J. C. Heer
Felix Notvest
J. C. Heer

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XVII.

Bruder und Schwester! – Von seinen Predigtblättern aufblickend, träumt Felix Notvest in die siegreich über die Nebel emporrollende Herbstsonne, die sommerlich durch die Fenster bricht. Er wird den Weg der Gewissenspflicht gehen, den armen Kindern, die in den Fabriken arbeiten, soviel in seinen Kräften steht, Licht, Luft, Freudigkeit des Wachstums bringen. Christli aber wird den Dornenpfad der hohen Kunst steigen, an dessen Ende das blendendste und flüchtigste der Irrlichter schwebt, der Ruhm! Sein Sinnen schwebt über dem gestrigen Waldgang.

In seinen Wunsch, Christli möchte das Spiel weniger lieben, läutet die Elfuhrglocke. Da führt Frau Wehrli einen Besuch heran.

»Herr Heueler!« – Der Pfarrer tritt einen Schritt zurück und seine Züge verdüstern sich.

»Ich freue mich, Herr Pfarrer, daß Sie meinen Rat befolgt haben. Sie sind an den Webstuhl der Zeit getreten, an den sausenden Webstuhl der Zeit!«

Der hagere Zeitungsschreiber des »Volksboten« mit dem auf die Brust hinunter reichenden, schmalen roten Bart spricht es mit halber Stimme. Mit den Augen, die niemand recht ansehen können, schaut er halb nach dem Pfarrer, und ein blasses Lächeln huscht über sein bissiges Gesicht.

»Nun, Sie bilden sich doch wohl nicht ein, daß mein Thun und Lassen durch Ihre Ratschläge bestimmt wird?« erwidert Felix Notvest abweisend. »Bitte, was wollen Sie von mir?«

Ihm ist es, als krieche eine Natter über seinen Weg. Was haben seine Pläne mit der Feder Heuelers gemein, deren ätzende Erzeugnisse viele verachten, die meisten fürchten und alle, solange sie nicht nach ihnen selber sticht, mit Vergnügen lesen?

Heueler setzt sich ohne Umstände und legt Bein auf Bein. »Keine Umschweife!« beginnt er, »wir stehen durch Ihre anerkennenswerte Thätigkeit an einem Wendepunkt des politischen Lebens; aber wenn Sie nicht die Beute des Rings werden wollen, heißt es rasch handeln. Man ist Ihnen auf den Fersen! Da gestatten Sie mir, daß ich Ihrer etwas akademischen Art mit dem Reichtum meiner Erfahrungen zu Hilfe komme und Ihren Ideen einen ungeheuren Aufschwung gebe, ja mit einem Schlag einen widerstandslosen Sieg!«

Heueler lächelt und spielt bedeutungsvoll mit der schwarzen Mappe, die er stets, als wäre sie ein Teil seiner selbst, bei sich trägt.

»Ich verbiete Ihnen die Mitwirkung in meinen Angelegenheiten,« erwidert Felix Notvest ruhig aber ernst; »bekämpfen Sie mich, aber lassen Sie die Bewegung für die Fabrikjugend von Ihrer Mithilfe rein!«

»Sie erinnern sich an meine Prozesse!« fährt Heueler unbeirrt fort. »Ich habe das Sprichwort vom Kirschenessen mit großen Herren erfahren. Der Dank dafür an das Regiment Hohspang ist reif wie Weizen, für den die Sichel schon gedengelt ist. Sie wissen: unter jedem Dach ist ein Skelett. Seit ich den Urteilen der mit Hohspang verbundenen Richter unterlag, habe ich in jahrelangem Fleiß die Gebeine in den Häusern der Mitglieder des Ringes gesammelt. Sie wissen: jene Geschichten, die man in jeder Familie gern totschweigt, vor denen man zittert, daß sie öffentlich bekannt werden könnten, die wie von Zeit zu Zeit aufseufzende Gespenster im Hause umgehen.«

Heueler öffnet die Mappe, seine Augen blitzen in unstetem Feuer, er schnellt auf, er spricht heiser vor Zorn: »Aus diesen Blättern kommt die Züchtigung, bebend vor Furcht sollen sich die Männer des Ringes in ihren Wohnungen verkriechen!« Er klopft auf das Manuskript. »Ihnen aber, Herr Pfarrer, geben die Skelette freien Weg. Treten Sie vor! Das Volk jubelt Ihnen zu. Nur eins: Eine Hand wascht die andere. Im Siege vergessen Sie meine Dienste, die Sie jetzt gering anschlagen, nicht ganz.«

Viktor Heueler spricht so hastig, daß Felix Notvest nicht zu Worte kommt. Erst jetzt, wie jener in einem Gefühl der Genugthuung den langen Bart streicht, ruft er: »Ich beschwöre Sie, verbrennen Sie die ›Skelette‹. Bedenken Sie, daß unter den Leuten des Rings Männer von vornehmer Gesinnung, ehrlicher Ueberzeugung sind! Sie mögen augenblicklich unsere Gegner sein, nach dem Kampf müssen wir aber doch wieder ein einiges Volk bilden und in Treuen zusammen arbeiten. Wie wäre das möglich nach einem Sieg mit vergifteten Waffen? Ihre Teilnahme, die den klaren Fluß der Bewegung in einen trüben Strom fressender Leidenschaften verwandelte, würde mich zwingen, davon zurückzutreten.«

»Sie Schwärmer!« spöttelt Heueler, die Schultern zuckend.

Da braust der Pfarrer auf und öffnet mit bezeichnender Gebärde die Thür.

»Sie bringen mich doch nicht von Ihren Rockschößen,« lächelt Heueler, »auf Wiedersehen anderwärts, Herr Pfarrer!« Damit geht er.

Auch Felix Notvest macht sich wegfertig. »Wohin?« fragt Frau Wehrli ängstlich über seine Erregung und Blässe.

»In die Höhle des Löwen! In die Villa Venedig zu dem Regierungspräsidenten!«

»Hat unser Pfarrer Feuer zu melden?« fragen sich die Reifenwerder erstaunt.

Es gilt mehr als Feuer zu löschen, es gilt ein Landesunglück zu verhüten; allmählich indessen mäßigt Felix Notvest seinen Lauf.

Was wird er dem Regierungspräsidenten sagen?

Er steht und wartet an dem mit Wappen geschmückten Thor der Villa Venedig, die nicht nur wegen der stimmungsvollen Schönheit ihrer Umgebung, sondern mehr noch durch die in ihr waltende vornehme Gastlichkeit und die strahlenden Feste, die darin abgehalten werden, berühmt ist. Sie hat durch die junge, geistreiche und lebenslustige Herrin als Stätte großherziger Gastfreundschaft und feiner Geselligkeit frischen Glanz erlangt. Kein angesehener Fremder zieht durch die Stadt, ohne daß ihn das Andenken an schöne Tage oder Abende, die er in der Villa Venedig erlebt hat, in die Ferne begleitete, und die Künstlerwelt, die Maler, die Bildhauer, die Dichter und Musiker sind die besonderen Lieblingsgäste Sigundens, der sie als einer freigebigen Gönnerin huldigen. Auch die Gesellschaft der Schauspieler und Schauspielerinnen zieht sie in ihren Kreis, und dann und wann holt sie sogar Zigeunerbanden oder anderes fahrendes Volk von der Straße, um sie in ihrer Villa mit fürstlichem Luxus zu bewirten. Und wie versteht es Sigunde, bei den glänzenden Festen ihre Talente zur Geltung zu bringen! Da giebt es Schäferspiele im Park, da gleiten mit festlichen Gruppen belebte Kähne aus den mit Seerosen bedeckten Buchten, unerwartet dringt Musik aus lauschigen Verstecken. Sigundens Kunst der geselligen Überraschungen ist unerschöpflich, und sie fesselt ihre Gäste mit hübschen Einfällen bis weit in die linde Nacht, in der sich die Rosenguirlanden und Baumkronen mit farbigen Laternen wie mit leuchtenden Früchten des Paradieses schmücken.

Felix Notvest kennt das Leben in der Villa Venedig nur vom Hörensagen, nur aus dem Volksmund der zum guten Teil noch in die Bande der Spießbürgerlichkeit gefesselten Stadt, welche die ehemalige Großratstochter von Reifenwerd wie die märchenhafte, ihren ausschweifenden Launen folgende Königin eines königlich schönen Besitztums bewundert und beneidet, aber auch mancherlei verkleinernde Nachreden über sie führt.

Das Schicksal hat Sigunde, die glückliche Mutter eines Knaben ist, an die richtige Stelle gelenkt, denkt Felix Notvest nicht ohne Wehmut.

Heute ist es still in ihrem herrlichen Reich. Hat man sein Läuten nicht gehört? Endlich öffnet ein betreßter Diener das Thor.

Da taucht aus einer Baumgruppe der stolze Blondkopf Sigundens selber hervor, sie erkennt ihn, zaudert einen Augenblick, in vornehmer Kühle schreitet sie ihm entgegen.

Sie trägt ein helles Kleid wie damals, als er sie im Rosengarten zwischen den Epheuranken stehen sah, und durch das leicht durchbrochene Gewebe schimmern Hals und Arme wie Marmor und Pfirsich. Aber der frische, üppige Mund lächelt nicht, die grauen, ins Grünliche spiegelnden Augen blicken kalt, und sie mißt ihn mit großer Selbstbeherrschung, als ob ihr ein völlig Fremder gegenüber stehe.

»Der Herr Regierungspräsident hält eben sein Mittagsschläfchen,« sagt sie gelassen auf seine Begrüßung und Frage, »er darf vor drei Uhr nicht gestört werden.«

»Ich danke Ihnen, dann komme ich nach drei Uhr!« Mit einer leichten Verneigung will Felix Notvest gehen.

Da spielt doch ein Lächeln um ihren schönen Mund.

»Warum suchen Sie den Herrn Präsidenten nicht im Regierungsgebäude auf?« fragt sie mit einem leichten Anflug von Spott.

»Es ist nichts eigentlich Amtliches, was ich mit ihm zu besprechen habe, nur sonst eine dringende Angelegenheit, die keinen Aufschub erträgt.«

»Dann darf ich Sie wohl einladen, in meiner Gesellschaft auf den Herrn Regierungspräsidenten zu warten? – Wir sind ja doch alte Freunde. Hier unter den hohen Bäumen ist mein Lieblingsplätzchen. Ich bitte, Herr Pfarrer!«

Sie spricht es mit gewinnender Liebenswürdigkeit, ihre Stimme heimelt ihn an wie Gedenken an die Zeit, da sie im Rosengarten bat, seine Schülerin sein zu dürfen, und das schöne Frauenbild, das ihm ermunternd zulächelt, ergreift ihn so eigen, daß es ihm ist, als sollte er sie wieder mit ihrem Mädchennamen »Sigunde« ansprechen. Seine Brust geht heftig, und in dem malerischen Baumrondell über einer kleinen Bucht des Sees, das sie als ihr Lieblingsplätzchen bezeichnet, erregen sich ihm die Gedanken noch stürmischer. Denn da steht von einem breitästigen Therebinthenbaum überschirmt der Grabstein der Königin Agnes aus der Abtei Reifenwerd und redet mit Doppelkreuz und Spruch von versunkenen Liebestagen.

Wie er Frau Hohspang aufs höchste überrascht und verwirrt anblickt, spielt ihre Hand verlegen mit dem Buch, in dem sie bei seiner Ankunft gelesen hat, doch schüttelt sie die Erregung mit einem Lächeln von sich ab.

»Ich habe Sie wohl im Genuß eines interessanten Buches gestört?« fragt er, nur um das Schweigen zu brechen.

»Das Werk ist ein französischer Roman,« versetzt sie und wendet den Blick in einer Art mädchenhaften Errötens von ihm, »sein Grundgedanke ist das alte Sprichwort, daß man immer auf seine erste Liebe zurückkomme. Er sagt eigentlich das Gleiche, was der Grabstein der Königin von Ungarn und was jedem die eigene Erfahrung bestätigt!«

Mit lechzenden Zügen schaut sie ihn an, und um sie webt wieder der Hauch des Märchenhaften, der sie einst im Rosengarten umgeben hat. Aber Felix Notvest hält an sich, und wie er nicht antwortet, flüstert Frau Hohspang: »Es ist vielleicht doch unrichtig, zu sagen, daß es jedem so ergehe. Viele vergessen doch sehr leicht! – – Sie, Herr Pfarrer, zu vergessen, wäre allerdings unmöglich. Sie sind ja der Mann des Tages geworden, wo man hinhorcht, spricht man von Ihnen!«

Was will Sigunde? »Fäden, die sich von Ihrer Villa in mein Vaterhaus spinnen,« antwortet er etwas unsicher, »verraten es mir allerdings, daß man mir in Ihrer Familie eine gewisse Aufmerkfamkeit schenkt.«

Sie horcht überrascht und lächelt zu dem Vorwurf, der in seinen Worten klingt. Sie schweigt mit bestrickendem Aufschlag, mit heißem Verlangen ruhen ihre Augen auf ihm.

Felix Notvest hat die jähe Empfindung, Sigunde brenne darauf, daß er sich irgendwie, und wenn es nur mit der Thorheit einer augenblicklichen Aufwallung wäre, vor ihr demütige. Mächtig spürt er den Zauber des Weibes, dessen Züge seit den unvergeßlichen Tagen im Rosengarten wohl etwas reifer geworden, doch von noch verführerischerer Schönheit als damals sind. »Wer diesen Mund küssen dürfte!« Wie einst bebt er unter dem Anreiz des Gedankens.

Sie spürt, wie er kämpft und wankt.

»Mitten in der Welt voll Anregung, mitten in dem Reichtum, die mich umgeben,« haucht sie, daß ihn ihr glühender Atem streift, »weiß ich doch, daß ich das beste Gut meines Lebens den schönen Stunden verdanke, die ich mit Ihnen im Rosengarten der alten Abtei verlebte.«

Es ist ihm, als müsse er ihr zu Füßen sinken und stammeln: Ich liebe dich ja noch immer! Doch während ihre Augen mit überwältigendem Zauber auf ihm ruhen, geschieht ein Wunder.

Wie wenn es leibhaftig dastände, sieht er Christli, nicht das jetzige Christli, die werdende Künstlerin, sondern Christli, das Kind, das sich im Kreuzgang vor der Fabrik gefürchtet hat.

Als hätte Sigunde den Vorgang in seiner Seele erraten, sagt sie in eisigem Ton: »Sie lassen jetzt wohl die kleine Spinnerin zu Ihrem Weibe erziehen?«

Flammende Röte stiegt über das Gesicht Felix Notvests.

»Nein!« stottert er, »ich habe –«

Um Augen und Mund Sigundens zuckt aber ein so ungläubiges und verächtliches Lächeln, daß er den Satz nicht vollendet.

Es ist ein grenzenlos peinvoller Augenblick zwischen ihnen, Sigundens Gesicht hart wie Stein – Agnes von Ungarn! denkt er.

Da tritt der Diener unter die Bäume. »Der Herr Regierungspräsident ist bereit, Sie zu empfangen!«

Mit steifem Nicken, mit eisiger Kälte entläßt Sigunde Hohspang den Pfarrer.

»Jetzt ist sie deine Todfeindin!« sagt ihm eine innere Stimme.

Noch verwirrt von der zügellosen Grausamkeit, die in ihren Augen blitzte, doch des Ernstes der Stunde bewußt, tritt er hochklopfenden Herzens vor den Gewaltigen, in dessen Händen die Schicksale des Landes ruhen.

Mit ruhiger Spannung, mit der Würde eines unbeugsamen Herrschers empfängt der greise, unwillkürlich Ehrfurcht gebietende Staatsmann den jungen Volkstribunen von Reifenwerd.

Seine blauen Augen ruhen leuchtkräftig und durchdringend auf Felix Notvest.

»Sprechen Sie!« sagt er, die Hand leicht in die Hüfte gestemmt.

»Herr Regierungspräsident,« beginnt der Pfarrer voll Hochachtung, »die wachsende Bewegung im Volk kann Ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen sein. Sie kennen auch meinen Anteil daran. Ein Wort von Ihnen, und sie kommt zum Stillstand. Geben Sie mir die Versicherung, daß Sie den alten Gesetzen Achtung verschaffen werden, daß Sie mit ehrlichem Willen mithelfen wollen, Lücken, die darin sind, auszufüllen, damit den Industriearbeitern, insbesondere den armen Kindern ein freundlicheres Los zu teil wird. Ihr Wort – und ich trete von der Bewegung zurück, ich enttäusche tausend Augen, die hoffnungsreich auf mich gerichtet sind. Ich trage die Schande. Aber geben Sie mir die Versicherung heute. Morgen ist es zu spät, da ist ein Werk teuflischer Volksverhetzung schon gethan!«

Beschwörend spricht es Felix Notvest.

Stumm und undurchdringlich mißt der Regierungspräsident den Sprecher.

In einem Ton, daß jedes Wort wie ein Hammerschlag klingt, erwidert er: »Wir dulden keine Revolutionäre im Staate, besonders unter denen nicht, die sein Brot essen. Ich warne Sie. Verschanzen Sie sich nicht hinter das lebenslängliche Amt eines Pfarrers! Wir werden Sie schon zu ergreifen wissen, und unser hochwürdiger Herr Antistes wird seine Pflicht ohne Ansehen der Person erfüllen – auch gegen seinen Sohn!«

»Ist das Ihre einzige Antwort? Ihr letztes Wort?« stammelt Felix Notvest erblassend.

»Mein letztes!« Der gewaltige Staatsmann winkt würdevoll und streng, daß die Audienz beendigt sei.

»Herr Präsident,« ruft Felix Notveft in wehevollem Zorn, »wen die Götter verderben wollen, den schlagen sie mit Blindheit. Ich fürchte, Sie werden Ihre Antwort bereuen!«

An Leib und Seele zerschlagen, wankt er aus der Villa Venedig, seine Gedanken jagen sich. Jetzt giebt es kein Zurück mehr, nur ein Vorwärts. Erst wie er die Stadt schon weit im Rücken hat und über die grünen, stillen Höhen der Steige nach Reifenwerd wandert, erlangt er wieder die volle Besinnung; und er hört wieder das Wort Sigundes: »Sie lassen jetzt wohl die kleine Spinnerin zu Ihrem Weibe erziehen?«

Gott weiß es, als er den Arm schützend über das arme Christli erhob, das Kind zur Erziehung in sein Vaterhaus gab, da war es nur eine That innigsten Erbarmens mit dem schmerzenreichen, jungen Leben gewesen, und kein anderer Gedanke hatte sich in denjenigen tiefen Mitleids gemischt.

Doch wie sonderbar! Mit dem ahnungsreichen Blick des eifersüchtigen Weibes hat Sigunde tiefer in sein Herz gesehen als bis zur Stunde er selber.

»Ja, ich liebe Christli – ich liebe sie schon lange!«

Er jubelt es auf seinem einsamen Wege wieder und immer wieder: »Christli! – Maililie!«

Was ist aller dämonische Zauber Sigundes gegen die unberührte Schönheit des lieblichen Kindes, das kaum zu wissen scheint, wie reizvoll es geworden ist!

Plötzlich aber überfällt ihn jetzt eine Sorge um das Kind, die er vorher nie gekannt hat. Er denkt an Fredy Cella, den Lehrer Christlis, der wegen einer Erbschaftsangelegenheit noch immer in der Stadt weilt und in einigen feinen Häusern Unterrichtsstunden giebt. Der etwa dreißigjährige Künstler, der von seinem Vater, dem berühmten Violinvirtuosen, das rasch wallende Blut, von seiner Mutter, einer Polin, die schönen, stammenden Augen und das zur Melancholie neigende Wesen geerbt hat, erscheint ihm plötzlich wie eine große Gefahr für seine Liebe zu Christli, die mit so warmer Begeisterung von ihrem Lehrer spricht.

Wie, wenn sich das feurige Herz der jungen Künstlerin zu ihm neigte?

Oder wenn in seiner keuschen Seele wirklich nichts Raum hätte, als der Drang zur hohen, heiligen Kunst?

Eine wahre Seelenangst beklemmt Felix Notvest, und in gewaltigen Herzensstößen spürt er, wie lieb, wie unendlich lieb ihm Christli geworden ist.

Mitten durch seine Liebe taumeln aber wie Raben im Sturm schwarze Gedanken. Im ruhigen Herbstabend hört er die Windsbraut durch die Lüfte sausen. Sie wirft die Wetterwolken mit falbem Schein von Horizont zu Horizont und die Blitze zucken auf die todestraurige Erde!

Seine Seele lebt im Vorspiel dessen, was kommen wird. Was schon da ist! Lostage, vielleicht Schicksalswende für ein ganzes Volk. Und er trägt die Verantwortung!

Da mag die Seele des Mutigsten eine Weile zweifeln und zagen.

Felix Notvest durchwacht die Nacht, er wacht wie der Bauer, des Hagelschlags gewärtig, der auf seine Ernte niedersaust, des Blitzes, der vom First zum Keller fährt und zündet. Er wacht in Anfechtungen.

Er hört es nicht, wie sich seine treue Haushälterin bekümmert an die Thüre schleicht.

Sie aber hört, wie er mit murmelnder Stimme das vierzehnte Kapitel St. Marci liest: »Und sie kommen in ein Gut Namens Gethsemane!«


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