J. C. Heer
Felix Notvest
J. C. Heer

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XIII.

Ostern, das freudereiche Fest ist da!

Die jungen Bursche streichen durch das Dorf, und hinter Scheunen und Gartenhecken tauchen die Köpfe der Mädchen auf. Jedes schenkt dem Burschen, der ihm am besten gefällt, ein bunt beblümtes Ei mit einem zierlichen Spruch.

Christli stellt sich, obwohl sie jetzt Jungfrau ist, mit keinem Ei hinter den Hag. Wo wäre der thörichte Bursche, der es bei ihm, dem durch seine unbesonnene That verrufenen und verfemten Kinde, zu erschmeicheln käme und spräche: »Christli, ich kehre dafür auf dem nächsten Markt in der Stadt mit dir ein!«

»Du unglückliches Kind, du unglückliches Kind!« jammert Frau Wehrli, deren Gestalt über allem Schweren, das sie erlebt hat, stets kleiner geworden ist, gerade, als müßte sie vor Kummer langsam in den Boden versinken.

»Hätten sie mich doch im Wasser ertrinken lassen!« wimmert das Mädchen in der Ecke, in der es mit abgewendetem Gesichte steht, als möchte es in die Wand sich verkriechen.

»Schäme dich, du gottloses Geschöpf!« schmält die Mutter.

»O, an meine Konfirmation werde ich denken,« stöhnt Christli, »an das Zischeln und Flüstern der Leute. Kein Mädchen wollte neben mir stehen. Mutter, was soll ich noch auf der Welt?« Leise, leise schluchzt Christli.

Da pocht es an die Thüre. Wie der Blitz schießt das Kind in das Nebengemach. Dort kann es nun weilen und seinen Gedanken nachhängen, denn der Pfarrer ist zur Mutter gekommen, und mehr als eine Stunde spricht er mit ihr und setzt ihr auseinander, daß das arme Mädchen nicht in Reifenwerd bleiben könne.

Das Ergebnis der Unterredung ist ein doppeltes: Frau Wehrli übernimmt an Stelle der alten Dekanin, die nicht aus dem alten Pfarrhaus der Abtei in das neue am Rebberg übersiedeln, sondern sich in die Stadt zurückziehen will, das Amt einer Haushälterin bei dem jungen Pfarrer, der erklärt, daß er ledig bleiben werde, und Christli wird in das Haus des Antistes aufgenommen.

Das Mädchen freut sich über die Veränderung nicht, sie klagt auch nicht, willen- und seelenlos wandert sie an einem der nächsten Tage zur Seite des Pfarrers in die Stadt. »Du bringst uns einen seltsamen Gast,« sagt die alte, feine Mutter, »das Kind ist so schüchtern, so bitterlich schüchtern und scheu.« Aus dem leisbekümmerten Ton der Frau Antistes spürt Felix den Zweifel, ob die junge Spinnerin je in dem schlicht vornehmen Wesen des Patrizierhauses heimisch werden könne, und er sieht wohl ein, daß die Mutter sich des Mädchens nur annimmt, weil sie in ihrer Güte ihn, den Sohn, nicht betrüben möchte.

Eins aber verhehlen ihm die greisen Eltern in all ihrer großen Herzensgüte nicht: ihren Schmerz, ihre religiösen Bedenken über die Aufhebung des Verlöbnisses mit Sigunde.

»Hast du auch bedacht, mein lieber Sohn,« mahnt der ehrwürdige Vater, »daß ein Verlöbnis ein Versprechen vor Gott ist und daß der Prediger für die Beispiele, die er dem Volk giebt, vor dem Höchsten verantwortlich ist? Ich habe an Sigunde nichts von Schatten gesehen, darum zögere ich, das schwere Ereignis in die Familienchronik einzutragen, in der bis dahin nur von Liebe und Treue in Gottes Segen steht!«

Felix Notvest hat mit seiner schönen, strahlenden Braut Sigunde, die in ihren guten Stunden so entzückend lieb sein kann, schweren Herzens gebrochen, sein Innerstes ist darüber in einem wehen Aufruhr, der Schmerz der Eltern wühlt in ihm, jetzt treffen die Vorwürfe seines hochverehrten Vaters sein Haupt wie Schwerthiebe, er fiebert, es ist, als habe er die letzte Kraft, die ihm aus den Wirrnissen der letzten Zeit geblieben ist, für die Versorgung Christlis im Elternhaus aufgespart. Wenige Stunden nach seiner Ankunft bricht er zusammen, viele Wochen liegt er hinter dicht verhangenen Fenstern krank bis ins Mark, und in der Sorge um sein junges Leben gehen Schritt und Rede in der Antisteswohnung gedämpft.

Eines Sommerabends aber wendet sich die Frau Antistes an Christli: »Es geht dem Herrn Pfarrer besser! Er hat mich gefragt, ob du zuweilen auf deiner Violine spielest, und schien traurig, als ich ihm sagte, daß du in unserem Hause noch nie etwas von deiner Kunst gezeigt hast. Ich glaube, ein Lied von dir würde ihn erfreuen.«

Die dunklen Augen Christlis sehen sie unter den langen Wimpern hervor groß und erschreckt an. »Ich kann ja gar nichts mehr spielen,« stößt sie verlegen hervor. Sie kämpft – da, bei Einbruch der Nacht, horch! Aus dem hintersten Winkel des Hauses schwebt ein sanftes Lied, klingen liebliche, goldene Töne.

Der Bann einer Kinderseele ist gelöst, und über dem Spiel erwacht auch Felix Notvest zu frischem Leben.

»Ich bleibe Pfarrer,« spricht er, und eines Tages, wie der Sommer sich schon wieder in den Herbst neigt, siedelt der Genesene aus dem Elternhause nach Reifenwerd in das neue Pfarrhaus über, das neben der neuen Kirche freundlich am Rebberg steht. Da empfängt ihn Frau Wehrli, die ihr Amt mit einer stillen Freudigkeit angetreten hat, und in herzlichem Wohlwollen begrüßen ihn die Dörfler.

Sein erster Weg am anderen Morgen geht durch die gedeckte Brücke nach der Abtei, als hätte er dort Abschied zu nehmen von seiner ehemaligen Pfarrerwohnung, von allerlei schönen und schweren Erlebnissen, die nur noch Erinnerung sind.

Wie viel hat sich an der Reif verändert! – Ueber dem Eingang der Brücke steht, geschickt und kunstreich in die Ruine Reifenloh hineingebaut, das englische Schlößchen, das Rudolf Fürst und seine Gemahlin bewohnen, und schaut mit hellen Fenstern über den Fluß bis in das ferne Hochgebirge. Einzelne alte Buchen umschatten das stolze Heim wie ein natürlicher Park, und in weiten Lichtungen, die zu blühenden Gärten umgewandelt sind, steigen weißbekieste Wege bis zum leichten eisernen Thor an der Brücke hernieder, dessen vergoldete Spitzen in der Sonne flimmern.

Das ist sehr hübsch, aber wie ein Vandale hat Rudolf Fürst gegen die alte schöne Abtei gewütet. Mit zornigem Erstaunen ermißt Felix Notvest die Verwüstung. Von dem ehrwürdigen Aeußern des Klosters ist kaum etwas übrig als die roten, steilen Hohlziegeldächer. Verschwunden sind die zierlichen Dachreiter, abgetragen die Türme des Gotteshauses mit den weiß und blau schillernden Helmen, mit dem Steinbildnis der Frau von Reifenwerd. Nackt und verstümmelt ragt die hohe gotische Kirche mit ihren Strebepfeilern, an denen sich surrende Transmissionsräder drehen, über die Dächer der Umgebung. Die Spitzbogenfenster des Gotteshauses sind durch Zwischenmauerungen zu kleinen unregelmäßigen Vierecken umgestaltet worden und in die übrigen Abteigebäude hat man gleichmäßige, langweilige Reihen von zusammen über hundert Fenstern gebrochen. Wo eines derselben offen steht, stiebt der weißgraue Fabrikstaub ins Freie, und die alten Linden, auch der ehemalige Kirchhof von Reifenwerd sind davon wie von einem Schleier grauen Schnees überschüttet.

Nur das Thor mit den Wappen steht unversehrt. Aus der vergitterten Pförtnern streckt der alte Schleifer Keller, der wegen der eingeschlagenen Brust zu keiner Arbeit mehr nütze ist, die blaue Weinnase und überwacht den Ein- und Ausgang der Arbeiter und Arbeiterinnen.

Mit ihm plaudert der Pfarrer eine Weile, und der geschwätzige Invalide erzählt, wie in der Zeit, da Felix Notvest krank lag, der kleine quecksilberne Foulardhändler Fuhre um Fuhre von Kunstgegenständen aus dem Kloster geholt habe: das Steinbildnis der Frau von Reifenwerd, die Grabsteine der Ritter, die geschnitzte Kanzel, die Stühle, die bildergeschmückten Spruchbänderstreifen aus dem Pfarrhaus und in Watte sorgfältig eingewickelt die Menge der Bilderscheiben, selbst den Ritter, der die dralle Wirtsmagd auf den Knieen hält.

Der Schleifer reißt seine Witze über den Italiener von Rheinsee.

Eines fallt Felix Notvest in der Erzählung des Alten auf: er sagt nichts von dem Grabstein der Königin Agnes.

Hat ihn Sigunde, ihrem merkwürdigen Einfall folgend, wirklich für sich in Anspruch genommen und behalten?

Er mag aber den Pförtner nicht fragen.

Auf dem Rückweg trifft er den Säckelmeister, dem vom vielen Säen die Pratzen bis auf die Kniee hängen: »Ihr wollt also der Unsere sein, Herr Verweser. Gut, geht mit dem Volke, dann geht es auch mit Euch.«

Dem Alten lacht das breite, wetterharte Gesicht; Felix Notvest hat über den achtungsvollen, freundlichen Willkomm die Brust voll Sonne.

Eben fährt Rudolf Fürst in einem eleganten Wagen von der Brücke daher und grüßt die beiden Männer kaum.

»Richtig, heute ist Donnerstag,« bemerkt der Säckelmeister, »da fährt der Leutnant zur Börse. Ein, zwei Stunden Geschäft, dann sitzen die Fabrikanten im Kasino zur Mahlzeit zusammen, spielen und besprechen bei französischem Wein die Staatsgeschäfte. Alles für die Fabrikanten und Handelsherren, nichts für die Bauern! Das ist die Politik des >Rings<.«

»Sie hat doch im Kommandanten einen mächtigen Gegner,« erwidert der Pfarrer, »in der Stadt horcht man weithin auf, wenn der Großrat von Reifenwerd in seiner derb kernhaften Geradheit spricht.«

Der Säckelmeister kratzt sich mit seiner breiten Pratze im Haar.

»Der Kommandant,« erwidert er, »geht einen bösen Weg. Im übrigen habe ich nicht davon sprechen wollen, sondern, daß Ihr als Pfarrer und Schulvorsteher Arbeit genug in der Gemeinde finden werdet. Ihr braucht nur in das Leben des armen, fremden Spinnervolkes von drüben hineinzusehen, namentlich in seine Jugend, und Ihr habt eine große Aufgabe vor Euch. Selbst unsere gesunde Bauernjugend will nicht mehr recht vorwärts. Und doch war eine ordentliche Schulbildung immer der Stolz derer von Reifenwerd!«

Die tiefliegenden Augen des Säckelmeisters ruhen voll Zutrauen auf Felix Notvest, und herzlich schütteln sich die Männer die Hände.

Vor dem inneren Blick des jungen Pfarrers liegt ein schönes, dankbares Feld der Bethätigung.

»Geht nur herzhaft mit dem Volke, Herr Pfarrer, dann geht es auch mit Euch!«

Das Wort des Alten ist seine Richtschnur.

Er tritt, ein Neugeborener, in das neue Gotteshaus von Reifenwerd, das sich mit seinem schlanken, in einen Spitzhelm endenden Turm freundlich neben dem Pfarrhaus am Rebberg erhebt. Er findet die Kanzel mit Blumen bekränzt und fast die ganze Gemeinde zu seiner Begrüßung versammelt. Es hat sich also doch ein Band der Liebe zwischen ihm und den Reifenwerdern gebildet! Sein männliches Eintreten für Christli, auch seine Trennung von Sigunde Fürst haben ihm die Herzen gewonnen, und da er nicht mehr der Jüngling mit dem Gesicht wie Milch und Blut, sondern ein Mann geworden ist, der bereits Schweres erfahren hat und ernst ins Leben schaut, so wählen die Reifenwerder den feurigen Prediger zum lebenslang bestellten Seelsorger der Gemeinde und beweisen ihm ihr Vertrauen, indem sie ihn zugleich an die Spitze ihres Schulwesens berufen.

Wohl wallt eines Tages die ehemalige Liebe zu Sigunde noch einmal schmerzhaft auf – an dem strahlenden Herbsttag, wo sie im altehrwürdigen Münster der Stadt mit Alfred Hohspang an den Altar tritt.

»Gottes Segen über dir!« murmelt Felix Notvest.

Im siegreichen Kampfe mit sich selbst drängt er seine Seele von den geheimnisreichen Augen Sigundes zu dem Bilde Christlis, an das er, seit es im Hause seiner Eltern weilt, bei sich selber oft wie an ein jüngeres Schwesterchen denkt.

Die Eltern haben das schüchterne Kind, dessen schlichtes, goldenes Geigenspiel die Hausorgel des Herrn Antistes begleitet, lieb gewonnen.

Nicht so schnell, wie aus der Puppe ein Schmetterling bricht, erst in Ansätzen erkennbar, wird im schlichtfeinen Patrizierhaus am Strom aus dem Spinnmädchen ein Fräulein, das doch Naturkind ist! Dunkle Augen unter seidenen Wimpern, sanftgerötete Wängelchen, ein feingebogenes Näschen, ein herbes Mündchen, über dem schmalen Gesicht ein Hauch wie unberührter Frühling. Das ist Christli!

»Doch wieder Maililie!« flüstert Felix Notvest und ist mit seinem Lose versöhnt!


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