J. C. Heer
Felix Notvest
J. C. Heer

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XXIII.

Die Liebe Felix Notvests zu Christli ist eine andere als jene, die er in schwellendem Jugenddrang einst für Sigunde empfunden hat. Sigundens Zuneigung schien ihm die schöne, große Erfüllung des heiligen Naturrechts, zu lieben und geliebt zu werden, Christlis Liebe gilt ihm wie ein Segenszeichen, eine Gnade des Höchsten, der durch die Züge des Schicksals wunderbar Glück in die Seele leitet, wenn sie vor Leid im Verzagen ist.

Bis die politischen Stürme zur Ruhe gekommen sind, soll seine Liebe zu Christli geheim gehalten sein, niemand soll darum wissen als das alte Mütterchen, Frau Wehrli. Christli selber muß sich ja noch aus den Banden einer achtungsvollen Scheu frei machen, die sie vor ihm hegt.

Das wird die Zeit geben, denkt Felix Notvest, und so oft er am bemoosten Steigebrunnen vorbei zum Rat in die Stadt oder von dort nach Reifenwerd zurück wandert, grüßt er den Brunnen mit einer aus dem Innersten strömenden Dankbarkeit für ein großes Glück.

Das Dorf aber steht unter dem Eindruck eines traurigen Ereignisses.

Der wachsende Gegensatz zwischen Bauern- und Fabrikvolk ist am Tanzsonntag in einem jähen Raufhandel zum Ausbruch gekommen und hat über einige achtbare Familien unendliches Leid gebracht, besonders in diejenige des Hirschenwirts. Gegen Mitternacht haben die übermütigen Bauernbursche die Spinner, die mit ihren Mädchen beim Wein saßen, zu necken und zu hänseln begonnen; im Streit hat Jakob, der Sohn des Hirschenwirts, einen Arbeiter so geschlagen, daß der Verletzte am Tag darauf gestorben ist. Sechs Bursche sind wegen des Handels gefänglich eingezogen.

Felix Notvest hat dem Erschlagenen ins Grab gepredigt. Wie er heimkommt, sitzt Frau Wehrli, einen Brief auf dem Schoß, in Thränen da.

»Lony,« sagt sie, »kann nicht genesen, ihre Gesundheit ist seit der Geburt der kleinen Lony so stark erschüttert, Karl voll Kummer.«

»Sollte man nicht dem Kommandanten und seiner Familie davon Bericht geben?« fragt er.

»Ach denen,« erwidert Frau Wehrli in ehrlicher Entrüstung, »der hagebuchene Stolz hat es ja noch nicht einmal zu einem Briefzeichen an Lony gebracht.«

Leid im Haus, Leid im Dorf. Und ein neuer Sturm durchbraust das Land.

»Die Geistlichkeit will den Antistes zwingen, daß er den Pfarrer von Reifenwerd, seinen Sohn des Amtes unwürdig und verlustig erklärt, weil er ein Feind der Landeskirche ist.«

So geht weit und breit das Gerücht.

Die Reifenwerder stellen die Feuerspritze auf die Straße.

»Ehe ein paar Abgesandte aus der Stadt Felix Notvest die Kirchenbücher unter den Händen wegnehmen dürfen, läuten wir Sturm. Und einen neuen Pfarrer, der sich auf die Kanzel wagt, jagen wir mit einem solchen Strahl aus dem Wendrohr davon herunter, daß ihm das Wiederkommen vergeht.«

So sprechen Kommandant und Säckelmeister, die Bauern und die Spinner, nie war die Gemeinde Reifenwerd einiger als jetzt zum Schutz Felix Notvests. »Geht mit uns, Pfarrer, wir gehen mit Euch. Wir wissen schon, daß wir niemals einen Berufeneren bekommen!«

Wie ihn die Treue seiner Gemeinde wehmütig stimmt. Ihm ist ja doch, er sei nicht wert, daß die Sonne mehr auf sein schuldiges Haupt niederscheine und ihm ein guter Mensch »Grüß Gott« sage.

In der Stadt tritt, seit Felix Notvest seine Stellung zu den Forderungen der Geistlichkeit erklärt hat, der greise Antistes, der ein Jahrzehnt lang nicht mehr gepredigt hat, Sonntag um Sonntag auf die Kanzel der Reformatoren im alten Münster, spricht gegen die Neuerer und verurteilt und bekämpft das Werk des eigenen Sohnes.

Das Wort des Greises rettet aber die Lebenslänglichkeit des geistlichen Amtes nicht. Nein, Gewalt gegen Gewalt, die weltliche Macht gegen die geistliche Macht.

Der Volkssturm braust um das Antistitium.

Wie ein verwundetes Tier vergräbt sich Felix Notvest in die Einsamkeit, in aufquellendem Weh stöhnt er: »Mein Vater – mein Vater! – Sie stoßen ihn ins Grab!«

Nur Christus ernste Augen sind Licht in seinem brennenden Leid. Wie ihn das liebe Mädchen in allen Regungen der Seele versteht, wie sie mit ihm fürchtet, mit ihm hofft, mit ihm ringt.

Oft bringt sie ihr Instrument mit sich und erfüllt das Haus mit dem Silberklang ihres seelenvollen Spiels.

»Es ist mir ein großer Trost,« sagt Felix Notvest, »daß wenigstens du mit deiner lichten Kunst im Hause meiner Eltern bist. Begleitest du den Vater noch immer, wenn er auf der Hausorgel seine geistlichen Lieder spielt?«

Sie nickt freudig, sie errötet: »Denke dir, Felix, Fredy Cella ist schon im Frühling vor den Herrn Antistes getreten und hat ihn um die Erlaubnis gebeten, daß ich in einem seiner Konzerte, in einer großen klassischen Aufführung, deren Ertrag für die Armen bestimmt ist, mitwirke.«

Ernstvoll horcht Felix Notvest auf und sieht wohl, wie Christlis Augen hoffnungsreich leuchten.

»Was antwortete ihm mein Vater?«

»Der Herr Antistes rief mich, und nachdem wir eine Weile darüber gesprochen hatten, legte er mir sehr feierlich die Hand aufs Haupt: ›So gehe in Gottes Namen hin, Christli, und trage Licht und Schönheit, die vom Himmel stammen, in die dunklen Seelen!‹ sprach er.«

»Und dir ist die Mitwirkung in dieser Aufführung Herzensangelegenheit?« forscht der Pfarrer ernst.

»Ich thue nur, was du mir erlaubst, Felix!« Um ihr Mündchen zittert es aber wie ein rührendes Kinderflehen. »Nur einmal will ich Herrn Cella in einem Konzert unterstützen, im Herbst, ehe er nach fernen Städten zieht. Er hat mich so innig darum gebeten, und ich möchte ihm den Beweis der Hochachtung für seine Künstlerschaft geben. Auch der Herr Antistes sagt, daß ich ihm zum Abschluß meines Lernens diesen Dank schuldig sei, dann spiele ich nur noch im engen Kreise der guten Menschen, die mich umgeben. Gestattest auch du es mir, Felix, daß ich mit Herrn Cella spiele?«

In der zaghaften Bitte verlangt die feurige Künstlerinnenseele ihr Recht, mehr als die Worte verrät das glühende Köpfchen, wie Christli nach dem Spiel, das ihre Kunst einem weiten Kreise offenbaren soll, dürstet.

Ihre dunklen Augen bitten um sein »Ja«.

Felix Notvest versteht es wohl, daß jedes künstlerische Können wie eine Knospe an die Sonne drängt, wie die Blume im Licht will es in der Teilnahme der Mitmenschen stehen, aber ihm ist einen Augenblick, er sollte Christli von dem Gedanken abmahnen.

»Ach, du bist selber ein Schwarzseher geworden,« redet er sich zu, er mag sein Christli nicht betrüben, er spricht nur sehr ernst: »Denke Kind, an die Hunderte von Augen, die auf dich gerichtet sein werden! Wenn dir in deiner Schüchternheit die Kunst versagte!«

»Ich werde die Menschen nicht sehen, ich werde nur spielen!«

Wie ruhig, wie vertrauensvoll Christli das erwidert.

Eines Tages ist Fredy Cella im Pfarrhaus.

»Wohin denken Sie, Herr Pfarrer,« ruft er mit flammenden Blicken, »dem Haupt der Fräulein Wehrli ein Leid? – Ich stehe mit meiner Künstlerehre für meine Schülerin!«

Im Wesen Cellas liegt eine vornehme Ehrlichkeit.

»So sage auch ich: In Gottes Namen,« antwortet Felix Notvest in getragenem Ernste.

Wie zum Segen küßt er ihre reine Stirne. In ihren dunklen Sternen flammt der Dank, daß er gütig gewesen ist gegen sie. »Gelt, Felix, bald kommt jetzt der große Frieden, wo du und ich beisammen sind und uns die Welt nicht mehr stört.« Sie spricht es so innig gläubig, und er spürt es wohl, wie ihre Seele in allem, was sie thut und läßt, seine Seele sucht.

Der große Frieden!

Felix Notvest kommt sich vor wie der Schiffer, der schon hinter hohen Wellen das Land erspäht, aber den Tod in dem Augenblick am meisten fürchten muß, wo er nach dem rettenden Riffe greift.

»Dein Werk ist gethan, das Fabrikgesetz da!« jubelt eines Tages Christli stürmisch. Ihre Augen hängen bewundernd an ihm. »Felix, woher hast du die Kraft zu dieser selbstlosen That geschöpft.«

Er antwortet ihr nur mit einem Kuß. Ja, eine That der Selbstlosigkeit ist da, ein göttlicher Faden ist am Webstuhl der Zeit in das Gewand des Volkes gewoben worden: ein Fabrikgesetz, das würdig neben dem Arbeiter- und Jugendschutz der vorgeschrittensten Länder steht und in die Hut redlicher Männer gegeben ist, damit es vor den Versuchungen des Eigennutzes kein toter Buchstabe bleibe. Es schützt das Lernziel der Volksschule, und aus der Spinnerei Rudolf Fürsts wankt kein armes Kind mehr wie Christli spät abends durch den hohen Schnee.

Spiel und Kunst aber in diesen dunklen Tagen! Es will ihn so seltsam gemuten.

Doch spricht man auch im Haus des Kommandanten von Spiel und Kunst.


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