J. C. Heer
Felix Notvest
J. C. Heer

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XXXIII.

Die Räder in Reifenwerd laufen wieder!

Es ist aber ein fauler Friede, den Felix Notvest vermittelt hat, eine im Heimlichen gärende Unruhe und Verbitterung ist unter den Arbeitern geblieben, sie sind mit dem Ausgang des Streiks nicht zufrieden: »Warum hat uns der Pfarrer eine so kurze Bedenkzeit gegeben? Wir sind jetzt die Betrogenen!« Oberst Fürst hat auch kein Interesse, den Pfarrer von dem Vorwurf rein zu waschen, daß er in seinen Maklerdiensten lässig gewesen sei. Im Gegenteil! Aus dem Comptoir schleicht sich die Nachrede in die Werkstätten, um die ledigen Ausgesperrten habe sich Felix Notvest gar nicht bemüht.

Am Samstagabend vor der Bestätigungswahl des Pfarrers schneit es Flugblätter aus der Buchdruckerei Heuelers in alle Häuser von Reifenwerd hin. Ihr Stichwort ist: »Nieder mit dem Apostaten!« Und der Anschlag glückt! Die Zahl der »Nein«, die auf Felix Notvest gefallen sind, überwiegt die der »Ja« um ein Wesentliches. Man glaubt zuerst an einen Fehler in der Zählung, aber keine Prüfung kann das Ergebnis umstürzen. Unter einem Gesetze, das er mit dem hohen Mut der Jugend, in unerschütterlichem Vertrauen in die Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit des Volkes, im Widerspruch mit seinen Amtsbrüdern vor den Räten befürwortet und verteidigt hat, liegt seine Ehre begraben.

»Verworfen, verworfen von meinem lieben Reifenwerd! Was habe ich denn dir, meine Gemeinde, Böses gethan?« stöhnt der Pfarrer.

Es ist wohl der dunkelste Tag im Leben Felix Notvests, obgleich er über anderen dunklen Tagen vor der Zeit schneeweiß geworden ist.

Er klagt nicht, er weint sein Elend in sich hinein, nur seine Blässe und die Ablehnung jedes Trostes verrät, daß er leidet. In der Gemeinde wütet die Reue und ein Entrüstungsschrei gegen diejenigen von Reifenwerd bebt von Grenze zu Grenze des Landes. »Welchen Ansichten er immer gehuldigt hat, die Leidenschaft seines Herzens war die Sorge um das Glück des Volkes, er hat niemals einen Vorteil für sich gesucht, was er schuf, schuf er für die anderen!« Mancher ehrbare Bürger fragt sich bange:

»Wohin steuern wir, wenn solche Verhetzungskünste an den Besten des Volkes möglich sind?« Doch die Teilnahme bewegt den Pfarrer so wenig wie die bleiche Schadenfreude, die da und dort in einer Ecke des Landes lächelt, so wenig wie das Wort »Apostat«, mit dem so mancher Reifenwerder die That himmelschreiender Undankbarkeit bemäntelt. Er spürt nur, wie sein Vater, der ehrfurchtgebietende Greis, gelitten hat, als ihm die Partei seines Sohnes die Antisteswürde entwand, die er treu seinem Gott, treu seinem Volke verwaltet hatte.

Ein Groll faßt ihn gegen die politische Thätigkeit, gegen die Partei, welche die altehrwürdigen Einrichtungen der Landeskirche aufgehoben hat, die den Lebensabend seines herzensreinen frommen Vaters verbitterte, indem sie den verdienten Mann um Amt und Würde brachte. In einem Brief, der es wohl erkennen laßt, wie ihn das Heimweh nach seiner patrizischen Jugend erfüllt und in dem er die Absicht äußert, nur noch der Kunst zu leben, sagt er sich grundsätzlich von der Politik und Partei los, die seine Herzenssache eigentlich nur gewesen ist, als es sich um eine erbarmende That für die arme Fabrikjugend handelte.

»Die Arbeiter von Reifenwerd haben recht. Felix Notvest ist an den Leitsternen seiner fruchtbaren öffentlichen Thätigkeit Apostat geworden. Welches schmerzliche Schauspiel!« Das schreiben einige Zeitungen, man spricht es nach, und so entsteht die Legende »Der Apostat von Reifenwerd!«

Unter Spott und Schmerzen wandelt Felix Notvest.

»Es ist gut,« wendet er sich an Frau Wehrli, »daß Christli nicht heimgekehrt ist, wie ich es so heiß gewünscht habe. Jetzt bin ich nicht mehr mutig genug, ihr Los an das meine zu knüpfen. Ich bin jetzt ein kleiner, vernichteter Mann, der Mühe genug hat, sich allein durch das Leben zu schlagen. Mein schönes Vaterhaus gehört nur noch dem Namen nach mir. Die Gnadenstellung, mit der mich der Regierungsrat für den Verlust meines Pfarramtes schadlos halten wollte, nehme ich nicht an, und als Kunstschriftsteller verdiene ich nicht das trockene Brot für mich selbst.«

Frau Wehrli ist anderer Ansicht, sie meint im stillen für sich, daß das Christli jetzt kommen sollte. Der Pfarrer ist ein herzwunder Mann und dafür ist kein Kraut gut als die Liebe.

In die Traurigkeit dieser Tage tritt ein alter Bekannter, Joseph Lombardi, der quecksilberne Händler, der schon lange nicht mehr mit seinen Warenbündeln durch das Land wandert, sondern sich zum Rentner herausgewachsen hat und den heimlichen Stolz auf sein Museum nicht ganz verbirgt.

»Sind wir ihm noch etwas schuldig?« durchzuckt es Frau Wehrli beim Anblick des eisgrauen Männchens, als lebte sie noch in vergangenen Tagen.

Nein, der Antiquar kommt zu Felix Notvest, er bittet den Pfarrer, daß er die Herstellung eines illustrierten Kataloges mit kunstgeschichtlichen Abhandlungen über die Sammlungen in Rheinsee übernehme.

Da horcht der düster Brütende auf: »Wenigstens ein schönes Arbeitsfeld!«

»Und Sie werden sich dabei nicht schlechter denn als Pfarrer stellen,« erwidert Lombardi, die dürren Hände reibend.

In das stille Leid Felix Notvests kommt nun nur noch ein schwerer Tag. Die Abschiedspredigt und der Abschied von Reifenwerd. Wohl haben Hände der Liebe die Kanzel und die Kirche wie für einen Sieger geschmückt, aber sie füllt sich nur schwach mit Andächtigen. Die Reifenwerder schämen sich, ihrem treuen Pfarrer unter die Augen zu treten, sie wissen schon, daß sie beim ersten Klang seiner Stimme die Fassung verlieren und schreien würden: »Wir sind es nicht wert, daß du zu uns redest!«

Wie die Glocken verhallen, tritt noch eine junge Dame im Reisekleid in das Gotteshaus und stellt sich bescheiden in eine Ecke.

Die umflorten Augen des Pfarrers haben sie erspäht. Ihm ist, das Glück sei erschienen.

Und siehe da! – Wie der Gemeindegesang verklungen ist, wie er machtvoll zu sprechen beginnt, da versinken die Worte wehmütigen Abschieds in einer herrlichen Maienpredigt auf Gottes unendliche Güte, und die Predigt endet in dem Gebet: »Der Herr lasse sein Angesicht über dir leuchten, liebes Reifenwerd, und gebe dir seinen Frieden!«

Da ist allerdings kein Auge trocken, und die Frage brennt in den Seelen: Wie kann denn eine Gemeinde Frieden finden, die das treueste Herz verraten hat?

Als sich die Dörfler, die dem Pfarrer die Hände reichen, langsam zerstreuen, wartet die feine, schlanke Fremde, bis der Pfarrer als letzter aus dem Gotteshause tritt, das er verloren hat.

Demütig und erglühend senkt sie das Haupt.

»Christli!« schluchzt Felix Notvest.

Sie aber fleht und stammelt, seine Hand in jähem Drange ergreifend: »Verzeihe mir, Felix, daß ich so lange gesäumt habe!«

Droben am Waldbrunnen der Steige, der frisch und klar an der seit der Eröffnung der Eisenbahn verödeten Straße plaudert, wandelt das Paar im Sonntagabendfrieden durch blühende Maililien dahin. Der verratene Pfarrer geht nicht ohne Trost aus seiner Gemeinde, die seine Kraft gebrochen hat.

Neben ihm wandert Christli.


Wie singt und klingt das Lied der jungen Liebe! Wie, kaum den Kinderschuhen entschlüpft, ein Jüngling und ein Mädchen sich fliehen und doch zugleich durch Not und Tod sich suchen müssen, ist das süßeste Geheimnis der Weltdichtung. Aber ein heiligeres Glücksgeheinmis ist Samariterliebe, welche das leiderfahrene Weib am Manne übt, der wetterzerschlagen auf dem Zenith der Jahrbogen geht. So fühlt es Felix Notvest, wenn er seiner Christli in die Augen blickt. Nur ein leiser Kummer begleitet ihn: daß er sie früh verlassen müsse. Die Kränkung durch die Gemeinde Reifenwerd hat ihm einen fast nicht zu überwindenden Stoß versetzt.

Das Leid weiht seine Liebe!

Wie schön Christli ist! Ob sie jetzt auch das doppelte Alter der blutjungen, schüchternen Konfirmandin hat, die sich in das Gesicht des feurigen Pfarrerjünglings verschaut, sie ist doch jung. Der Ernst, die herbe, abwehrende Anmut veredeln ihr Gesicht, und wenn ihre dunklen Augen dann und wann so traurig blicken, als hätte sie alle Bitterkeit der Welt ausgekostet, so können sie doch auch aus dem schmalen, hübsch gerundeten, frischen Gesicht unter den langen Wimpern hervor so hell ins Leben scheinen und blitzen, als wäre das ihre nichts denn blühender Frühling. Ihr Wesen atmet, ob sie auch keine Künstlerin geworden ist, doch die verhaltene Glut des künstlerisch empfindenden Weibes, und ob ihr gleich die üppigen Formen fehlen, ihr Körper etwas Strenges hat, in ihm wohnt doch ein herzfeiner Geist, eine zart schwingende Seele! Wo die sind, ist Jugend! Was für Süßigkeit hat die herbe Christli, wenn sie »Felix« flüstert!

Das neuvermählte Paar verlebt im alten, romantischen Städtchen Rheinsee, am Strom und auf der gebrochenen Burg, die es überragt, mit dem alten Mütterchen, aber fern von den Bekannten, ein wunderglückliches Jahr. Mit wahrer Lust führt Felix Notveft die interessante Katalogisierung der prächtigen Altertumssammlung Lombardis aus. Dazu erfüllen die gehaltenen Töne der Geige Christlis das schlichte Heim mit goldenem Klang, und der etwas menschenscheu gewordene Pfarrer hat die Welt und ihre Kämpfe vergessen. Ganz entziehen kann er sich den Bekannten allerdings nicht.

Immer kommen Besuche aus der Heimatstadt in das Museum. Einmal hört er auch wieder von Sigunde.

Ihr ganzes Sinnen und Denken steht im Dienste der Landesausstellung, zu der sich die langen, großen Vorbereitungen unter glücklichen Sternen und der treuen Mithilfe von Leuten aus allen Ständen und Lagern vollenden.

Aus Eigenem und angeregt durch Kunstfreunde, die in ihrer Villa verkehren, betreibt Sigunde Hohspang nach dem Beispiel der opferfreudigen Begeisterung, die in anderen Ländern für die Dinge und Erzeugnisse, Bilder und Formen vergangener Jahrhunderte erwacht ist, einen großen Plan. Die Sammlungen Lombardis sollen nämlich eine Weile wenigstens im Land ihres Ursprungs, in der Landesausstellung, vor dem Volke zur Schau gelangen und den großen Bildern blühender Gegenwart diejenigen aus der reichen Vergangenheit des Landes gegenübergestellt werden.

»Muß denn das ruchlose Weib ihre Hand in allem, haben,« grollt Felix Notvest.

Denn was Sigunde unternimmt, ist eigentlich sein Gedanke.

Schon hat sie sich zur Hinterlegung der gewaltigen Summe bereit erklärt, die der Antiquar als Sicherheitsbürgschaft für seine Sammlungen fordert, da erklärt Lombardi auch noch: »Vorsteher der alten Kunst muß Felix Notvest werden, die Schlüssel zu meinen Besitztümern gebe ich in keine andere Hand.« Frau Hohspang zürnt, aber der Kauz bleibt fest, Felix Notvest wird der Hüter der einzig schönen Sammlung vaterländischer Altertümer.

Er zieht mit seiner Christli ins alte liebe Vaterhaus am Strom der Heimatstadt.

»Die letzte Rast,« lächelt er ihr wehmütig zu, »in diesen traulichen Räumen magst du mir, wenn meine Stunde da ist, die Augen schließen.«

Ihre dunklen Sterne schauen ihn bänglich an, sie küßt ihn. Sein armes Herz geht zu schnell, es stockt, dann eilt es wieder, als käme es nicht früh genug ans Ziel. In den Zeiten des Kampfes ist es so wild und widerspenstig geworden, das arme Herz!


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