J. C. Heer
Felix Notvest
J. C. Heer

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IV.

Wie ein Trunkener schwankt Karl Wehrli aus dem Gasthaus, ihm ist, er müsse den Kommandanten einholen und ihm sagen: »Ihr seid ungerecht! Nicht um Rudolf Fürsts willen, aus innigster Ueberzeugung bin ich für die Fabrik. Unser Land bedarf zu seinem Gedeihen der Industrie.« Doppelt schmerzt ihn die Mißhandlung, weil bis jetzt eine stille, hoffnungsreiche Freundschaft zwischen dem lebenserfahrenen Manne und ihm bestanden hat. In bitteren Qualen denkt er an Lony.

Indessen folgt er dem Kommandanten doch nicht, sondern wankt wie zerschlagen gegen jenen Teil des Dorfes, der »das Städtchen« heißt.

Da gesellt sich eine kleine behende Gestalt zu ihm, der italienische Foulardhändler. Und das Männchen flüstert: »Worda sein Werkführer Ihr. – Nit vergessa mich – jeß auch mehr sahla. – Braucha viel Geld jeß für Geschäft.« Das quecksilberne Kerlchen greift zudringlich nach Karl Wehrlis Arm, in wehem Zorn schüttelt ihn der Werkführer ab, und der Händler stolpert und fällt. Fauchend reinigt er sich in ohnmächtiger Wut.

Der junge Mann aber steht bald am Hag eines kleinen Gärtchens und blickt gegen ein altes, niedriges Haus, unter dessen weit vortretendem Strohdach sich der Schattenriß einer ältlichen Frau, die emsig über einer Stichelarbeit sitzt, in einem beleuchteten kleinen Fenster abzeichnet.

»Mutter!« stöhnt der Herzwunde.

Mitten in der milden, duft- und blütenreichen Nacht überfällt ihn die Sehnsucht nach dem Winter, da Lony an den langen Abenden bei der Mutter gesessen und in Frost und Schnee die Liebe gekommen ist. Gewaltsam faßt er sich, tritt in das Haus und stellt sich unbefangen.

»Schläft das Christli schon?« fragt er, die Mütze an die Wand hängend.

»Es schläft und hat den schönsten Traum,« erwidert die Mutter, die nur flüchtig durch die Brille von der Arbeit aufblickt. »Sie ist seit acht Tagen wie verwandelt, fast übermütig, alles wegen dem jungen Herrn Pfarrer. ›Mutter, er hat mich Maililie genannt!‹ jubelt es, ›er hat gefragt, was ich einmal werden wolle. Hätte ich es ihm wohl sagen sollen, daß ich eine Geigenspielerin werden will?‹ Christli ist solch ein seltsames Kind – ein rechtes Schwärmerköpfchen, das mir Sorgen macht.«

Wie Rat suchend, blickt Frau Wehrli nach ihrem Sohne aus.

»Um Gottes willen, Karl!« sagt sie erschrocken.

Stöhnend bedeckt er sein Gesicht. »Ja, zwischen mir und Lony hat es gehagelt!«

Leid und schwere Erfahrungen haben Frau Wehrli, in deren dunkles Haar sich silberne Fäden spinnen, herb und trocken gemacht. Selber immer emsig, spricht sie zu ihren Kindern selten von etwas anderem als von der Notwendigkeit der Arbeit, und an der tiefen Neigung Karls zu Lony hat sie nie die geringste Freude gehabt. »Arm und reich kommen nicht zusammen!« Von dieser Ueberzeugung läßt sie nicht. Nun aber erhellt sich das schmale Gesicht vor den Schmerzen des Sohnes doch zu einem trostreichen Strahl.

»Ueberwinde, Karl! Auf treue Arbeit hat Gott den Segen als Lohn gesetzt.«

In schlafloser Nacht geht der junge Werkführer noch einmal den Weg seines Lebens. Er denkt an den Vater, den unermüdlichen Lehrer, der schon vor Jahren starb. Der stets thatbereite Mann hatte in seiner Güte die Unvorsichtigkeit begangen, daß er für einen Jugendfreund eine große Bürgschaft übernahm, eine ungefährliche Bürgschaft, wie er glaubte. Allein der Freund, der einem großen Handelshause in der Stadt als Kassierer angehörte, wurde untreu, ein zweiter Bürge war nicht leistungsfähig, das kleine Vermögen des Vaters reichte zur Deckung nicht hin. Da lieh ihm Lombardi, der Händler, den notwendigen Rest zur Zahlung. Doch bald erlag der Vater der Not und dem Gram, und die Familie preßte seitdem das Blut unter den Nägeln hervor, um die durch Zinsen und Zinseszinsen gewachsenen Ansprüche des Händlers zu befriedigen und die Schande des Konkurses nicht auf den ehrlichen Namen des Toten kommen zu lassen. In seiner Not sieht Karl Wehrli wieder den trüben Regentag, an dem ihn die Mutter von der Beerdigung des Vaters hinweg zu David Fürst führte und für den kaum der Schule entlassenen Buben um ein Plätzchen in der Fabrik bat. Er denkt daran, wie er unter heißen Thränen die junge Hoffnung, wie sein Vater die Bildung eines Lehrers erwerben zu können, begrub und ein hin und her gestoßener Lehrling wurde. Was wußte er damals? – Nichts, als daß er vor der Zeit ein Mann werden müsse, um der Mutter verdienen zu helfen. Nach einer Weile großer Mutlosigkeit hatte er dann an seiner Selbstbildung zu arbeiten begonnen, und nun ist die Frucht seiner Mühe da – in jüngerem Alter als irgend ein anderer hat er es zum Werkführer gebracht, und wenn er zwei Jahre sparsam ist, so kann er die Schuld des Vaters bei dem Händler tilgen!

Aber er ist heute, da ihn die Worte des Kommandanten geschlagen haben, elender als bei seinem Eintritt in die Fabrik.

Unablässig gehen die Gedanken des Schlaflosen. Das Heimweh nach Lony überfällt ihn. Wenn er nur ihre Stimme hörte, in der etwas so Schönes und Tiefes ist, wie wenn der Wind im Walde rauscht! Und im Halbtraum gleiten seine Gedanken von den blauen Augen Lonys hinüber zu den dunklen Christlis.

Bevor er Lony kannte, war das verschwiegene, fast scheue Schwesterchen sein einziger Sonnenstrahl; ein Blick in das stille, tiefe, in einer Fülle von Gedanken gärende Herz des Kindes seine höchste Erholung.

Die Welt Christlis ist die Musik. Als sie noch nicht zur Schule ging, hatte sie versucht, auf der Violine des Vaters Lieder zu spielen. Der Vater hatte dem Kinde scherzend die ersten Griffe gezeigt. Und siehe da! Ohne daß sie einen Lehrer gehabt hatte, begann die Violine unter ihren Fingern zart und lieblich zu tönen, und in tiefer Heimlichkeit übt sie nun das Spiel, sie geigt, vor Lauschern geschützt, am liebsten in den Büschen an der Reif, wo nur die Fische sie hören.

Das ist das heimliche, zierliche Christli.

Sollte das Allerbitterste geschehen, sollte er, weil ihm der Kommandant so furchtbar zürnt, auf Lony verzichten müssen, hätte er nur noch ein Ziel: Dem Christli müßte es gut gehen, und seine Kunst sollte wie eine Blume zum Lichte blühen. Das ist sein heiliger Vorsatz, sein Herz aber schreit: Lony, Lony!

In sein schweres Träumen hinein graut der Tag und klingt die Morgenglocke, und der Dengelschlag eines Bauers tönt schon hell durchs Dorf. Es ist jetzt Zeit zur Arbeit.

Um das Neunuhrbrot läßt Rudolf Fürst ihn rufen.

»Die Gemeindeversammlung ist vor der Thüre. Wie stehen die Dinge?« Der Leutnant fragt es, vom Schreibtische aufblickend, in scharfem Geschäftston.

»Mit der Abtei haben Sie, obgleich der Kommandant furchtbar dagegen ist, wahrscheinlich gewonnenes Spiel,« erwidert Karl Wehrli, »aber in der Großratswahl –«

»Gut!« unterbricht ihn Rudolf Fürst übelgelaunt. »Ich weiß, was Ihr sagen wollt. Ob die Schuld nicht etwas bei Euch liegt, Wehrli? Donnerwetter! Geht besser ins Zeug! ›Wess Brot ich ess', dess' Lied ich sing'‹, ist ein guter Spruch für Leute, die vorwärts kommen wollen. Merkt Euch das!«

Der junge Mann beißt sich, blaß vor Zorn, auf die Lippen.

Um die so schön gedachte Werkführerstelle ranken sich die Dornen, und die große Fabrik, die kommen soll, wirft ihre Schatten voraus.


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