J. C. Heer
Felix Notvest
J. C. Heer

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XV.

Auf Schlößchen Reifenwerd ist fröhlicher Besuch eingetroffen – Frau Sigunde Hohspang!

In heller Seide wandelt sie neben ihrer Schwägerin Frau Kitty Fürst, die dunkel gekleidet ist, durch den im ersten Anhauch des Frühlings schwellenden Garten. Das Gewand fließt ihr wundervoll um die schmiegsamen Glieder, in die Stirn hängt das blonde widerspenstige Löckchen, die graugrünlichen Augen leuchten und strahlen in geheimnisvoller Kühle, und um den frischen, üppigen Mund spielt schalkhafter Uebermut.

»Und also nicht eine einzige Bilderscheibe in den Veranden?« spricht sie schelmisch.

»Es war dem Händler nichts abzuringen,« erwidert die aschblonde Schwägerin mit ihrer gewohnten Zurückhaltung, »der Verkauf ist die einzige unüberlegte Handlung Rudolfs gewesen!«

Eben läutet die Fabrikglocke zur Mittagspause und die Frauen treten in das Haus. Auf einer Chaiselongue behaglich hingelehnt, schaut Sigunde zerstreut nach der ehemaligen Abtei hinüber, aus deren Thor, wie ein Zug dunkler Ameisen, die Arbeiter und Arbeiterinnen strömen, jung und alt, zusammen mehrere Hundert, darunter besonders viel halbwüchsige Jugend.

Einige Gruppen hasten über die Brücke gegen das Dorf, die einen laufen barfuß und ohne Kopfbedeckung in bloßen Hemdärmeln, in Schlappschuhen, Bluse und Mütze, andere wenden sich gegen die Spinner- Häuser, die Rudolf Fürst neben dem ehemaligen Gemeindekirchhof hat bauen lassen und sich gleichförmig, lang und niedrig wie Schuppen dahinziehen. Noch andere setzen sich einfach an die Mauer des Friedhofs und verzehren da im Märzsonnenschein aus Schüsseln und Papieren ihr Mittagbrot.

Sigunde schaut auf das Treiben hinaus. »Wenn ich die Wahrheit sagen soll, so wäre eine Fabrik vor den Fenstern nicht meine Liebhaberei, das geht gegen meinen Schönheitssinn, da lobe ich unsere reizende Villa. Blauer See, weiße Segel, ferne Berge!«

»Die Erträgnisse der Fabrik verschönern aber das Leben auch in der Villa Venedig,« versetzt Frau Kitty, die einen prüfenden Blick über die Mittagstafel wirft, etwas gereizt, »man soll den Vogel, der Gold im Schnabel bringt, nicht tadeln.«

Erst jetzt, wie sich alle Arbeiter verlaufen haben, kommt Rudolf Fürst erregt und erhitzt in die Wohnung. »Wenn nur der Teufel die Spinnerei holte! Gut, daß man wenigstens seinen Börsentag hat und daß ich bald für ein paar Wochen in den Militärdienst einrücken kann. Da ist man doch wieder Mensch, grüß dich Gott, Sigunde!«

»Meinen Glückwunsch zu deinem Hauptmannstitel,« erwidert die Schwester. Er aber wirft sich erschöpft in einen Stuhl, Sorge und Ueberarbeitung haben ihre Spuren in sein Gesicht gezeichnet.

»Hier ist das Haus, die Fabrik ist drüben; es ist nicht erlaubt, den Geschäftsverdruß in die Wohnung zu tragen,« versetzt Kitty verweisend.

»Da habt ihr Frauen leicht reden,« erwidert Rudolf Fürst finster, »grad vor zwölf habe ich ein Unglück verhüten können. Es ist stets die gleiche Geschichte. Sobald man nicht bei ihnen steht, schwatzen die dummen Mädchen. Man taucht in einer Ecke auf, da stürzen sie an ihre Maschinen, stecken die Hände in das Getriebe hinein oder begehen sonst einen Unsinn. Soeben habe ich einem Mädchen den Zopf abgeschnitten, mit dem es in die Transmission verwickelt worden ist – einen Augenblick später – doch ich will euch das Mahl nicht verderben – nun, Sigunde, wie steht es in der Villa Venedig?«

Geschäftsmäßig fragt er, eilig und unbehaglich ißt er.

Sigunde aber plaudert vergnügt von den mannigfaltigen Besuchen, die sie in der Villa Venedig empfängt, von der Bewunderung, die das Landgut bei allen Gästen erregt, das einfache, doch geräumige Haus in italienischem Stil, seine Veranden mit den leichten, farbenfreudigen Malereien nach venetianischen Motiven, die Aussicht durch die Reihe alter hochstämmiger Platanen auf den von Segeln belebten See und die fernen Schneeberge, die Rosenguirlanden an den heimlichen Wegen und die stillen kleinen, von Sträuchern und Schilf umwachsenen Buchten, in denen die Vergnügungsboote liegen.

»Bei uns ist ein stetes Kommen und Gehen von Leuten, gewöhnlichen und ungewöhnlichen, faden und geistreichen – der fadeste ist natürlich Alfred!« sprudelt sie lachend heraus.

»Ich finde es ohne Geschmack, daß du dich über deinen Mann lustig machst,« rügt Frau Kitty, »man wird sagen, du habest ihn nur wegen seines Reichtums genommen!«

»Warum soll man es nicht sagen?« erwidert Sigunde mit kampflustig aufblitzenden Augen. »Gott, ich habe ihn doch nicht wegen seines Geistes nehmen können, diese Thorheit wird mir niemand zutrauen: Gerade deswegen, weil ich nicht enttäuscht bin, finde ich mich aufs glücklichste mit meinem Schicksal ab. Und man hat ja doch auch seine Zerstreuungen. Habt ihr den Namen Fredy Cellas, des Violinvirtuosen und Komponisten, schon gehört? Er ist ein großer Künstler, hält sich selber für ein Genie, und sein ganzes weiches Wesen ist wie eine Bitte an die anderen, daß sie ihn auch als solches anerkennen möchten. Ich thue es natürlich. Nun flammen mir die schönen, melancholischen Augen entgegen, die wilde, unstete Seele ist mir völlig ergeben, so daß ich nur hinzublicken brauche, und seine Kunst liegt mir zu Füßen. O diese Musikabende auf Villa Venedig! Ich trage dazu das Dominikanerinnenkleid, er ein dunkles Sammetkostüm, die Lichter lassen wir rot verhängen, und in seinen ausschweifenden Tönen entsteht für mich eine fremde Welt. Da kann ich träumen!«

Erst jetzt bemerkt Sigunde das strenge Gesicht Kittys, die schon wieder einen Tadel bereit hält.

»Keine Entrüstung, liebe Schwägerin,« lacht sie, »Cella ist ein durchaus anständiger Mann, du würdest die Eltern meines ungetreuen Pfarrers damit beleidigen, wenn du etwas anderes annehmen wolltest, sie haben ihn nämlich schon letzten Herbst, bald nachdem er in der Stadt aufgetaucht ist, als Lehrer des Violinspiels für jene Spinnerin Christli angestellt, die sich über das Wehr geworfen hat. Ja, horch nur, Ruedi! In einigen Jahren wird eine Künstlerin von Ruf aus deiner Spinnerei hervorgegangen sein, das heißt, wenn man ihr die Laufbahn nicht abschneidet! Cella schwört es bei seiner edlen Melancholie und seiner kastanienbraunen Künstlermähne, sie sei ein großes und ausgeprägtes Talent!«

»Wer sollte ihr denn die Laufbahn abschneiden?« fragt Kitty kühl.

Da blitzt es aus den grünlichen Augen Sigundens: »Dem kleinen Götzen, der mir meinen Felix abtrünnig gemacht hat? Als ich Cella in die Villa Venedig einladen ließ, war etwas wie Berechnung dabei, und ich dachte nicht, daß wir wirklich so befreundet würden.«

Sie lächelt verträumt, dann fragt sie plötzlich: »Was denkst denn du, Ruedi?«

»An den Bruder des Mädchens, den ehemaligen Werkführer Wehrli. Sein Name klingt überall durch die Webindustrie, von einer Fabrikbörse zur anderen. Er hat einen Stuhl erfunden, der in der mechanischen Weberei eine Revolution bedeutet. Die Weber, die nicht Wehrli-Maschinen anschaffen, sind ruiniert. Es ist fabelhaft! Den Vorteil haben die Franzosen. Gescheiter wäre es gewesen, ich hätte ihn behalten können, und er hätte für mich eine tüchtige Erfindung gemacht. Ich wollte auch lieber eine rechte Maschinenfabrik einrichten, als Baumwolle spinnen – doch das kommt vielleicht noch – zunächst heißt es, alle Kraft für die Eisenbahn einsetzen, die von Rheinsee bis ans Gebirge gebaut werden soll. Sie muß Reifenwerd berühren!«

»Vorher, Ruedi, kommt noch etwas anderes,« versetzt Sigunde, die sich eben einen Apfel schält; »ich habe dir den Appetit nicht verderben wollen, darum bringe ich es zum Nachtisch. Hast du schon Wind von der Eingabe der Schulbehörde Reifenwerd wegen deiner Fabrik?«

Er schnellt von seinem Stuhl aus und durchfliegt das Blatt, welches Sigunde ihm reicht. »Was? Eine Untersuchung meiner Spinnerei wegen ungebührlicher Kinderarbeit durch eine regierungsrätliche Abordnung begehren sie? Der Teufel soll mich holen, wenn ein Mensch in meine Fabrik tritt, den ich nicht drin sehen will! Gut, wenn die Reifenwerder den Krieg wollen, so sollen sie ihn haben bis aufs Messer. Und dieser Pfarrer –«

Rudolf Fürst wütet, Sigunde aber unterbricht ihn lächelnd: »Thue, was dir der Regierungspräsident rät. Lasse die Untersuchung über dich ergehen, sie wird nur eine Komödie sein. Es handelt sich, sagt der Regierungspräsident, nicht nur um dich, sondern um alle Fabrikanten. Muß die Regierung das Kleinste wegen der Fabriken einräumen, so giebt es einen Sturm durchs Land, und mit der Freiheit eurer Betriebe ist es vorbei. Also kaltes Blut, Ruedi! Den Pfarrer überlasse nur ruhig mir, ich spanne ihn eines Tages schon aufs Rad. Frauen verzeihen keine Beleidigung!«

Zornig geht Rudolf Fürst auf und ab. »Die verdammten Reifenwerder! Bei Gott, ich gebe keine Ruhe, bis sie alle an den Spinnstühlen stehen – aber jetzt muß ich ein wenig ausschnaufen!«

Ohne sich um die Frauen zu bekümmern, läuft er in den Garten hinunter und hört eben noch, wie drüben in der verstümmelten Abtei das Lärmen der Maschinen wieder einsetzt.

Sonst erfüllt ihn dieses Tosen und Rauschen mit dem glücklichen Gefühl, daß er vorwärts komme, aber heute hat ihn der Aerger über die Eingabe der Reifenwerder so verstimmt, daß ihn das Sausen der Stühle nur noch mißmutiger macht.

Die Märzensonne scheint so schön und leichtsinnig. Eigentlich wollte er heute am liebsten über Berg und Thal reiten. Wozu das fortwährende Hasten und Jagen, das Bauen und Planieren? Wozu der Fabriktyrann sein, sich selbst und Hunderte von Arbeitern quälen, sich freudlos aufreiben vor der Zeit? Seine Gemahlin Kitty dankt es ihm sicher nicht, als Fabrikantentochter findet sie seinen Eifer selbstverständlich, sie ist und bleibt die kalte Natur mit dem befehlenden: »Man wird!« Sie könnte selber eine Fabrik leiten! Und ob sie auch mannigfache gute Eigenschaften hat, stößt sie doch alle Leute durch ihre Kälte ab. Selbst bei seinen Geschäftsfreunden ist sie die unbeliebte Fremde, die anders sieht, anders fühlt und anders denkt als die Menschen der Heimat. Sie spürt es wohl selbst, aber sie ist zu stolz, um davon zu sprechen oder auch nur das Geringste von ihrer englischen Art aufzugeben.

Und er? Er ist Fabrikant, nur Fabrikant! Das fremde Weib trennt ihn von seinem Volke, und das Gefühl, daß er nicht mehr Geltung hat, daß er sich nicht an den öffentlichen Angelegenheiten in Gemeinde und Staat beteiligen kann, weil ihm die Mitbürger kein Vertrauen entgegenbringen, hat, wie er selber spürt, in seinem Wesen eine Schärfe gegen die anderen erzeugt, die oft verletzt. Wozu das Hasten, wozu das Jagen? Ja, wenn ihm die Reifenwerder nur wenigstens die Großratsstelle anvertraut hätten! Das wäre eine Ableitung!

Jetzt hat er nur ein einziges Ziel: eine selbstverdiente Million! Ihm ist es, als schwanke in der Luft ein weißes Blatt und darauf glänze die Zahl mit den sechs Nullen! Es gaukelt, es schwebt, es sinkt, die Zeit läßt sich ausrechnen, wann er es in den Händen halten wird. So strebt er mit aller Thatkraft dem fliegenden Blatte entgegen! Es ist wahr, die Ausnutzung der kindlichen Arbeitskräfte ist gemein; aber die schwachen, schlecht bezahlten Hände sind notwendig, um die Million für ihn zu ergreifen!

Er wendet sich in die Fabrik.


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