J. C. Heer
Felix Notvest
J. C. Heer

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XX.

Ja, Sigunde ist an der Arbeit!

Mildes Dämmerlicht liegt über der Landschaft. Es gießt sich über die silbern erglänzenden Fluten des Sees aus und umfließt die ragenden Bäume in dem Parke der Villa Venedig, der schon so viele jubelnde Feste und Spiele gesehen hat. Heute sind die lauschigen Gänge an den Buchten still, nur ein Rauschen und Säuseln geht manchmal durch die Zweige. Langsam und feierlich senkt sich die Nacht.

In ihrem Boudoir träumt Sigunde Hohspang. Die junge Witwe trägt das Gewand einer Dominikanerin, das fromme Lieblingskleid ihrer einsamen Stunden, aber alle die kunstvollen Werke, die durch die verständnisvolle Liebe des Präsidenten zusammengetragen worden sind, die farbenfrohen Gemälde, die edlen Erzeugnisse handwerklicher Kunst, die das reiche Gemach schmücken, scheinen ihr heute fremd und kalt. Sie bannen die Leere nicht, die ihr aus allem entgegenstarrt, auch in ihr regt es sich heute wie ein scheues, leises Flüstern, und Stimmen, die lange geschwiegen haben, werden in ihr laut.

Mit einem Seufzer tritt sie endlich von dem Fenster. Nun scheiden sie großfaltige Vorhänge von dem schwermütigen Weben da draußen, und das Licht der schlanken Ständerlampe, das ein leichter Schirm von roter Seide zu warmen Tönen dämpft, ergießt sich durch das trauliche Gemach. Sie will sich nicht von jener herben Stimmung überwältigen lassen, und mit einer kurzen trotzigen Bewegung, die seltsam absticht von dem Kleide der Demut, das Sigunde trägt, wirft sie den blonden Kopf zurück. Ein harter Zug liegt um ihre Lippen und löst sich erst wieder, als ihr Blick auf das prächtige Gemälde fällt, das über dem Kamine hängt: ein Kinderköpfchen, – das Bild ihres Sohnes.

Nun sitzt sie auf einem der weichen Polsterstühle und starrt hinauf in die Züge dieses einzigen Wesens, das sie wahrhaftig und mit der ganzen Kraft ihrer wilden und zügellosen Seele liebt. Lange träumt sie vor diesem Lockenköpfchen, bis ihre Gedanken wie unter dem Drange stärkerer Mächte abirren und wieder nach jenen Kreisen treiben, vor denen sie in den warmen Schein des Lampenlichtes floh.

Glück! – Glück! – Mit geöffneten Lippen sieht sie ins Weite, und wie ein Zug von eilenden Gestalten gehen durch ihr Träumen alle jene, die ihr nahegekommen waren in ihrem jungen Leben. Und wieder, wie so oft schon, bleibt auch heute ihr Sinnen bei den Gedanken an einem haften: Felix Notvest.

»Glück wäre es gewesen, wenn du das Weib Felix Notvests hättest werden können!«

Wie im Traume hat sie es selbst gesprochen; aber wie wenn eine andere Stimme es gesagt hätte, so erschrickt sie über ihre eigenen Worte, von denen sie fühlt, daß sie aus dem tiefsten Grund ihrer Seele kommen. Lange hat sie gekämpft dagegen. Nun weiß sie es; seit sie den starken Mann und Geliebten verloren hat, schreit ihre Seele nach ihm. Sie schreit nach dem Manne voll Illusionen. Solange sie seine Braut gewesen ist, hat Sigunde ihn geliebt, wie man einen stattlichen, achtbaren Mann liebt, nun ist es anders! Da ist Felix Notvest, der Volksführer! Da ist Glaube, Kraft und Größe! Da ist einer, der alle die anderen um Haupteslänge überragt!

Die anderen, was waren sie denn? Da war Alfred, ihr Gatte, ein Alltagsmensch, zu mittelmäßig und zu nichtig, um gut oder schlecht zu sein, da war ihr Bruder Rudolf, ein kühler Rechner und ein zäher Streber auf der Jagd nach der Million! Da war der Präsident, ein glatter Weltmann mit verbindlichem Lächeln und vollkommenen Manieren. Und so wie diese waren sie alle!

Aber Herz? Größe? – Und wieder denkt sie an Felix Notvest, den Träumer, an den gläubigen Mann, und stärker denn je fühlt sie, daß sie ihn noch liebt.

Wie ein Stachel sitzt ihr diese Liebe im Fleische, denn sie weiß es: er ist fertig mit ihr geworden, sie ist ihm nichts mehr – er verachtet sie.

Scharf und klar tritt ihr wieder jenes Bild vor Augen, das sich ihr unten im Parke bei dem Therebinthenbaume so haßvoll eingeprägt. Wieder sieht sie ihn vor sich stehen, kämpfend und ringend mit der Versuchung, und wieder fühlt sie wie damals, daß ihr nur eine den Sieg entrissen hat: die kleine Spinnerin.

Eine jähe, herzlose Grausamkeit zuckt durch ihre Züge, und ihre ganze Haltung strafft sich. So steht sie nun da, erfüllt von einem einzigen Gedanken: Rache zu nehmen an ihm, an jenem Kinde, das es gewagt hat, dem Siegeslauf ihres Glückes in den Weg zu treten, an Christli. Ein fieberndes Jucken zerrt um ihre Lippen, wie sie so mit starrem Blicke vor sich hin sinnt, und ihre Finger nesteln in unruhigem Spiel an den niederhängenden Schnüren, die ihrem Kleide als Gürtel dienen.

Sie langt nach einem Schriftstück, das vor ihr auf dem Schreibtisch liegt. Es weist nicht ihre eigenen, zugleich schwungvollen und zierlichen Züge, sondern die eilfertigen Haken eines Mannes, der schnell und viel zu schreiben gewohnt ist, eine Schrift, die gegen ihren weiblichen Schönheitssinn geht.

Ihre Augen streifen nur wenige Sätze der Arbeit, die sie bereits am Nachmittag beschäftigt hat: »Das als geschichtliche Erscheinung merkwürdige Amt des Antistes, das seinen Träger mit dem Gewissensrechte und der Gewissenspflicht ausrüstet, die hohen und niederen Behörden im Namen der Landeskirche zu überwachen, zu ermahnen, ja selbst das Veto gegen ihre Beschlüsse einzulegen, wurzelt in der Idee eines Gottesstaates, wie sie dem religiös ergriffenen Volk der Reformationszeit vorschwebte. Welcher Widerspruch gegen das Staatsgrundgesetz der neueren Zeit, das die Gewalten scheidet! Wir wollen das Amt, das eine Beleidigung für unsere Behörden ist, dahin verweisen, wohin es in seiner Überlebtheit schon lange gehört, in die Rumpelkammer der Landesgeschichte. Selbst Herr Pfarrer Felix Notvest wird uns zugeben müssen, daß die Abschaffung des Antistiums eine unmittelbare, selbstverständliche Folge der von ihm begonnenen und geleiteten Verfassungsumänderung ist.«

Sigunde läßt das Blatt sinken, ihre ins Grüne spielenden Augen flammen wie die eines schönen Raubtieres auf. Der Aufsatz wird in einem Blatt der Partei Felix Notvests veröffentlicht werden. Der Sohn muß als der Feind seines Vaters erscheinen. Das ist gefädelt! – Alles in ihr ist Gier, Felix Notvest weh zu thun.

Sie tritt wieder ans Fenster. Der weiche Schein des Mondes wiegt sich auf den Baumwipfeln des Gartens und breitet einen Streifen flüssigen Goldes auf die Stahlbläue des nächtlich erhellten Sees. Ihre Blicke gleiten suchend über den glanzvollen Spiegel, doch er ist leer. Sie träumt wieder.

Da dringt ein leise aufzitternder Geigenton in das Gemach, sehnend wie ein flehender Liebesruf. Sigunde lauscht, und wechselnd wie ihre Gedanken jagt die Sprache ihrer Züge.

Seltsam ergreift sie dieses sehnende Spiel. Es klingt an jene Saite, die in ihrem Innern nach Glück und Schönheit schreit, und eine Wallung von heißer Dankbarkeit drängt sich in ihr auf gegen den, der da kommt, sie aus dem Banne furchtbaren Grübelns zu erlösen, gegen Fredy Cella.

So tritt sie ans Fenster, und in stummem Lauschen blickt die hochaufgerichtete Gestalt nach dem Nachen, der unter dem Drucke sicherer Ruderschläge über den silberklaren See herübertreibt, und von dem jene bestrickenden Geigentöne klingen.

»Guten Abend, Maestro!« ruft sie, als die Töne verklungen sind, und winkend grüßt sie den Künstler, der sich, die Geige noch in Händen, im Boote neigt.

Und wenige Augenblicke später steht Fredy Cella vor ihr und küßt ihre Hände und blickt verzückt in die strahlenden Augen der schönen Frau, die ihm heute gütiger scheint und herrlicher denn je.

»Meine herzlichen Glückwünsche zu Ihrer Tournee, lieber Freund,« sagt sie freudig. »Welche Erfolge! Die Zeitungen wühlen ja ihren Wortschatz aus, um Sie und Ihre Kunst zu feiern! Und meinen Dank für Ihre lieben Zeilen aus der Ferne, besonders aber dafür, daß Sie den Weg in die Villa Venedig so leicht wieder gefunden und daß Sie Ihr Kommen durch das herrliche Spiel auf dem See für mich zu einem doppelten Feste gemacht haben!«

Beinahe zärtlich blicken ihre Augen auf den unter dem sanften Drucke ihrer Hand erglühenden Künstler.

»So will ich,« sagt er, »denn in der Folge immer als armer Musikant über das Wasser kommen, wenn mir die Töne die Thür zu Ihrem Hause und zu Ihrer Güte leichter erschließen.«

Flammend ruhen seine Augen auf der in Schönheit strahlenden, schmiegsamen Gestalt Sigundens, er möchte weiter reden, und heiße Worte wollen sich über seine Lippen drängen. Sie aber unterbricht ihn.

»Nein – zuerst machen wir jetzt Tischlein deck dich! Auf wann haben Sie Ihre Rückfahrt angesetzt? – Auf Elf?«

»Der Bursche, der mich überfährt, wartet nicht länger,« versetzt Fredy bedauernd, und mit einem leisen, schalkhaften Lächeln streifen Sigundens Augen die schmalen Künstlerhände Cellas, die es nicht wagen, die Ruder selber zu ergreifen.

Sein Künstlerstern ist, seit er dann und wann Konzertreisen in die benachbarten Länder unternimmt, in raschem Steigen begriffen. Der unvergessene Ruhm seines Vaters öffnet ihm die Säle; wo er spielt, erwacht auch die Erinnerung an den Knaben und Jüngling, der ein gern gesehener Begleiter des gefeierten Virtuosen war, und er gewinnt die Herzen durch ein Spiel von wundersamer Vollendung, das er sich in einigen Jahren der Stille erworben hat, durch eine künstlerische Sprache, die allen Geheimnissen der Seele Worte leiht.

Vielleicht auch durch seine persönlichen Vorzüge, durch den Reiz einer geheimnisvollen Vornehmheit, die sein Wesen wie seine Kunst so eigen umgiebt, als ob der Mann, dessen Vorfahren in der Stadt den ehrsamen Namen Keller geführt haben und schlichte Handwerker oder Krämer gewesen sind, sich in geeigneter Stunde als Kaiserssohn von Rußland oder Oesterreich offenbaren könnte. Keine Spur von künstlerischer Vernachlässigung, im Gegenteil eine gediegene Sicherheit des Auftretens, voll gesteigerten Selbstgefühls.

Die ihm Freund sein wollen, müssen damit rechnen.

Wer versteht den Ton, den er liebt, so zu treffen wie seine Herzensfreundin – Sigunde Hohspang.

Sie liebt seinen herben Stolz, seine rührende Güte, und wenn er manchmal selbst an ihrer Seite in finsterer Traurigkeit brütet, entschuldigt sie ihn mit herzlichen Worten über seine freudlose Jugend an der Seite eines Vaters, der zwar ein Genie, aber nicht frei von häßlichen Fehlern war, und ihn erbarmungslos von Stadt zu Stadt, von Gasthof zu Gasthof, von Konzert zu Konzert schleppte. Da kam sie über ihn, die wortlose Traurigkeit, der unstillbare Durst nach der Zärtlichkeit einer Frauenseele.

Die beiden sitzen beim ausgesucht köstlichen Mahle, er muß noch einmal von seinen Reisen erzählen und von seinen Erfolgen in allen den Städten, in denen er gespielt hat. Glitzernd perlt der Schaumwein in den feingeschliffenen Gläsern, und während diese in hellem Tone aneinander klingen, ruhen Sigundens Augen verheißend in den seinen.

»Auf Ihre Zukunft, auf Ihre weiteren Erfolge!« sagt sie, und wie sie dann das Glas hinsetzt und einen Pfirsich aus dem prächtigen Fruchtkorbe nimmt, fragt sie: »Haben Sie schon bestimmte Pläne gefaßt für die nächste Zeit, Fredy?«

»Pläne?« Er sieht sie an und seine Augen sagen mehr als seine Worte. »Im Spätherbst muß ich wieder fort auf eine größere Tournee, bis dahin will ich hier bleiben – wenn ich darf. Ein Konzert werde ich geben in dieser Zeit – Fräulein Wehrli soll zum erstenmal darin mitwirken. Schon vor meiner Reise hat sie zugesagt.«

Über Sigundens Züge ist es wie ein starres Staunen gezogen. Nun aber bricht sie los: »Die Spinnerin?!« Ganz entstellt sind ihre Züge vor Haß und eifersüchtiger Glut. Ihr ist es, als stehe wieder wie damals an jenem Morgen, da sie das Verlöbnis mit Felix Notvest löste, die Gestalt Christlis als unsichtbare Feindin ihr gegenüber. Maßlos drängt sich der Haß gegen jene in ihr hervor.

»Sie lieben also diese Spinnerin?! O, sagen Sie es nur offen – Sie lieben – –«

Da stürzt ihr der Künstler zu Füßen, er umklammert ihre Kniee und bedeckt ihre Hände mit glühenden Küssen. Sein Mund stammelt kaum verständliche Worte, aus denen nur immer heiß, wie ein Schrei nach Erhörung der Name Sigunde klingt. Und erst nach und nach findet er sich selbst wieder.

»Nur dich liebe ich, Sigunde – dich allein! Du hast mich hergezogen, weil ich ohne dich nicht leben kann, du bist die Göttin meiner Kunst, meines Könnens, meines ganzen Seins! Was ist mir Fräulein Wehrli gegen dich! Eine Künstlerin – ja – aber du – nein – wenn du es nicht willst, so werde ich sie nicht spielen lassen in dem Konzerte – ich – –«

Still und hoch aufgerichtet hat Sigunde bisher niedergeschaut auf den im Liebestaumel ringenden Künstler. Nun plötzlich geht bei seinen Worten ein Leuchten über ihre Züge. Nur einen Augenblick lang flackert es in ihren Augen, lauernd und triumphierend zugleich. Dann sagt sie: »Fräulein Wehrli soll spielen!«

»Sie soll – –?« Wirr blickt Fredy auf sie, die noch eben sich aufgebäumt hat gegen den Gedanken, den sie nun vertritt.

»Ja!« sagt Sigunde, und ihre Hände streichen über das Haar des Künstlers zu ihren Füßen.

Wie ein Schauer geht es über ihn.

»Sigunde, was du willst, geschieht – –!«

Da beugt sie sich plötzlich nieder, und ein glühender Kuß brennt lodernd auf seinen Lippen.

Wankend vor Glück erhebt er sich, er will die heißbegehrte Frau in seine Arme schließen, er will durstig das Glück genießen, das er so lange und sehnend begehrt und das sich ihm bisher so qualvoll versagt hat.

Da tönt vom See der langgezogene Ruf des Schiffers, der zur Abfahrt mahnt. Sigunde aber wehrt seinem heißen Drängen.

»Nach dem Konzerte wollen wir uns wiedersehen, Fredy!« ruft sie. »Nach dem Konzerte, in dem Fräulein Wehrli ihre Kunst zeigen wird!«

Taumelnd vor Glück scheidet Cella.

Und während das Boot, das ihn über den See trägt, die dunkel schimmernden Wogen durchschneidet, steht oben im Rahmen des Fensters hoch aufgerichtet eine Frau. Sie trägt das Kleid der Dominikanerin, aber ihr Antlitz spricht von erbarmungslosem, siegessicherem Triumphe.

Sie winkt noch einmal flüchtig auf den lichten See.


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