J. C. Heer
Felix Notvest
J. C. Heer

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XXXV.

»Es ist eine Freude zu leben!«

Mit Karl Wehrli ist ein ganzes Volk von Glück und Lust erfüllt und hebt seine Schwingen. Es lebt den »großen Sommer«, wie man späterhin die Zeit der ersten Ausstellung mit Vorliebe genannt hat. Züge und Sonderzüge führen die Menschenwogen ununterbrochen nach der Stadt, durch ihre Straßen pilgert das Volk in gehobener Stimmung, und überall entwickeln sich die Bilder malerisch frohen Lebens. Hirt und Bauer, Winzer und Säer, die Männer der schwieligen Hand und die Arbeiter im Felde des Wissens, der behäbige Bauer mit seinem Weibe, der Großvater mit seinem Enkel, der junge Mann mit seiner Braut, der Fabrikant mit seiner Gehilfenschar, der Lehrer mit seiner Schule, Gesellschaften mit wehenden Bannern durchpilgern die Stadt, sie drängen hinaus an den lachenden See zur Arbeitsrundschau der Heimat, einer sagt es zu dem anderen, in Liedern und hohen Reden singt es und klingt es: »Das Land blüht, es ist eine Freude, zu leben!«

Wer aber thut es in Lebenslust der fröhlichen Sigunde Hohspang gleich?

Sie wird nicht müde, mit ihrem Sohne durch die volkreichen Straßen zu fahren oder zu reiten, durch die Ausstellung zu wandeln, sich begrüßen zu lassen und selber wie eine huldvolle Königin zu grüßen und zu nicken. Die Augen des Volkes wissen nicht, wem sie in höherer Bewunderung folgen sollen, ob dem weichlockigen Jüngling, dessen lebendige Augen groß, sonnig und siegreich blicken, dessen schöngeschwungene Lippen in jugendlichem Glücke, Mut und Lebensfülle lächeln, oder dem stolzen Frauenbilde, das die nur um ein paar Jahre ältere Schwester des Jünglings zu sein scheint. Die Blicke der Männer hängen wohl mehr an der seltenen Frau, von welcher der verklärende Schimmer der Jugend nicht weichen will, diejenigen der Mädchen verwirren sich im Anblick des Jünglings, um den die Zauber unentweihter Kraft und Gesundheit walten, und dessen vollendet schönes Bild durch keines jener Fleckchen gestört wird, welche die Natur sonst auch ihren Lieblingen nicht erspart. Die geheimnisvolle Macht, die Frauen- und Männerschönheit von jeher auf das Volk geübt hat, ist wirksam um Sigunde und ihren Sohn! Die Herzen stiegen dem herrlichen Paare zu, Sigunde aber bereitet aus dem Born ihres Reichtums sich selber, der Stadt und dem Volke Wunder um Wunder.

Jeden Abend richten sich die Blicke erwartungsvoll nach der Villa Venedig, dieser Insel des Glücks. Die kunstsinnige Herrin enttäuscht die Harrenden nicht. Eine Rakete schießt aus dunklen Baumkronen in die Luft. Mit einem Schlag sind Villa und Garten ein Märchen des Lichts, prasselnde Feuerwerksgarben sprühen auf gen Himmel und spiegeln sich in der Tiefe des Sees, aus den verschwiegenen Buchten gleiten mit bunten Laternen behangene Boote. Magisch erglänzen die Wasser, weiche Musik erfüllt die Nacht und steigt empor zu den Sternen. Herren und Damen in sommerlichen Gewändern lustwandeln auf den hellerleuchteten Rasenplätzen, und es besucht keine wissenschaftliche, künstlerische oder technische Gesellschaft die Ausstellung, ohne daß sie, wenn sie einiges Ansehen hat, von der Besitzerin der Villa Venedig zu Gaste geladen wird. Aber auch den Kindern aus den Waisen- und Armenanstalten, den siechen Greisen und Matronen aus den Altersasylen, die durch die Ausstellung geführt werden, bereitet Sigunde freudige Feste, und kein Gast scheidet ohne einen Sonnenstrahl im Herzen aus der Villa Venedig.

Weit über die Landesgrenzen hat diese Stätte fürstlicher Gastfreundschaft einen geheimnisvollen Ruf erlangt, wie wenn darin eine gütige Fee mit Zauberhänden waltete. Berühmte Männer der Kunst und der Wissenschaft rechnen es sich zur hohen Ehre an, Sigunde Hohspang ihre Freundin nennen zu dürfen.

Und dennoch flackert in den verborgensten Gründen der seltsamen Frauenseele ein wildes Feuer des Hasses.

Erbarmungslos haßt sie Felix Notveft, seit er die kleine Geigenspielerin zur Frau genommen hat, doch ist es ein ohnmächtiger Haß, der sich nicht in Thaten umsetzen kann. Denn er ist weiß durch ihre Schuld, und seit sich an Fredy Cella ein schreckliches Geschick erfüllt hat, geht ein lähmendes Schicksalsgrauen durch ihre einsamen Stunden. Der arme Fredy Cella! In einer vornehmen Privatanstalt hat sie sür ihn eine Versorgung getroffen, wie es sich für ein gefallenes Genie gebührt. Er hat alles, was sich seine ausschweifenden Launen wünschen. Nur besucht sie ihn nie, sie meint, sterben wäre leichter als Cella wiedersehen.

Um den Namen Felix Notvest aber, den sie wie den Tod haßt, webt sich ein neues wunderbares Licht.

Wenn die Besucher der Landesausstellung den Glanz der Gegenwart gesehen haben, treten sie an die Kunst der Vorfahren heran, sie wandeln von jenen fernen Zeiten an, wo das Volk in den Höhlen der Berge wohnte oder seine Hütten über den Wassern der Seen aufschlug, durch lebensvolle Bilder der Geschichte, durch tausendjährige schlichte Klosterpforten, durch wappengeschmückte Ritterstuben, und plötzlich blüht ihnen die Kunst jener großen Zeit entgegen, in welcher das Land seine Freiheitsschlachten geschlagen hatte, das vorher arme Volk zu Wohlstand gelangt war und einen jahrhundertlangen Frühling nationaler Kunst erlebte.

»Denkmäler aus der ehemaligen Abtei Reifenwerd!« lautet die Aufschrift der strahlenden und funkelnden Glasgemälde.

Die Besucher schreiten staunend weiter, sie treten in das Zimmer der letzten Äbtissin von Reifenwerd mit den farbigen, flachgeschnitzten Friesen, dem bunten Rankenwerk und den humorvollen Spruchbändern. Sie wandern durch die ehrenfesten Ratssäle kleiner Städte, sie ruhen in alten, gemütlichen Städter- und Dörflerstuben, und dem Bürger und dem Bauern wird das Herz in den kunstgeschmückten Hauswesen der Vorfahren weit. Sie erfreuen sich an den alten schönen Öfen mit den Bilderkacheln, die Frauen können den Blick fast nicht von den Blumen, Sommervögeln und ländlichen Scenen der buntbemalten Geschirre wenden, die Handwerker schauen still und verlegen nach den blanken Meisterstücken der Schlosserei aus der Zeit der Zünfte, nach den geschnitzten Truhen und Schränken der Renaissance und flüstern einander zu: »Unser gegenwärtiges Können bleibt hinter der Kunst der Alten zurück!« Jeder Besucher läßt sich durch die Bilder der Vergangenheit fesseln, der eine, weil er spürt, daß er da Anregung für seine eigene Arbeit holen könnte, der andere, weil sie ihn so merkwürdig anheimeln, und die Frauen sind die lebhaftesten Schwärmerinnen für die alte Kunst!

Sie gilt in den Augen des Volkes als die Krone der großen Arbeitsrundschau und wirkt wie eine große freudige Entdeckung aus dem verflossenen Leben des eigenen Volkes.

»Sonderbar,« sprechen die Besucher, »uns ist in der Jugend immer erzählt worden, wie meisterlich die Vorfahren in den Schlachten dreingeschlagen haben, aber wer wußte, daß sie in Friedenszeiten ihre Häuser mit so viel gemütvoller, sinniger Kunst geschmückt haben!«

Ein schönes, neues Blatt der ruhmvollen Landesgeschichte liegt vor aller Augen aufgeschlagen. Man spricht davon in Palast und Hütte, die Blätter bringen, sich auf den Katalog Felix Notvests stützend, Schilderungen und Aufsätze, die den mächtigen Eindruck des selbstgenossenen Anblicks vertiefen.

Zugleich hört das Volk, wie in anderen Ländern Fürsten, Regierungen, Gesellschaften, die weite Provinzen umspannen, schon seit einer Weile erstaunliche Summen für die Erwerbung und Erhaltung geschichtlicher Kunstdenkmäler aufwenden und wie die Erzeugnisse, in denen sich Sinnen und Denken und das eigenartige Leben der Stammesvorfahren spiegeln, beinahe unermeßliche Werte erlangt haben. Es empfindet eine tiefe Beschämung, daß die herrlichen Handwerks- und Kunsterzeugnisse der Vorfahren leihweise aus dem Auslande haben zurückgebracht werden müssen.

Alte Geschichten erwachen und erscheinen dem Volk in einem anderen Lichte als damals, wo sie geschehen sind. Mit Überraschung hört es: »Die besten und wertvollsten Kunstdenkmäler von Reifenwerd sind unter der Regierung Robert Hohspangs um einen Bettelpfennig verschleudert worden! Nur eine einzige Stimme im Lande erhob sich damals dagegen, diejenige Felix Notvests, des blutjungen Pfarrers, aber sie blieb ohne Hilfe und wurde verhöhnt. Der junge Mann schlug damals vor, man möchte aus der Abtei eine Ruhmeshalle für die Väter gestalten, wie man es jetzt nennen würde: ein Nationalmuseum!«

»Nationalmuseum!« Wie ein Funke, der in dürres Gras fällt, fliegt das Wort als Flamme über das Land. »Nationalmuseum!« ruft der Osten, im Westen hallt es wieder, und der Norden und der Süden reichen sich darüber die Hände. »Es ist eine heilige Pflicht des Landes, daß es das Erbe der Väter wahre und, was in fremden Besitz übergegangen ist, für die kommenden Geschlechter zurückerwerbe, zuerst als Grundstock die Sammlungen Lombardis!«

Es ist noch nicht zu spät. In dem ehemaligen Foulardhändler, der, mit dem künstlerischen Spürsinn des Südländers begabt, die damals verachteten Dinge wie ein Schatzgräber zusammenraffte, erkennt das Volk eine Gestalt von geschichtlicher Sendung, die ihm ein Nationalgut erhalten hat. Und seine Sammlung, so hört man, ist käuflich.

Allerdings erschreckt seine Forderung– eine Million!

Kaum hat aber je eine Bewegung, die nicht das unmittelbare Tagesleben berührt, das Volk so rasch, so tief, so nachhaltig ergriffen, wie die für die vaterländische Kunst.

Mit dem Rufe »Nationalmuseum!« fliegt der Name Felix Notvest durch das Land. Der Urheber des Gedankens war doch er, der feurige Pfarrerjüngling, und mit heiliger Scheu schauen die durch den Tempel der alten Kunst Dahinpilgernden den weißlockigen Mann mit dem Zuge des Leidens im blassen Gesicht.

Man spricht von ihm, nicht von Sigunde Hohspang, die es doch mit ihrer Bürgschaft ermöglicht hat, daß die Sammlungen Lombardis der Landesausstellung einverleibt wurden.

Wie das sie kränkt! Jetzt wäre die Zeit, ihm eine Abtei zu bauen. »Nein, niemals!« Sie stellt sich dem Gedanken eines Nationalmuseums feindlich gegenüber. Es würde ja doch nur ein Denkmal für Felix Notvest.

Allein, was hilft ihr Widerstand!

Die Herbstnebel wallen über dem See, die Sonne, die sie endlich durchbricht, bescheint die Ausstellung, die die Freude und der Stolz des Landes gewesen ist, die Freund und Gegner einte und die Herzen höher schlagen ließ, zum letzten Male. Das Volk kann sich getrösten: Aus dem schönen Vorübergehenden ist der Gedanke des Bleibenden erwachsen.

Das Nationalmuseum wird erstehen!


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