J. C. Heer
Felix Notvest
J. C. Heer

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XXII.

Ja, die Politik! – In weiten Kreisen ist man ihrer Kämpfe satt. Felix Notvest aber steht auf der Höhe der Wogen. Welche Erfahrungen, welche Enttäuschungen! Herrliche Freunde seiner Jugend sind seine haßerfüllten Feinde geworden, und so mancher Parteigenosse, der eine Eiche aus dem Kernwald des Volkes, hat sich im Sturm der Ueberzeugungsnot als ein morscher Baum erwiesen. Heimliche Gegner so viele wie Steine in der Reif, und sie kämpfen aus dem Hinterhalt! Ruchlose von hüben und drüben reißen selbst sein friedevolles Elternhaus in den lärmenden Streit des Tages. Wozu? Sein Herz, sein Handeln liegt vor allen, die sehen wollen, wie ein offenes Buch da. Darauf mögen sie losschlagen, aber das Vaterhaus in Ehren halten.

Bis in die letzten Tiefen seines Wesens grollt der greise Antistes seinem Sohn.

Jetzt geht Felix Notvest zu ihm, unter Thränen setzt er sich mit dem Vater auseinander.

»Vater, ich habe Liebe und Barmherzigkeit gepredigt für die armen Kinder in den Fabriken,« sagt er, bebend in Qualen.

»Die Drachensaat des Aufruhrs hast du gesät,« erwidert der Antistes. »O, mein unglücklicher Sohn! Wie haben deine Vorfahren still und gottselig gelebt! Du aber bist der Höchste geworden im Rate der Leichtfertigen und Bösen. Sie trügen deine herzliche Güte. Ihre Namen sind nicht rein, darum flüchten sie sich hinter den makellosen Ehrennamen der Notvest und erheben ihn zum Schild ihrer hinterhältigen Anschläge.«

Mit der zitternden Stimme des Alters spricht es der Antistes vorwurfs- und kummervoll.

»Vater, unter denen, die hinter mir stehen, sind Tausende von redlichen und ehrenwerten Bürgern!«

»Was aber fügest du zu dem gemeinen Manne, dessen Namen ich nicht aussprechen mag, der über alles spottet, was einem Volke groß und heilig sein soll, dich aber in seinem wüsten Blatte ›Freund‹ nennt?«

Die Wangen des weißlockigen Greises röten sich vor Zorn, und vor Scham bedeckt Felix Notvest das brennende Gesicht mit beiden Händen.

»Du schweigest, mein Sohn?«

»O Vater,« bricht die Stimme Felix Notvests aus tiefster Brust, »du selber hast es auf das erste Blatt meiner Bibel geschrieben: ›Fest sei in der Not, Felix, und ob alles um dich wankt und weicht, soll dir vor Menschenwitz nicht bangen, so du nur vor deinem Gott und dir in Ehren bestehest‹ – o Vater, ich bestehe!«

Der greise Antistes schüttelt tiefbetrübt das Haupt.

»Wie schmerzlich muß ich es erkennen, daß du, mein Felix, und ich zweierlei Geistes sind!«

»Nein, Vater, nein, das sind wir nicht!« stößt der Pfarrer in wildem Weh hervor.

»Doch – doch!« empört sich der Vater, »die du führst, wagen sich selbst an das durch das Urchristentum geheiligte, von den Reformatoren erneuerte Amt des Antistes. O Felix, sie tasten am bebenden Haupt deines Vaters, und du wehrest es ihnen nicht.«

Indem er spricht, hebt er ein Zeitungsblatt als Zeugnis empor.

»Du wehrest es ihnen nicht,« fährt der Greis mit erhobener Stimme fort, »daß sie die Kraft unserer ehrwürdigen Landeskirche untergraben und sie als einen Spielball dem Wankelmut des Volkes preisgeben. Vergiß nicht, Felix, daß ich ihr Schirmer bin!«

Da bricht Felix Notvest zusammen, er sinkt in die Kniee. »Vater!« haucht er mit der Stimme eines leidenden Kindes.

Doch der Greis hebt die dürren, zitternden Hände über das gesenkte Haupt seines Sohnes: »Es ist besser, Felix, wenn du unser Haus eine Weile nicht betrittst. Aber so weit gehe nicht mit deiner Rotte, mein Sohn, daß der Antistes, der dein Vater ist, dir vor der Synode und allem Volke die Würde des Pfarrers aberkennen muß! So weit gehe nicht! Der Herr segne und behüte dich, er lasse sein Angesicht über dir leuchten und gebe dir seinen Frieden!«

Die sorgengebeugte Gestalt, die den verlorenen Sohn in Schmerzen segnet, ist ein erschütterndes Bild.

»O Felix, vom Herrn erflehter, geliebter Sohn, laß uns nicht deinetwegen in Jammer und Schmach zur Grube fahren!« fleht seine Mutter, die Greisin mit den jugendlich rosigen Wangen, die zum Abschied herzugetreten ist, und küßt den Sohn in wehevoller Liebe.

»Christli möchte ich noch gern die Hand geben!« stöhnt er.

»Sie ist zu ihrer Mutter auf Besuch nach Reifenwerd gegangen!«

Er wankt aus dem Vaterhaus, er verbirgt vor den Menschen die Thränen, die ihm aus Wehmut über das Zerwürfnis unaufhaltsam über die Wangen strömen.

Alles, was der Vater gesprochen hat, wogt und wallt in seiner Seele. Nein, er ist der Freund Heuelers nicht, sondern sein erbittertster Feind! Leider ist es aber wahr, daß sich von ihm durch seine Partei eine unsichtbare Kette zu der verhaßten Gestalt des Pamphletärs zieht, daß es Führer und Genossen giebt, die zwar Heueler öffentlich verleugnen, aber doch immer schonend die Hand über ihn erheben, im stillen mit ihm Freundschaft halten und seine Feder für Parteidienste in Anspruch nehmen. Was für eine teuflische Bosheit treibt Heueler an, daß er in seinem Blatte Freundschaft zu ihm heuchelt und mit einer erlogenen Herzlichkeit in Ausdrücken wie »Unser lieber Pfarrer von Reifenwerd« oder einfach »Freund Notvest« von ihm spricht? Was Wunder, wenn auch die Blätter der Gegner mit grausamer Absichtlichkeit die Namen Felix Notvest und Viktor Heueler so zusammenstellen, als wären sie ein unzertrennliches Paar.

Immer dunklere Wolken wälzen sich über seine Seele heran.

Die geängstigten Amtsbrüder drängen mit Bitten und Drohungen, daß er in der Entscheidung über die Lebenslänglichkeit ihr Fürsprech sei. Er aber murmelt im Selbstgespräch: »Vor dem Gesetz sind alle Bürger gleich. Wozu den Geistlichen ein Vorrecht. Was für eine traurige Gestalt ist der Pfarrer, der von seiner Gemeinde gehaßt, verachtet, auf den Buchstaben des Gesetzes pochend, doch von der Kanzel das Wort Gottes predigen will. In seinem Munde ist es ein Hohn!«

Er wischt sich den Schweiß von der Stirne.

Er muß den Gewissensweg gehen. Und seine Amtsbrüder?! Sie werden den unglücklichen Vater, den obersten Schirmer der Landeskirche zwingen, daß er den Verräter, den Feind der Kirche, seines Amtes als Pfarrer unwürdig erklärt, ihn mit eigener Hand niederstößt, der Vater den Sohn! Aus innerster Ueberzeugung, im heiligsten Bewußtsein, daß es seine Pflicht ist, wird es der Vater, der so hoch von seinem Amte denkt, thun!

Aber wer ist zuletzt der Getroffene? – Nicht er, sondern der Vater selbst, das Herz wird ihm über der Erfüllung der Pflicht brechen!

Dem düsteren Wanderer ist, als heben sich von allen Seiten wuchtige Fäuste gegen das herrliche, teure Haupt seines Vaters, wie Posaunenstöße des Gerichts hört er den Vorwurf: »Sie wagen sich sogar an das geheiligte Amt des Antistes!«

Wer nur die Frage nach der Berechtigung des altüberkommenen Antistitiums in die Parteipresse gebracht hat? Irgend ein heimlicher Feind.

Sie stellen, heißt sie beantworten. Das Amt des Antistes ist ein mittelalterliches Ueberbleibsel, das im Staatsleben der Gegenwart keinen Raum hat. Aber wie milde, wie weise hat es der Vater verwaltet! So daß ihn das ganze Land verehrt. Er wird seine Abschaffung als einen unerhörten Treubruch an der Geschichte des Volkes, an seinem edelsten Selbst empfinden, als eine Schmach, die sein Tod ist!

»O, daß dieser Kelch an ihm vorübergehen könnte!« stöhnt Felix Notvest. »Ja, wenn das Amt nur fortbestehen könnte, bis der silberlockige Vater das Haupt seinem Gott und Herrn neigt!«

Aber Freund oder Feind werden es erbarmungslos fällen. Das ist entsetzlich – das ist entsetzlich!

Schwarze Gespenster gehen mit Felix Notvest den stillen Weg von der Stadt über die Anhöhe nach Reifenwerd.

Wer den heimwärts wandernden Pfarrer sieht, muß wohl denken: Ein Gottverlassener! Halbwirr steht er bald still, läuft er bald wie ein gehetztes Wild.

Er sieht es nicht, wie die Welt um ihn blüht und mait, wie die Apfelbäume an der Straße in Brautpracht prangen, wie der Weißdornstrauch sich blütenüberhangen neigt, er hört es nicht, wie der Fink auf dem obersten Wipfel der Tanne schmettert und die Amsel tief im Busche ihre Liebesstrophen weich und schmelzend flötet.

Er tritt in den Steigwald und glaubt, kein Mensch sei je elender die uralte Straße gewandert.

»Rücktritt – nein, das rettet den Vater nicht! Und ich – ich werde zerrieben zwischen den Rädern des Geschicks! Wie hat der Weise recht, der da sagt: Wir leben nicht, wir werden gelebt!«

Da begegnet sein Blick einem wunderlieblichen Frühlingsbilde.

Auf der bemoosten Bank neben dem großen steinernen Waldbrunnen sitzt Christli selbstvergessen und bindet Maililien, die ihr im Schoße ruhen. Sie hat ihren leichten Hut neben sich gelegt, und ein Sonnenstrahl, der durch das weiche, linde Laub des Frühlings äugelt, ruht verträumt auf ihren dunklen Locken. In den einsamen Sonnenstrahl gaukelt dann und wann ein Schmetterling, leuchtet auf und steht wie ein buntes Flämmchen über dem kindlich schönen Haupt. Jetzt schwebt er auf die Maililien nieder, die sie an die leichtgewölbte Brust gesteckt hat. Sie erspäht den Falter, sie lächelt ihm zu, harmloses Glück spielt um ihr sonst so herbes Mündchen, dann ist sie wieder mit voller Seele bei ihren Blumen, die nicht duftiger sind als sie selber in der Jugendschönheit des zwanzigsten Lenzes. Inniger, herzbezwingender Frühling schwebt um die feine Gestalt und der Adel des künstlerischen Empfindens ist über das zarte, in anmutsvollen Linien spielende Gesicht gehaucht.

Neben ihr plaudert der verwitterte Waldbrunnen mit frischem Strahl in die grüne, lauschende Einsamkeit.

Eine Weile steht der Pfarrer und saugt das liebliche Bild in sich, als stände er im Banne eines Gotteswunders.

»Christli!« Er streckt ihr die Hand entgegen.

Sie fährt jäh zusammen und erglüht. »Herr Pfarrer!« Sie erhebt sich erschreckt. Dabei fallen ihr die Blumen zur Erde und die Ungeschicklichkeit verwirrt sie noch stärker.

Sie will sich nach ihnen bücken.

»Es freut mich herzlich, Christli, daß du die Maililien wieder liebgewonnen hast,« spricht Felix Notvest weich und wehmütig. Tiefes Leid bebt in seiner Stimme.

»Seit Sie mir gesagt haben, Maililien bedeuten Glück, glaube ich nicht mehr, daß mir aus den reinen Blumen Unglück komme,« erwidert Christli. »Nicht wahr, Herr Pfarrer,« lächelt sie, »Maililien bedeuten Glück!«

Errötend hebt sie die dunklen Augen zu ihrem Beschützer, sie erbebt wie ein aufgescheuchter Vogel, sie erkennt die Thränenspur in seinem zermarterten Gesicht. »Gott – Herr Pfarrer – Sie haben geweint – Sie leiden – und ich spiele mit Blumen!« – Sie erzittert ratlos, an ihren langen seidenen Wimpern hängt ein tauheller Tropfen, in hilfloser Rührung stammelt sie, den Arm vor die verschwimmenden Augen haltend: »Ich schäme mich so sehr vor Ihnen – der liebe Gott weiß es, Herr Pfarrer – ich bete jede Nacht für Sie – ich – ich.«

Sie spürt, daß sie etwas Thörichtes sagen würde, sie schweigt.

»Hast du mich wirklich lieb, Christli?« fragt Felix Notvest in weichem, tiefem Ernst, er ergreift ihre Hand, seine Augen suchen ihre Sterne.

Sie hält sie zur Erde gesenkt, wo die Maililien liegen, ihr Antlitz ist in die Glut der Verlegenheit getaucht, die schlanke Gestalt bebt wie Espenlaub.

»O Christli,« spricht der Pfarrer in wallender Bewegung zu der Schweigenden, »mir ist, du fliehest mich. Wie mich das schmerzt, Christli. Hast du Fredy Cella lieber als mich?«

Sie senkt das Köpfchen nur tiefer und schüttelt es leise.

»Sprich – ums Himmels willen, sprich, Christli!« fleht Felix Notvest. »Liebst du mich, ich meine vom ganzen Herzen und ganzer Seele?«

Da hebt sie das Haupt langsam und verträumt, sie drängt es in den Nacken, er hält die leichte Gestalt, die dunklen Augen strahlen in heiliger Seligkeit, um den Mund schwebt ein rührendes Lächeln. Windhauchleis flüstert sie: »Ja, Herr Pfarrer!«

Doch erschreckt über das eigene Wort flieht sie seinen Blick.

»Gott! Verzeihen Sie mir, Herr Pfarrer!« stammelt sie in brennender Scham. »Denken Sie doch an die kleine, arme Spinnerin. Ich könnte leiden und sterben für Sie, aber Sie lieben dürfen – das ist zu viel!«

»Maililie!«

Der Pfarrer hält sie umschlungen, die Arme, die sich wehren wollen, werden schwach, in keuschem Glück duldet sie seinen Kuß.

Das Paar liest die am Boden liegenden Maililien zusammen. Leise rauschen die Waldbäume über ihnen, und kein Wanderer hat je am Brunnen der Steige einen so tiefen Zug der Labe gethan, wie der müde Volksführer am Tage der großen Anfechtung.

Ihm ist es, als habe Gott ihn wieder zu Ehren angenommen.

»Ich will stark sein, ich will milde sein!« flüstert er.

Durch die Obstblüte wandeln Felix und Christli nach Reifenwerd.


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