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25

Der Vorsitzende wandte sich an die Geschworenen: »Beachten Sie diese Tatsache und denken Sie an die Behauptung des Angeklagten, daß Herr Doktor Glasberg der Mörder der Frau Fenn sei!«

Die Geschworenen lächelten über diese Behauptung des Angeklagten. Der Verteidiger setzte wieder ein, fragte, ob irgend jemand den Zeugen persönlich habe abfahren sehen. Das Auto, ja, das habe man gesehen. Aber niemand sah Herrn Dr. Glasberg hineinsteigen. Man sah ihn auch nicht aussteigen, sondern zu Fuß ankommen. Das Auto will er bereits im Walde zurückgeschickt haben. Wer aber kann sagen, daß der Zeuge nicht von der Mordstelle herkam?

Der Vorsitzende las als Antwort die protokollarischen Aussagen des Portiers und des Chauffeurs vor. »Meine Herren Geschworenen, wenn Sie diese Aussagen, die unter Eid abgegeben sind, mit der Aussage des Fräulein Streicher zusammenhalten, dann werden Sie sich vergeblich fragen, was der Herr Verteidiger mit seinen Fragen bezweckt.«

Ein Geschworener stand auf und war dafür, den Chauffeur oder den Portier mit dem Zeugen zu konfrontieren. »Ich meine nur,« sagte er und setzte sich verlegen wieder hin.

»Ist das wirklich nötig?« fragte der Vorsitzende. Gitta ließ die Augen nicht von Mario. Er mußte doch sehen, daß er in diesem Augenblick in höchster Gefahr schwebte, aber er lächelte überlegen, als wollte er sagen: Aber bitte sehr! Ich ersuche jetzt selbst darum, mit den genannten Zeugen zusammengebracht zu werden.

»Es ist sehr einfach zu machen,« sagte Holten mit leicht erregter Stimme. »Ich habe die beiden Zeugen bereitgestellt. Sie warten draußen.«

Man merkte die Erregung, die durch den Saal ging. Wurde Glasberg bleich? Gitta sah, daß er einige Sekunden lang die Augen schloß. Holten heftete seine Blicke fest auf sein Gesicht. Der Vorsitzende sagte gelangweilt: »Meinetwegen!«

Herr Dr. Hohn ging hinaus und kam in einigen Augenblicken mit dem Portier und dem Chauffeur zurück. Beide Männer sahen sich nicht ganz selbstbewußt in dem großen Saal um. Die Formalitäten nahmen einige Zeit in Anspruch. Der Portier Johannes Lange und der Chauffeur Gustav Balzereit wurden vereidigt.

»Vielleicht geben Sie mir einmal das von Herrn Doktor Glasberg persönlich ausgefüllte Anmeldeformular,« begann Holten. Er reichte das Papier dem Vorsitzenden. »Darf ich den Herrn Zeugen fragen, ob er diese Schrift als seine Handschrift anerkennt?«

»Nein!« sagte Glasberg, als handelte es sich um die selbstverständlichste Sache von der Welt. Der Vorsitzende sah interessiert auf.

»Zeuge Balzereit, bezeichnen Sie mir hier im Raum den Herrn, den Sie als Herrn Doktor Glasberg von Serbenitz nach dem Hotel und am nächsten Morgen wieder nach Serbenitz zurückgefahren haben!«

Der Chauffeur sah sich in dem Raum um. »Ich sehe ihn nicht,« sagte er zögernd.

»Zeuge Lange,« fuhr Holten mit ausdrucksloser und monotoner Stimme fort. »Wen halten Sie hier für Herrn Doktor Glasberg?«

»Den Herrn da jedenfalls nicht!« sagte der Portier und zeigte auf Glasberg.

Im Augenblick herrschte Totenstille. »Wie erklären Sie das, Herr Zeuge?« fragte der Vorsitzende. Glasberg zuckte die Achseln. »Die Herren können sich vielleicht nicht entsinnen.«

»Die Handschrift auf dem Anmeldeschein scheint sich auch nicht entsinnen zu können. Aber soll ich Ihnen den Herrn vorführen, der hier fälschlich für Doktor Glasberg gehalten wurde, Herr Doktor Glasberg!?«

Zum erstenmal im Leben redete Holten seinen Jugendfreund in dieser Weise an. »Herr Doktor Glasberg, ich nehme an, daß Ihr Wagen mit Ihrem Chauffeur draußen auf Sie wartet. Haben Sie etwas dagegen, daß ich Ihren Chauffeur hierherbitten lasse? Ist der Herr Vorsitzende damit einverstanden?«

Der Vorsitzende nickte. Ein Bote wurde angewiesen, den Chauffeur zu holen.

Währenddessen hielt die Totenstille im Saal an. Die Zeit schien in Leere auseinanderzuklaffen. Niemand bewegte sich.

»Das ist er!« riefen die Zeugen gleichzeitig, als der Chauffeur hereinkam. Fast im gleichen Augenblick herrschte Glasberg ihn an: »Sie haben die Unverschämtheit gehabt, sich vor diesem Chauffeur und im Hotel als Doktor Glasberg auszugeben!?«

Diese Frage verwirrte im Augenblick alles. Lag hier ein Mißverständnis vor?

»Ich muß Sie bitten, zu schweigen!« griff der Vorsitzende ein. »Wie heißen Sie?« fragte er den neuen Zeugen. »Edgar Scharff,« antwortete der.

Der Vorsitzende versuchte, ihm freundlich zuzureden. »Erzählen Sie ganz offen, wie alles war. Sind Sie in jener Nacht in Königsberg gewesen und haben Sie sich als Herr Doktor Glasberg ausgegeben?«

»Nein!« sagte der Chauffeur. »Ich war in dieser Nacht in Serbenitz!«

»Haben Sie Zeugen dafür?«

Der Mann verstummte, wußte nicht mehr, was hier von ihm verlangt wurde.

»Verzeihung, Herr Vorsitzender!« mischte sich Glasberg ein. »Dieser Mann ist mir treu ergeben. Er merkt, daß seine Aussage für mich wichtig sein kann. Er zerbricht sich jetzt den Kopf, was er sagen soll, und wird natürlich das Verkehrte sagen.«

»So fordern Sie ihn auf, einfach die Wahrheit zu sagen!«

»Sagen Sie die Wahrheit, Scharff! Sie haben sich –«

»Halt!« unterbrach der Vorsitzende. »Der Mann soll selbst erzählen!« Aber der Chauffeur blieb stumm.

»Waren Sie in jener Nacht in Königsberg?«

»Jawohl!«

»Wohnten Sie im Hotel?«

»Jawohl!«

»Gaben Sie sich für Ihren Herrn aus?«

»Jawohl!«

»Weshalb taten Sie das?« Wieder stand der Mann wie ein Stück Holz da und rührte sich nicht. »Taten Sie das aus Prahlsucht oder hatten Sie vielleicht den Auftrag erhalten, es zu tun?«

»Aus Prahlsucht!«

»Was wollten Sie denn in Königsberg?«

»Mich amüsieren. Ich hatte Urlaub.«

»Sind Sie denn so gut gestellt, daß Sie sich für die weite Strecke ein Mietauto nehmen konnten?«

»Jawohl, ich kann es mir leisten.«

»Meine Herren Geschworenen, ich halte es für leicht möglich, daß dieser Mann tatsächlich ein Vergnügen daran fand, als ein Herr Dr. Glasberg in einem feinen Hotel zu wohnen. Aber weshalb, Herr Dr. Glasberg, haben Sie denn von sich behauptet, mit diesem Mietauto nach Königsberg gefahren zu sein und im Hotel gewohnt zu haben? Sie müssen doch einen Zweck damit verbinden?«

Glasberg lächelte wie verlegen. Am Morgen habe er seinen Chauffeur ausgefragt und erfahren, daß er unter seinem Namen sich in Königsberg amüsiert habe Dann hörte er von der Mordtat und machte sich klar, daß er unter Umständen in den Verdacht kommen konnte, der Täter zu sein. »Das Vergehen meines Chauffeurs, über das ich zuerst ärgerlich war, kam mir jetzt sehr gelegen. Es ergab sich ein leicht zu beweisendes Alibi für mich. Ich machte davon Gebrauch.«

»So waren Sie tatsächlich in jener Nacht in Serbenitz?«

»Nein, ich war in der Tat ebenfalls in Königsberg.«

»Wie kamen Sie denn dorthin?«

»Auch mit einem Mietauto! Ich traf es auf der Chaussee und hielt es an. Aber ich hatte mir nicht die Nummer gemerkt. Es mußte mir nach den Vorgängen jener Nacht sehr daran liegen, mein Alibi leicht nachweisen zu können. Deshalb machte ich von der Extratour meines Chauffeurs den Gebrauch, den Sie kennen und den ich hiermit als Lüge eingestehe.«

»Sie haben unter Ihrem Eid ausgesagt.«

»Nichts Falsches! Ich bin mit einem Mietauto nach Königsberg gefahren. Ich kann es jetzt nur nicht beweisen.«

»Sind Sie auch so zurückgekommen?«

»Ja! Aber auch von diesem Auto habe ich mir nicht die Nummer gemerkt.«

»Und Sie sind im Hotel gewesen?«

Glasberg lächelte wieder. »Ich kann es leider aus besonderen Gründen nicht sagen, wo ich gewesen bin.«

»Und Sie haben keinen Zeugen dafür?«

»Es gibt einen Zeugen, aber seine Ehre ist an sein Schweigen gebunden, wie meine Ehre als Mann es mir verbietet, diesen Zeugen zu nennen.«

»Sie haben in dieser Nacht also ein galantes Abenteuer erlebt?«

Wieder lächelte Mario wie verlegen. »So ist es! Die Schwierigkeit, mein Alibi zu beweisen, stand mir sofort vor Augen, als Fräulein Fenn mir von den furchtbaren Vorgängen jener Nacht berichtete. Deshalb freute ich mich, daß mein Chauffeur mir durch seine Extratour zu Hilfe kam. Sie werden unter diesen Umständen verstehen, daß ich nach schweren Bedenken von der günstigen Gelegenheit Gebrauch machte. Ich bin nun allerdings gerade damit hineingefallen.« Er stand lächelnd da, als ob er die ganze Angelegenheit nicht weiter ernst nähme.

Gitta dachte: Weshalb hat Wolf mir von diesen Sachen nichts gesagt? Ich weiß, er traute mir nicht, er hatte Angst, daß ich Mario warnen würde. Und vielleicht hätte ich ihn gewarnt.

Sie sah zwischen Holten und Glasberg hin und her. Liebe ich Mario denn? Ihr fiel der Abend ein, als sie mit Holten aus Glasbergs Wohnung mit dem geraubten Brief zurückgekommen war.

Damals hatte Wolf es ihr ins Gesicht gesagt: »Du liebst ihn!« Liebte sie ihn wirklich? War das Liebe gewesen, daß sie seit zwei Jahren auf seiner Fährte lag? Mario – Wolf, dachte sie. Empfand zugleich die merkwürdigen Beziehungen, die alle diese Menschen umspannten.

Neben ihr saß die blonde, verschleierte Frau. Sie sah das Sokratesprofil des Herrn Fenn, den bleichen Kopf Renates, deren Augen weit aufgerissen an Mario hingen, Sie sah den Angeklagten, der nervös an der Unterlippe nagte.

Auf einmal empfand sie mit Entsetzen, daß es hier um Tod und Leben ging. Weshalb sagte der Vorsitzende nichts? Sie sah, daß er sich den Bart strich. Der Staatsanwalt tat, als ob er in den Akten herumblätterte.

»Das sind allerdings sehr merkwürdige Sachen!« sagte der Vorsitzende jetzt. Man sah es ihm an, daß er ratlos war. Er vermochte es nicht über sich, Zweifel in die Worte des gutangezogenen Gentleman zu setzen, obwohl er ihn als schwer belastet empfinden mußte.

»Meine Herren,« begann Holten von neuem und deutete auf Mario. Er sprach von der überlegenen Ruhe des Herrn Dr. Glasberg, von der Sicherheit, die sein ganzes Wesen auszustrahlen scheine. »Aber Sie ahnen nicht, was hinter dieser Maske steckt. Wir, die Verteidiger des Herrn Margis, hätten uns damit begnügen können, auf die inneren Widersprüche und Haltlosigkeiten der gegen Margis gerichteten Anklage hinzuweisen. Wir hätten uns als Verteidiger auf die eigentliche Verteidigung des Angeklagten beschränken, darauf hinweisen können, daß, wenn man einen Menschen gemordet hat, man sich nicht ausgerechnet vor das Fenster eines von der Tochter der Ermordeten bewohnten Zimmers hinstellt, so daß man gesehen werden muß. Daß es unmöglich ist, einen solchen Dolch lose in der Tasche zu tragen, daß aber Fräulein Fenn keinen Dolch bei meinem Klienten gesehen hat. Sie werden es für ganz natürlich halten, daß man am Abend vor der Abreise noch einmal alle die Stätten besucht, an denen man schöne Stunden verlebt hat. Das alles würden Sie einsehen und meinen Klienten zum mindesten aus Mangel an Beweisen freisprechen müssen. Aber damit wollte ich mich nicht begnügen; denn dieser Fall gab mir endlich die lange gesuchte Möglichkeit in die Hand, diesem untadeligen Gentleman die Maske vom Gesicht zu reißen.«

Und nun begann er von Anfang an zu erzählen. Von den sonderbaren Umständen, unter denen Susette Streicher starb. Von ihrem Abschiedsbrief an die Mutter, den Glasberg nicht herausgeben wollte. Er berichtete, wie er sich in den Besitz dieses Briefes zu setzen versuchte und daß es ihm endlich gelang. Er verlas das Gutachten des Gerichtssachverständigen Makel.

Hier machte Glasberg mit überlegener Ruhe einen Einwand: »Ich werde Ihnen andere Gutachten beibringen, die den Brief für vollkommen echt halten.« Diese Worte schlugen beinahe die ganze Wirkung von Holtens Rede nieder.

Aber Holten fuhr fort. Er schilderte, wie er Glasberg beobachtete und beobachten ließ und auf tausend Lügen und Winkelzügen ertappte. Er gab ein Bild seines Charakters, schilderte sein von diesem merkwürdigen Zerstörungsdrang besessenes Wesen und berichtete schließlich von jenem seltsamen Gespräch in der Königsberger Tanzdiele und Marios großer erschütternder Beichte. Dies war der Augenblick, wo sich eine deutliche Bewegung der Zuhörer bemächtigte.

Holten ging dann auf die Ermordung von Maria Fenn über. Er gruppierte meisterhaft die Tatsachen, setzte auseinander, daß der Verdacht in erster Linie auf Glasberg fallen mußte und wie dieser vorsorglich und mit großer Kunst sich ein Alibi zurechtgezimmert habe, das dann hier soeben zusammenstürzte. »Es ist noch sehr viel zu tun, meine Herren; man wird zum Beispiel den Wagen Glasbergs untersuchen müssen und feststellen, daß der Vergaser gar nicht, wie er angibt, durchgebrannt war, sondern daß es lediglich darauf ankam, durch ein Mietauto, dessen Nummer man sich genau merkte, den Alibibeweis zu verstärken. Und nun bricht vor Ihren Augen dieses ganze Alibi kläglich zusammen. Es zeigt sich, daß Glasberg weder mit diesem Mietauto gefahren noch mit ihm zurückgekehrt ist. Man hat seinen Chauffeur für ihn gehalten. Von der künstlich aufgebauten Lüge ist nichts übriggeblieben. Und was sagt Herr Dr. Glasberg jetzt? Daß er mit einem Mietauto, das er zufällig auf der Chaussee traf, dessen Nummer er sich aber nicht gemerkt habe, nach Königsberg gefahren ist und dort eine galante Nacht verbracht hat! Weshalb hat er sich denn nicht ein Mietauto herauskommen lassen, wenn er nach der Stadt fahren wollte? Sein Chauffeur sogar war dazu imstande. Weshalb hat er nicht dasselbe Mietauto benutzt? Verlohnt es noch ein Wort darüber, daß dies alles eine plumpe Lüge ist? Ganz abgesehen davon, daß Herr Dr. Glasberg hier des Meineids vor Ihrer aller Augen und Ohren überführt ist. Er hat unter Eid ausgesagt, daß er nach Königsberg gefahren ist und im dortigen Hotel übernachtet hat. Wenn man schon von der Geschichte mit dem Auto absieht, so ist doch zum mindesten der Beweis erbracht worden, daß er nicht im Hotel gewesen ist. Herr Doktor Mario Glasberg ist des Meineids schuldig!« Holten schwieg.

»Was sagen Sie dazu?« fragte der Vorsitzende.

»Ich habe jene Nacht im Hotel zugebracht,« sagte Glasberg ernst, »wenn ich auch verschweigen muß, wie und unter welchen Umständen.«

»Sie sagten doch vorhin, daß Sie dort von Ihrer früheren Schwägerin, dem Fräulein Brigitte Streicher, gesehen worden sind? Vielleicht hat die Dame die Freundlichkeit, sich darüber zu äußern.«

Gitta sah, daß alle Augen sich auf sie richteten. Nur Mario blickte wie gleichgültig vor sich nieder.

Auf einmal fühlte sie, welches Gewicht ihr nächstes Wort haben mußte. Zuerst, ganze Sekunden lang, handelte es sich nur darum, ob sie Mario in dem Hotel gesehen hatte. Dann kam etwas anderes, Größeres, Schwereres von allen Seiten auf sie zugeflossen.

Auf einmal wußte sie, daß alle diese Augen von ihr wissen wollten, ob sie jene Frau war, mit der Glasberg die Unglücksnacht verbracht hatte. Sie sah Holtens Blick auf sich ruhen, sah, wie Renates Augen sie entsetzt, gefoltert, in unermeßlicher Qual anstarrten.

»Fräulein Streichet,« hörte sie wieder die Stimme des Vorsitzenden. »Sind Sie in jener Nacht mit Herrn Dr. Glasberg im Hotel zusammengewesen? – Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie, als mit dem Beschuldigten verschwägert, die Aussage verweigern können. Sie können die Aussage auch verweigern, wenn Sie sich selbst einer strafbaren Handlung, etwa des Ehebruchs, bezichtigen würden.«

Gitta stand schweigend an ihrem Platz. War es wirklich, daß alle Menschen jetzt auf ihre Worte warteten? Weshalb war es auf einmal so wichtig, was sie sagen würde?

Der Vorsitzende sprach wieder. »Verweigern Sie die Aussage, weil Sie mit dem Angeschuldigten verschwägert sind oder weil Sie sich selbst einer strafbaren Handlung bezichtigen müßten?«

»Ich bin in jener Nacht mit Herrn Dr. Glasberg im Hotel – –« hörte sie ihre Stimme leise, aber klar und deutlich den Raum erfüllen.

Sie merkte eine ungeheure Bewegung um sich. Einige Menschen waren aufgesprungen. Wolf van Holtens Augen hingen entsetzt an ihren Lippen. Mario sah sie ernst an. Luisa Margis wurde noch bleicher als vorher. Gitta sah es deutlich durch den Schleier hindurch. Sie sah alles, alle Menschen, alle Gesichter. Sie sah sich selbst in visionärer Deutlichkeit dastehen, mit geöffnetem Munde. Noch hatte sie den Satz nicht zu Ende gesprochen. Sie wußte nicht, wie sie im nächsten Augenblick fortfahren würde.

Drei, vier, zehn Sekunden dauerte schon das fürchterliche Schweigen. Ja, ich werde Mario retten! durchfuhr es sie. Ob Holten es glauben wird, was ich jetzt gleich sagen werde?

Sie sah noch immer seine entsetzten Augen auf sich ruhen und daneben das kalte, gleichgültige Gesicht Marios, der sie ernst anblickte. Sie sah ihm in die Augen, hoffend, fürchtend. Was fürchtete sie?

Daß sich im nächsten Augenblick der Ausdruck seines Auges verändern, daß ein siegreiches Triumphgefühl darin aufblitzen würde.

Das fürchtete sie. Und nun kam es: Ein leises Leuchten und Sprühen, verstohlen und verhalten, traf sie aus Marios Augen. Ein abschätzender Kennerblick musterte unter gesenkten Lidern die Sklavin, die im Begriff stand, sich und ihre Ehre für ihn hinzuwerfen. Keine Angst, keine Spur von Angst war darin und nicht die Spur einer Bitte. Was entsetzte sie eigentlich bei diesem Blick? Sie spürte eine eiskalte Hand nach ihrem Herzen greifen.

Auf einmal fühlte sie, daß in Marios Blick die Welt Susettes sie ansah. Macht, Glanz, Besitz! Mario und Susette! Jetzt konnte sie an dieser Welt teilhaben, wenn sie wollte. Das alles sagte Marios kalt verheißender Blick. Und daneben Wolf van Holtens zusammengesunkene Gestalt! Durch das Entsetzen seiner Augen sah sie bis auf den Grund seines Wesens. Die Welt, die erbarmungslos das Opfer eingefordert, und die Welt der entsagenden Leistung. Lichtgestalten und Menschen des Schattenreichs. Zu welchen gehörte sie? Sie stand vor ihrer schwersten Entscheidung.

Noch immer hatte sie ihren Satz nicht zu Ende gesprochen. Da erhob sich schwerfällig Herr Fenn von seinem Platz. Aller Augen richteten sich auf ihn, der wie ein riesiger Bär der Urwelt dastand und unbeholfen an seiner Brille rückte. »Ich bin nämlich der Mann der Ermordeten,« fing er an. »Was ist das?«

Er hob einen blitzenden Gegenstand empor, daß alle ihn sehen konnten, drängte sich aus der Bank heraus, hatte im Nu die Schranken überstiegen und hielt das Ding dem Vorsitzenden unter die Nase. »Was ist das?« fragte er noch einmal. Seine Stimme dröhnte durch den Saal.

»Meine Herren,« rief der Vorsitzende, »ich dulde keine Unordnung im Gerichtssaal!« Das bezog sich gleicherweise auf den Kalifornier wie auf den gerichtlichen Sachverständigen, der nach dem Gegenstand griff und ihn prüfend betrachtete. »Was ist das?« rief er seinerseits überrascht aus.

»Ja, was ist das?« fuhr Herr Fenn unbeirrt fort. »Ich fand dieses Ding unter dem Bett der Ermordeten, und zwar zwei Tage nach der Tat. – Herr Dr. Glasberg,« wandte er sich plötzlich an diesen, »es wird Ihnen fehlen! Wollen Sie es wiederhaben?«

Glasberg zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, was es ist.«

»Nun,« sagte der Kalifornier, »es ist der Verschluß eines Giftröhrchens, zum luftdichten Verschließen besonders empfindlicher Chemikalien, wie etwa Arsen oder Zyankali. Nehmen Sie, es fehlt Ihnen sonst bei Ihren Geräten. Das Röhrchen selbst haben Sie ja wohl mitgenommen, als Sie aus dem Fenster hinaussprangen. Aber diesen kleinen, sinnreichen Verschluß haben Sie in der Eile liegen lassen. Ist es nicht so?« Er blinzelte Glasberg freundlich an.

»Ich weiß nicht, was Sie wollen,« antwortete der. »Mir scheint es der Verschluß einer Cremetube oder Zahnpasta zu sein.«

»Nein,« rief der Sachverständige dazwischen, »dieses Ding ist allerdings der Verschluß eines Giftröhrchens und gehört zur Ausstattung eines chemischen Laboratoriums.«

»Herr Dr. Glasberg,« fuhr der Kalifornier fort, »hat dieses Ding aufs schmerzlichste vermißt. Er suchte, um es zu finden, immer wieder das Mordzimmer auf, wie der Herr Untersuchungsrichter bestätigen wird. Da er aber dabei leider nie allein blieb, sondern immer entweder eine Gerichtsperson oder doch meine Tochter anwesend war, konnte er anstandshalber nicht gut unter das Bett kriechen. Und zwei Tage später habe ich ihn nicht mehr empfangen. Ich allerdings bin gleich unter das Bett gekrochen, obwohl es verteufelt niedrig war.«

Nun hatte sich auch der Vorsitzende den kleinen Verschluß angesehen und ließ sich von dem Sachverständigen seine Eigenschaft erklären. Er strich sich erregt seinen Schnauzbart. »Aber Frau Fenn ist doch mit einem Dolch getötet worden?« fragte er.

»Freilich,« gab der Kalifornier zur Antwort. »Der Täter wollte sie, seiner chemischen Natur gemäß, vergiften. Aber er wurde dabei überrascht, genau wie es Herr Kunstmaler Margis ausgesagt hat, und griff in der Eile zu dem Dolch, der auf dem Nachttisch lag.«

»Ich verstehe nicht,« sagte Mario Glasberg. »Weshalb soll Herr Margis nicht Gift bei sich gehabt haben? Ich jedenfalls bin in jener Nacht in Königsberg gewesen.«

Er zeigte zu Gitta hinüber. Aber der Kalifornier stellte sich breitbeinig und gewaltig vor das junge Mädchen. Der Vorsitzende versuchte vergeblich, die Ordnung wiederherzustellen.

»Bei Gott!« rief Herr Fenn in den Saal. »Lassen Sie dieses junge Mädchen in Ruhe! Wollen wir wetten, daß Sie zu Hause in Ihrem Laboratorium noch das Glasröhrchen ohne den Verschluß aufbewahren?«

»Da werden sich wahrscheinlich viele Röhrchen ohne Verschlußstück befinden,« antwortete Glasberg.

Holten hatte sich nicht an der Debatte beteiligt. Als Gitta sich anschickte, für ihren und seinen Todfeind auszusagen, war eine Welt in ihm zusammengestürzt. Er wußte, daß ihm jetzt alles gleichgültig war. Gitta, seine Freundin, seine Verbündete, seine Braut, wollte ihm die Waffe aus der Hand schlagen, als er den rettenden Streich zu führen gedachte.

Unendliches Weh durchschnitt sein Herz. Alle Worte, die sie je über Mario gesagt hatte, schossen auf ihn zu. Natürlich! schrie es in ihm. Es ist ganz folgerichtig! Sie kann gar nicht anders! Er wurde kaum gewahr, daß sich die Schlinge um Marios Hals zusammenschnürte, und vielleicht war es ihm sogar gleichgültig, da nicht er sie zuzog.

Der Vorsitzende hielt den kleinen blitzenden Gegenstand unschlüssig in der Hand. Man merkte ihm an, daß er über die Beweiskraft dieses Dinges angestrengt nachdachte. Wenn das wirklich zur Ausstattung eines chemischen Laboratoriums gehörte, dann war der Fund in dem Mordzimmer von entscheidender Bedeutung.

In diesem Augenblick geschah etwas höchst Merkwürdiges. Renate, die jetzt, da ihr Vater seinen Platz verlassen hatte, neben Gitta saß, beugte sich auf einmal zu ihr nieder, küßte ihre Hände, umschlang ihre Knie mit heftigen Bewegungen. Die Umsitzenden sahen es mit Erstaunen und wußten diesen Vorgang nicht zu deuten. »Retten Sie ihn!« flüsterte Renate ihrer Feindin zu. »Um Gottes willen, retten Sie ihn!«

»Nein!« schrie Gitta plötzlich auf und stieß Renate zurück.

Und mit derselben scharfen, hellen Stimme rief sie in den Saal hinein: »Ich bin nicht mit Mario Glasberg zusammen gewesen! Ich sah nur jemand die Treppe hinaufgehen. Heute aber habe ich ihn erkannt: es war Glasbergs Chauffeur!«

Renate bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und weinte vor sich hin. Es war das einzige Geräusch, das die unbeschreibliche Stille des Raumes unterbrach. Der Staatsanwalt erhob sich langsam von seinem Sitz.

»Ich beantrage Freisprechung des Angeklagten und Eröffnung eines neuen Verfahrens gegen Dr. Mario Glasberg. Dr. Glasberg ist verhaftet!«

Wie die Zähne einer scharfen Säge schnitten die Worte durch die Stille. Vier Polizisten umringten Glasberg und fesselten ihn. Der Gerichtshof zog sich zur Beratung zurück. Niemand wagte währenddessen seine Stellung zu verändern. Die blonde Luisa hielt den Kopf unter dem dichten Schleier gesenkt. Selbst Margis hatte die Augen mit der Hand verdeckt. Nur der Kalifornier stand wie ein drohender Turm und blickte ins Weite. »Ich habe Maria gerächt!« drückte seine Miene aus.

Als die Geschworenen hinausgegangen waren, löste sich die Spannung. Niemand mehr konnte an dem Spruch zweifeln.

»Komm!« sagte Wolf van Holten zu Gitta. »Mein Vertreter besorgt alles übrige. Wir können gehen!«

Sie nickte und folgte ihm. Nur in der Tür warf sie noch einen Blick zurück. »Mario! Mario!« Sie erwartete, daß der sich nach ihr umsehen würde; aber er stand, die Augen träumend ins Weite gerichtet, da. Das kindlich offene Gesicht sah unsäglich müde und fast friedlich aus. Ihr schien beinahe, als ob er lächelte, als er den Polizisten die Hände hinhielt und sich fesseln ließ.

Willenlos ließ sie sich von Wolf aus dem Saal führen, durch die langen Korridore, über die hallenden Treppen. Draußen winkte er ein Auto heran. Sie fuhren durch die halbe Stadt, hatten das Gefühl, Raum zwischen sich und jene furchtbaren Vorgänge legen zu müssen.

An einer kleinen Weinstube ließ er halten. Sie setzten sich in eine Nische. Noch immer hatte keiner von ihnen ein Wort gesprochen. Mit Aufbietung aller Kräfte konnte Wolf bei dem Kellner eine Kleinigkeit bestellen. Dann saßen sie wieder schweigend nebeneinander.

Da begann Gitta leise zu flüstern. »Ich will dir danken, wenn du mich dem Henker übergibst. Du sollst die Bestie in mir totschlagen lassen!«

»Das sind doch Marios Worte?« fragte er erstaunt. »Ja, das hat Mario zu dir gesagt.«

»Hast du ihn deshalb – nicht gerettet?«

»Vielleicht deshalb,« sagte sie und sah ihn ernst an. »Vielleicht aber auch, weil ich zu dir gehöre. Als ich ihn retten wollte, fühlte ich, daß ich zu dir gehöre. Ich bin keine Susette!«

Er streichelte leise ihre Hand, und sie ließ es geschehen.

 

Ende


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