item, Scherz beiseite,« fuhr jener fort, »der Junge kanns noch weit bringen. Wie kann es bei der Erziehung, die er zu Hause hat, eigentlich anders sein? Sein eigener Vater ist nichts nutz.«

»Da liegt eben der Hase im Pfeffer, mein verehrter Herr Kommerzienrat,« bemerkte der Schulmann mit tragikomischem Gesicht. »Stünde es mit der elterlichen Erziehung meiner Knaben besser, so könnte sich unser einer viel Aerger ersparen.«

»Sehr richtig, Herr Andreas,« nickte der Fabrikant. »Item, 's war eben ein böser Jungenstreich. Der Alte selbst hat dagegen neulich auf dem Eichsfelde einen Streich vollführt – einen wahren Spitzbubenstreich, sage ich Ihnen –, für den er eigentlich den Galgen verdient hätte.«

»Der versoffene Lump, der Hellmut?« riefen die andern.

»Ja wohl, der Hellmut. Vorgestern Abend war's, so in der Dämmerung, als ich, von der Jagd bei Grebendorf kommend, Lust kriege, beim Sternwirt an der Brücke noch ein Schöppchen zu trinken. Sitz' ich da still im Hinterstübchen in meinem Eck hinter der halboffenen Tür, trinke mein Bier und schmauche mein Pfeifchen dazu, da bemerke ich durch den Türspalt im anderen Zimmer ein paar Männer, die leise und eifrig mit einander tuscheln. Der eine davon – so viel konnt' ich gerade noch sehen – war der versoffene Kerl, der Hellmut, den andern konnte ich nicht erkennen. Sie waren ganz allein in der Stube. Auf das Gespräch hätt' ich kaum hingehört, wenn nicht auf einmal ein Wort gefallen wäre, das mich neugierig machte. »Joa, Hannes,« platzte nämlich der Hellmut heraus, und lachte, »de scheiwe Schnüten Die schiefe Schnute – Mund, Schnauze. – hahaha, es war eine kapitale Geschichte! De dumme Wackelgähns! Wackelgans. Es war nur gütt, daß ich se glich hon zu sehn gekregen, süst waren me scheene erwischt. Weishaftig, mich hotte se schon gesehn, 'n Glück, daß du dich noch hast können dinne machen – mit der scheiwe Schnüten hon ich se gütt angeschmiert, hahaha!«

»De scheiwe Schnüten, Kinner, wie is mich denn?« unterbrach der Zolleinnehmer den Erzähler. »Da geht mich, weishaftig, auf einmal eine dicke Laterne auf über eine Geschichte, die mir hier im Zollhause vor ein paar Tagen passiert ist. Wenn ich geahnt hätte, daß der Hellmut dahinter steckt, der Lump – ich hätte, weishaftig, der Frau einen guten Rat gegeben. Aber erzählen Sie weiter!«

»Nach Ihnen, Herr Billing,« versetzte der Kommerzienrat höflich. »Meine Geschichte kann warten. Ich bin neugierig auf Ihr Erlebnis.«

»Nun gut, Ihr Herren,« nahm der Zolleinnehmer das Wort, »der Fall war der: Kommt da vorige Woche ein Bauersmann vom Eichsfelde herein mit seiner Frau und erzählt eine sonderbare Geschichte von zwei Metzgern, die ihnen ein Ochsenkalb gestohlen hätten. Er wäre, sagte er, gerade nit zu Hause gewesen, da wären zu seiner Frau zwei Metzger gekommen, die hätten wollen junge Ochsen kaufen. Er hätte gerade zwei Ochsenkälber im Stalle gehabt. Die Frau führt die Männer in den Stall. Die gucken sich die Tiere an und fragen das Weib, wieviel sie haben wolle dafür. ›Acht Daler,‹ spricht das Weib. Die Kerle besinnen sich einen Augenblick; auf einmal spricht der eine: ›Hört, Fräu, me wun wollen. se üch abgekäufen vor das Geld, awer im Ögenblicke hon me gerade kein Geld bi uns. Wißt de was: me wun den einen Ossen metegenehmen und den angern üch hielohsen zum Pfähne. den andern Euch hierlassen zum Pfande. Morgen brengen me üch das Geld un holen den angern Ossen ab.‹ Das Ding leuchtet dem Weibe ein, und die Metzger ziehen mit dem Kalbe ab. Wie der Bauer des Abends nach Hause kommt, erzählt die dumme Gans: ›Du, Mann, heite hon ich uns awwer en guten Hähnel Handel. gemacht. Ich hon unse kleinen Ossen verkäuft!‹ ›So,‹ fragt der Mann; ›an wen hoste se dann verkäuft?‹ ›Zwei Metzger üs Efchewei sin hie gewähn‹, hier gewesen. sagt sie, ›se hon den Pries angenommen, den ich gefoddert hon, acht Daler.‹ ›Schön,‹ sagt er, ›wo hoste denn das Geld?‹ ›Joa, hörste Mann,‹ antwortet das Weib, ›das hon se nu net gerode bi sich gehot, sie hon uns awwer den einen Ossen zum Pfähne gelohsen.‹ ›O du dumme Gackel,‹ schreit der Mann, ›das Kalb weggengegähn weggegeben. und kein Geld? Weißte denn, wie de Kerle heißen?‹ Die Frau macht ein langes Gesicht. ›Ne, dos nit‹, gibt sie, ganz erschrocken über den Zorn ihres Mannes, den sie garnicht begreifen kann, kleinlaut zur Antwort, ›aber hör' doch, Mann, se hon uns joa den einen Ossen zum Pfähne gelohsen!‹ Na, das Gesicht, das der Mann dabei gemacht haben mag! ›O du dumme Gähns,‹ schreit er außer sich, ›merkste denn immer noch nit, was de Stunne geschlohn hot? Das Kalb eß weggen, sa ich dr. sag' ich Dir. Du Albschoß, nun kannste gesehn, wo me das Geld her gekregen.‹ Wie der Mann so schilt und lamentiert, muß der dummen Gackel denn doch ein Licht aufgegangen sein; ›aber,‹ hat sie gemeint, ›sei doch stille, Mann, ich hon doch noch Ögen im Koppe; wann ich de Lite gesehe, will ich se schon gekennen. Morgen geh ich nah Eschewei, do süllste mol gesehen, ich brenge uns das Rend wedder odder das Geld.‹ Na, sie machen sich denn auch beide, der Mann und die Frau, am andern Tage auf den Weg nach der Stadt, laufen in allen Metzgerläden herum und sehen sich die Leute an. Jedesmal fragt er: ›Na, is he dos?‹ und jedesmal antwortet sie: ›Ne, dos is he nit‹, – und beide gehen wieder ihrer Wege. Endlich kommen sie auch in die Schirn, und wie sie da eintreten, ist es der Frau, als hätte sie endlich gefunden, was sie suchte. Da hinten in der Schirn stand so einer, der dem einen der Spitzbuben ganz merkwürdig ähnlich sah, und da hängt auch so ein geschlachtetes Stück Rindvieh an der Wand, das ihr genau so vorkam wie ihr gestohlenes Kalb. Aber wie sie näher kommt, ist es doch ein Irrtum gewesen. Der Mann, der da steht, hat einen schiefen Mund, sieht sie, und den hat doch der Spitzbube nicht gehabt. Er kümmert sich auch garnicht um die gaffende Frau: ruhig hantiert er mit seiner Fleischeraxt an dem ausgenommenen Rückenstück weiter. Eine ganze Weile sieht sie dem Metzger mit großen Augen zu, endlich fragt sie: ›Heda, Mann, hot de denn schon immer so 'ne scheiwe Schnüten gehot?‹ Da wendet sich der häßliche Kerl mit dem verzogenen Mundwerk nach ihr um und spricht: ›Joa, Fräu, die scheiwe Schnüten han ich schon immer gehot. Worüm fröget Se denn?‹ Da erzählt sie ganz treuherzig, wie es ihr mit dem Kalbe ergangen ist, faßt mit traurigem Gesicht ihren Mann am Arme und spricht: ›Komm her, Mann, der eß es nu äu net.‹ Sie wollen gehen, der Metzger ruft sie zurück: ›Gucket se mol, ich hon äu schon so was gespräche heeren von dem Spitzbubenstreiche, awwer wisset de, was ich gläuwe? De hon üch en scheenen Bären ufgebunnen, wenn se gesaht hon, se wären üs Eschewei. Iche wüßt' üch, weishaftig, in Eschewei keinen, der üch so was künnde geduhe. Fröget Se doch emol in Richensaasen odder Hone dernah danach., villichte finnet Se do das Kalb.‹ So haben sie sich denn richtig auf den Weg nach Reichensachsen und von da nach Niederhone gemacht, aber nichts gefunden. Sie waren ganz bedäbbert betreten, niedergeschlagen. über ihr Unglück; der Mann war unwirsch über die dumme Frau, und die Frau weinte in einem hin. Sie hätten's doch, meinte der Mann, äu nit so dicke uffem Eichsfelle, daß sie so mir nichts dir nichts ein paar Taler könnten zum Fenster 'nausschmeißen. So lächerlich die Geschichte auch is, die Leutchen dauerten mich; sie hatten den ganzen Tag noch nichts gegessen; ich ließ sie sich sattessen und schenkt' ihnen die Zeche. Ich hätt' ihnen gern auf die Sprünge geholfen, denn daß der Kerl mit der scheiwen Schnuten der Fräu 'ne Nase gedreht hatte, war mir ohne weiteres klar: aber wer konnt' es sein? An den Hellmut dacht' ich nit; aber hätte ich auch an den Kerl gedacht, wer konnte ihm die Sache beweisen? Jetzt freilich hat sich der Lump vor den Ohren des Herrn Kommerzienrats selber verraten.«

Der Zolleinnehmer schwieg.

So groß auch die Heiterkeit war, die seine Erzählung bei den anderen hervorrief, so sehr sie die ergötzliche Einfalt des Weibes immer von neuem belachen mußten: bei den letzten Worten war ihre Stimmung sehr ernst geworden. Daß ein Bürger ihrer Vaterstadt so schlecht hatte handeln, mit der Einfalt eines armen Bauernweibes ein solches Spiel hatte treiben können, erschien ihnen unerhört.

»Verdowweri,« rief der alte Soldat, »könnte ich den Lump nur mal unter die Fäuste kriegen – dem sollt' es gut gehen!«

»Nein, solch ein Schuft!« fuhr der Subkonrektor heraus. »Und die Leutlein noch zuguterletzt so zu foppen – so ins Haberfeld auf die Dörfer zu jagen! Na, sein Johannes, der Springinsfeld, soll mir noch einmal die Bohnen verdemmeln wollen! Wahrhaftig, man sollte eigentlich seinen Vater, den Lump, den Gerichten anzeigen.«

»Na, das fehlte gerade!« nahm der Spittelmeier das Wort. »Mit der französischen Polizei mich einzulassen – puh! Mit dem Hellmut,« fuhr er mit einem Seitenblick auf den Handwerksburschen leise fort, »ist's durchaus nit geheuer. Die Leute munkeln, er stünde selber im Solde der Polizei – als Agent oder so was. Da bleib' nur davon, wer sich nit selber die Finger verbrennen will.«

»Davon hab' ich auch schon gehört,« bemerkte der Veteran. »Wie is mich denn? Neulich sagte mir einer, der Kerl hätte selber in der Besoffenheit von seinen Beziehungen zur Geheimpolizei geprahlt.«

»Laßt den Halunken laufen,« rief einer. »Ich denke, der hat sich in seinem eigenen Jungen schon die Rute auf den Rücken gebunden. Was meinen Sie dazu, Herr Bartholomäus?«

»Die Herren ereifern sich umsonst,« gab dieser ruhig zur Antwort und griff nach seinem Glase. »Der Kerl hat für seinen Streich gehörig bluten müssen.«

»Na nu?« Die Umsitzenden machten gespannte Gesichter.

Jener setzte sein Glas ab und begann: »Ich habe Ihnen ja erzählt, wie ich hinter die Geschichte gekommen bin. Ich saß im Stern, lasse die Halunken ruhig schwatzen und rühre und rege mich nicht. Der Schnaps, den sie tranken, hatte sie allmählich ganz redselig gemacht, sie wähnten sich offenbar ganz sicher. Nur, wenn der alte Heinemann, der Wirt, in seinen Pantoffeln hereinhuschte, die leeren Gläser zu füllen – und das mußte er öfters, – verhielten sie sich immer ein Weilchen still: dann aber gings jedesmal von neuem los. Einmal kam der Wirt auch zu mir; ich halte ihn fest, lege den Finger auf den Mund, daß er schweigen solle, und winke ihm, neben mir Platz zu nehmen; denn ich wollte bei dem, was ich vorhatte, gern einen Zeugen haben. Kurz und gut, wir erfuhren beide die ganze Geschichte. Als ich genug wußte, stand ich auf. Gerade, als die Halunken wieder mal so recht unbändig lachten, trat ich urplötzlich herein. ›So, Ihr Leute,‹ sage ich und lege dem Hellmut die Hand schwer auf die Schulter, ›ich habe alles mitangehört. Ihr wißt, der Kantonmaire Wendheim macht mit Spitzbuben kurzen Prozeß, und der Herr wohnt in meinem Hause. Legt Ihr mir hier auf der Stelle zwanzig Taler auf den Tisch als Schmerzensgeld für die armen Leute, die Ihr so niederträchtig geprellt habt, so schweige ich; wo nicht, so sitzt Ihr noch heute Abend im Loche. Herr Heinemann hier ist mein Zeuge. Nun, wie ist's?‹

»Na, die Gesichter hätten Sie sehen sollen! Der Wirt schlug gerade Licht; kreideweiß waren die Halunken geworden. Der eine – es war des Hellmut Schwager – saß Euch da wie ein Häufchen Unglück. Der Hellmut jedoch wollte aufbegehren, schwatzte von einem Spaße, den sie sich wollten erlaubt haben, und gab zu verstehen, daß es mir meiner eigenen Sicherheit wegen geraten wäre, meiner Wege zu gehen; er wüßte genug von mir, das mir, sobald er nur wollte, den Hals brechen würde. Ich ließ mich aber nicht irre machen. ›Was so ein bezahlter Spion von mir spricht‹, erwiderte ich ruhig, ›das ist mir partout egal. Der Justizminister Simeon und auch der Herr Kantonmaire kennt seine Leute. Kurz und gut: wollt Ihr jetzt zahlen oder nicht? Wenn nicht‹ – ich erhob meine Stimme – ›so sitzt Ihr in weniger als einer halben Stunde im Loche, wird's bald?‹

»Was doch das böse Gewissen tut! Die Kerle sahen mich an – meine Miene mochte ihnen wohl nichts Gutes weissagen und zudem – ich hatte ein geladenes Schießgewehr in der Hand. Muxmäuschenstill zogen sie ihre Geldkatzen heraus und zählten richtig jeder seine zehn blanke Taler auf den Tisch. Ich nehme sie, stecke sie ein und sage: ›Nun wohl, Ihr Herren, ich halte mein Wort. Auch Herr Heinemann wird reinen Mund halten; die Anzeige unterbleibt. Aber laßt Euch nie wieder beikommen, arme Bauersfrauen zu prellen, verstanden? Die Quittung werde ich Euch von der Empfängerin besorgen. Adjes!‹ Ich bezahlte die Zeche und ging meiner Wege. Gestern hab' ich der geprellten Familie das Geld überbracht. Die Leutlein hätten mir vor Dankbarkeit wohl die Hände geküßt. Der Mann schrieb in duplo die Quittung über richtigen Empfang; das eine Exemplar behielt ich für alle Fälle für mich, das andere habe ich durch die Magd dem Hellmut zustellen lassen. Na, der Patron wird an mich gedenken, wenn ihm mal wieder solch Gelüst, einen Bauern zu prellen, ankommen sollte. Ich denke, er wird ein Haar drin gefunden haben.«

Die Männer brachen in Beifallsbezeugungen aus.

»Dunnerwehre, Herr Kommerzienrat,« rief der Spittelmeier, »das haben Sie gut gemacht.«

»Ha, war die Lektion dem infamen Kerl aber gesund!« fügte der Subkonrektor mit strahlendem Gesicht hinzu. »Auf Ihr Wohl, Herr Kommerzienrat.«

»Herr Kommerzienrat Bartholomäus soll leben – vivat hoch!« schaltete Veteran Holzapfel ein.

Alle erhoben ihre Gläser: »Hoch, hoch, hoch!«

Dankend stieß der Kommerzienrat mit den Männern an. »Es ist doch gut, wenn einer seine Konnexionen hat,« meinte einer. »Ich hätte dem Kerl nit mit dem Kantonmaire drohen können; er hätte mich einfach ausgelacht.«

»Wer weiß?« entgegnete der Fabrikant. »Der Kantonmaire wohnt in meinem Hause, sonst haben wir partout nichts mit einander gemein. Wo ich kann, gehe ich ihm hübsch aus dem Wege. Mit seinen Damen, seiner Stiefmutter und Stiefschwester, da ist's freilich ein ander Ding; mit denen kommt unsereins besser aus. Die sind« – er dämpfte seine Stimme – »der französischen Wirtschaft so müde wie nur jemand in der Stadt sein kann – ganz das Gegenteil von dem Kantonmaire, der förmlich für den Napoleon schwärmt. Aber das Gute hat der Mann: den Spitzbuben und Faulenzern sitzt er auf den Hacken, und das weiß auch der Hellmut. In seiner Weise ein ganz redlicher Herr – bis auf seine miserabele Franzosenschwärmerei.«

»Sagen Sie doch einmal,« fragte der Veteran, »hat man denn weiter noch nichts von seinem Bruder, dem Professor von Grandenborn, gehört? Die Polizei hatte ihn doch arg auf dem Strich.«

Keiner hatte beobachtet, wie der Handwerksbursch bei der Bemerkung zusammenzuckte. Er hatte den Kopf erhoben und starrte mit großen Augen den Sprechenden an. Es war nur ein Augenblick; gleich darauf sank sein Kopf wieder in die frühere Lage zurück.

»Guten Abend!« rief, ehe jemand die Frage beantworten konnte, eine helle Stimme. Die Männer sahen auf; auch der Handwerksbursch erhob unmerklich den Kopf und lugte verstohlen nach dem Ankommenden hin. Unter der Tür stand ein hochgewachsener Mann, der, den Dreispitz und einen Rohrstock mit silbernem Knopf in der Hand, stilllächelnd seine Blicke über die Gruppe am Tische gleiten ließ. Kinderfüße trippelten hinter ihm; ein frisches Knabengesicht tauchte neben ihm auf; ein paar große helle Kinderaugen glotzten unter seinem Arme hinweg neugierig in die Stube.

»Ei, sieh da,« rief der Schulmann, indem er sich mit einer ziemlich ungeschickten Verbeugung erhob, »Herr Pfarrer Sträubelein – wünsche gleichfalls einen guten Abend! Beliebt es Ew. Hochehrwürden nicht näher zu treten?«

Auch die andern begrüßten den neuen Gast und rückten, ihm Platz zu machen, zur Seite. Mit einem Gesicht, in dessen zahllosen Falten und Fältchen alle Geister der Schelmerei, alle Kobolde beißenden Witzes und neckischen Humors ihr Spiel zu haben schienen, gab der Pfarrer die Schwelle frei und dadurch auch seinem Gefolge, einer stattlichen Knabenschar, Gelegenheit, in die Stube zu treten. Wie die Orgelpfeifen folgten sie, sieben Stück hintereinander, dem Voranschreitenden nach.

»Aha, lauter gute Patrioten, wie ich sehe,« schmunzelte der geistliche Herr und nahm, während die Knaben sich bescheiden am unteren Ende der Wirtstafel zusammendrängten, unter den Männern Platz.

»Hochehrwürden haben, wie es scheint, einen Ausflug gemacht?« ließ sich mit einem lächelnden Blick auf die jugendlichen Gesichter der Subkonrektor vernehmen.

Der Pfarrer nickte. »Ew. Ehren aufzuwarten,« gab er nicht ohne einen Anflug neckischen Spottes zur Antwort. »Bei der schwülen Luft, die jetzt allerorten brütet, und den dicken Nebelschwaden, die auf die Gründe und Täler unseres Hessenlandes sich herabgesenkt und den Leuten die Köpfe benommen und das Gehirn schwabbelig gemacht haben, dacht' ich, willst einmal mit den Jungen einen Streifzug ins Gebirg, auf den Meißner machen.

›Im Gebirg,
Dort unter freiem Himmelsdache, wo
der Sinn noch frisch ist und das Herz gesund‹ –

auf den Bergeshöhen – Du Rudolf,« unterbrach sich der Sprechende und wandte sich an den ältesten unter seinen Knaben, »wie sagt Friedrich von Schiller?«

Mit verblüffender Schlagfertigkeit rezitierte der Junge:

»Ach, aus dieses Tales Gründen,
      Die der feuchte Nebel drückt,
Könnt' ich doch den Ausgang finden,
      Ach, wie fühlt' ich mich beglückt!

Dort erblick' ich schöne Hügel,
      Ewig jung und ewig grün:
Hätt' ich Schwingen, hätt' ich Flügel,
      Nach den Hügeln zög ich hin – –«

» Rectissime, mi fili,« fiel der Vater ein, »aber« ein bitter sarkastischer Zug legte sich um seinen Mund – »die frische Luft der Freiheit sucht man auch auf Höhen und Bergen vergebens. – Herr Einnehmer, bitte, für uns alle ein Vesperbrot und für mich einen Rum.«

Der Einnehmer trug Butter, Brot und Käse auf. Die Butter schob der Pfarrer zurück. »Haben an Brot und Käse genug,« sagte er. »Sind für einen Landpfarrer keine Zeiten zum Butteressen; die Butter würde einem allemal vor Ärger vom Brote fallen.«

Er schnitt die Stücke. Mit mächtigem Appetit fielen die Jungen ein. Die Männer sahen schmunzelnd zu. »Bitte, lassen Sie sich nicht in Ihrer Unterhaltung stören,« sagte der Pfarrer schmausend; »Wovon sprachen Sie doch?«

»Von dem geflüchteten Professor, Herr Pfarrer,« nahm der Kommerzienrat das Wort, »von dem Stiefbruder des Kantonmaires Wendheim. Wissen Sie etwas über ihn?«

Der Pfarrer verneinte. »Nur soviel,« gab er zur Antwort, »daß die gesamte Gendarmerie und die Organe der Geheimpolizei alarmiert sind und Jagd machen auf das edle Wild. Hoffen wir, daß der Hirsch seinen Jägern entschlüpft. Die Nürnberger hängen bekanntlich keinen, sie haben ihn denn. Aber fingen sie ihn, dann gnade ihm Gott. Das Schicksal des Professors und Hofrats Sternberg wäre ihm gewiß. O diese heillose Schwefelbande!«

»St!« machte der Subkonrektor. Er berührte den Sprechenden am Arm und blinzelte erschrocken nach dem Manne in der Ecke hin. »Wir sind nicht allein.«

Der Richtung seiner Blicke folgend, bemerkte der Pfarrer erst jetzt den fremden Gast. »Aha, ein Lauscher,« flüsterte er.

»Aber zum Kuckuck,« stieß er ärgerlich nach einem zweiten forschenden Blick auf den augenscheinlich Schlummernden hervor und sah den Schulmann spöttisch, fast bissig an, »was fürchten Sie denn, Sie ängstliche Seele? Sind wir Hessen denn nun auf einmal Hasen geworden, daß wir uns nicht einmal mehr getrauen sollten, unsere Herzensmeinung über Dinge zu sagen, die vor Jedermanns Augen in unserem Lande geschehen?«

»Immerhin, Herr Pfarrer,« bemerkte der Spittelmeier ernsten Tones, »Vorsicht hat, mit Verlaub, noch keinem geschadet.«

»Die Herren können ohne Sorge sein,« beruhigte der Zolleinnehmer. »Ein Handwerksbursch,« fuhr er flüsternd fort, »ich kenne ihn – stammt hier aus der Gegend. Von ihm ist kein Verrat zu befürchten. Im Übrigen halte ich meine Augen offen.«

»Der arme Sternberg,« nahm der Kommerzienrat wieder das Wort. »Laut aufjammernd um Weib und Kinder soll er, wie man hört, gestorben sein. Nun, was solls?« Verwundert – es hatte ihn jemand an der Schulter berührt – wandte der Sprechende den Kopf. Der Wirt stand hinter ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er stand auf und verließ mit jenem das Zimmer.

»Der arme Kerl,« sagte, an die Äußerung des Kommerzienrats anknüpfend, Holzapfel leise. »Aber das Jammern hätte er lassen sollen. Der Obristleutnant, der alte Emmerich, und Leutnant Hasserodt haben ihre Sache besser gemacht.«

»Es waren Soldaten, mein Lieber,« bemerkte der Pfarrer. »Aber allerdings – kaltblütiger als der alte Emmerich ist wohl kaum jemals ein Mensch in den Tod gegangen. Raucht ruhig, als gings zur Parade, bis zuletzt aus seinem Pfeifenstummel – der Leutnant, der die Exekutionsmannschaft befehligt, erhebt den Degen und kommandiert: ›Fertig!‹ – da wirft der alte Haudegen den Stummel in die Luft mit dem Rufe: ›Es lebe der Kurfürst!‹ – der Tausend, das heiß' ich einen tapferen Soldatentod!«

»Schad' um den braven Hessen!« rief der Veteran mit zuckendem Munde. »Schad' um alle die braven Männer, die seit Anno sechs haben für ihr Vaterland bluten müssen. Na, meine alten Kameraden, die dazumal Anno sieben auf dem Werdchen eine Werrainsel bei Eschwege erschossen wurden, haben auch mit keiner Wimper gezuckt, als das Blei ihre Brust durchbohrte. Hätte Major von Uslar, der sich den Hessenobristen schelten ließ, in dem damaligen Aufstande sich nur halbwegs so benommen, wie heuer der alte Emmerich und die andern – wer weiß wie alles gekommen wäre! Uns arme Narren von dazumal hat der Uslar, so lange, bis nichts mehr zu wollen war, mit seinen Narrenspossen hingehalten, uns hübsch an der Nase herumgeführt, bis die Franzosen über uns kamen und der Geschichte ein Ende machten. Da ging bei uns der Jammer los, unser guter Hessenoberst aber ist hübsch über die Werra ins Eichsfeld geflüchtet, hat seine Haut salviert Die Worte drückten die allgemeine Stimmung jener Veteranen aus. Uslar meinte es redlich, war aber der Sache nicht gewachsen. und soll jetzt wieder, wie man hört, eine Anstellung bei den westfälischen Truppen gefunden haben … Verdowweri, mag er hin sein! Vielleicht, daß ihm auch noch einmal einer der neuen Orden ins Knopfloch fliegt, die der Jérôme hat aufgebracht, während die Schießerei auf dem Forste lustig weitergeht.«

»Ja, die geht allerdings lustig weiter,« bekräftigte der Pfarrer mit bitterem Hohne. Die Männer umher machten ernste, bekümmerte Gesichter. »›Immer lustik!‹ ist ja die Losung in Kassel,« fuhr jener fort. »Auch vorige Woche sind, wie im Moniteur zu lesen, wieder an die achtzig Refraktairs Deserteure, die sich der Konskription entzogen hatten. von den Gendarmen eingebracht und, zum Tode durch Erschießen verurteilt, nach dem Forste abgeführt worden. Ihrem landesväterlichen Herzen folgend, haben Königliche Majestät jedoch noch im letzten Augenblicke geruht, die ganze Schar bis auf fünf oder sechse zu begnadigen, und die Begnadigten haben – ganz freiwillig, natürlich! aus reiner Dankbarkeit – an den Leichnamen ihrer erschossenen Kameraden gerufen: › Vive le roi!‹ Liebchen, was willst du noch mehr?«

Eben trat der Kommerzienrat wieder ein. Es dunkelte stark. Einen ernsten Ausdruck im Gesicht schielte er einen Augenblick nach dem Handwerksburschen hin; dann nahm er ruhig seinen Platz wieder ein.

Das Rasseln eines Wägleins ließ sich hören. Der Spittelmeier, der dem Fenster gegenübersaß und gerade hinausgesehen hatte, fuhr empor.

»Dunnerwehre,« rief er, »es ist der Kantonmaire – er fährt gerade in den Hof. Da ist's Zeit, daß man sich dünne macht. Wer geht mit, Ihr Herren?«

Niemand außer dem Kommerzienrat bemerkte, wie der Handwerksbursch plötzlich wie in jähem Erschrecken zusammenzuckte, mit einer blitzschnellen Bewegung die Beine unter dem Tische hervorzog und den Kopf rückwärts gegen den Kachelofen lehnte, sodaß seine Gestalt fast völlig dahinter verschwand.

»Donnerstag« rief der Veteran, »das wäre der Deiwel! Wer Lust hat, mag hie gebliewen – ich gehe.«

Die Bemerkung bildete das Signal zu einem allgemeinen Aufbruche. Die Männer stürzten den Rest ihres Bieres hinunter und beeilten sich ihre Zeche zu berichtigen. Nur der Geistliche blieb mit seiner Gefolgschaft zurück. In anscheinend größter Gemütsruhe verzehrte er sein Mahl. Die Abgehenden wünschten ihm einen guten Abend und verließen das Haus. Auf dem Hofe sahen sie bereits Frau und Tochter des Wirts sich um den Neuangekommenen mühen; mit flüchtigem Gruße gingen sie vorüber.

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