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6

Am nächsten Morgen konnte er kaum das Zusammensein mit den Frauen erwarten. Ihm schien, als müßte nun alles anders zwischen ihnen werden, seit er Renate des Nachts belauscht hatte. Er hatte den Eindruck, in einer geheimnisvollen Weise Gewalt über sie bekommen zu haben.

Als er aufwachte, hatte sich der Himmel bezogen. Es regnete nicht, aber an solchen Tagen pflegten die Frauen dem Strand fernzubleiben. Alle seine guten Vorsätze vom gestrigen Abend waren geschwunden. Er dachte wohl noch an seine Absicht, die Bilder schnellstens zu beendigen und fortzufahren, und er widersprach dieser Absicht auch nicht gerade. Aber wie sollten die Bilder geraten, wenn er sich innerlich von seinen Modellen löste? So trieb er wieder auf der Flut seiner Empfindungen.

Er zog sich am Strande nicht erst aus, so sicher war er, daß die Frauen heute fortbleiben würden. Aber er klomm doch den Hang hinauf, schlenderte oben durch die grüne Dunkelheit des Waldes und konnte das Auslugen nicht unterlassen. Still lagen die Birkenallee und der Park. Schon herbstliche Wolken zogen über die Wiesen und Felder. Wie, wenn er einfach nach dem Gutshof ging? Mußte er sein Kommen noch begründen? War er nicht genugsam dort zu Hause? Nein, er war es nicht!

Aber vielleicht lag es nur an ihm, diese Abgrenzungen zu durchbrechen? Er ging über die Wiese, dann zwischen den Feldern hindurch zur Chaussee. Vielleicht hatte er sogar etwas Wichtiges mitzuteilen. Er konnte sagen: »Wir müssen nun auch am Vormittag arbeiten. In acht Tagen muß ich in Berlin sein. Mich erwartet dort ein großer Auftrag.« Vielleicht war es überhaupt gut, so etwas zu sagen.

Er überquerte die Chaussee und bog in die Birkenallee ein, schlenderte weiter, als genösse er die Landschaft, und dachte daran, wie er gestern abend hier entlang gegangen war. Würde er Renate sehen? Was für ein Kleid würde sie anhaben? Er bog durch das geöffnete Gittertor in die Auffahrt ein. Wie schön die Rosen der Rabatten in dem trüben Licht des wolkigen Tages aussahen! Vor der Veranda stand Glasbergs Auto, ohne Chauffeur.

Also doch! Wenn die Frauen nicht zum Strand kamen, war Glasberg bei ihnen. Sie benutzten die Ausrede des trüben Wetters, und er kam angefahren. Und ohne den Chauffeur, genau wie gestern abend! Aber das Auto hatte in der Nacht nicht hier gestanden. Nein, so dumm war Glasberg nicht. Das ließ er irgendwo im Gestrüpp; der Wald bot Verstecke genug.

Auf der Veranda saß Renate und las. Als sie den Kopf hob, bemerkte er, daß sie dunkle Ränder unter den Augen hatte. Kein Wunder, wenn sie in den Nächten am Fenster saß. Aber weshalb war gerade heute ihre Müdigkeit so sichtbar? Saß sie nicht in allen Nächten am Fenster und sah in den Park hinaus? Hatte sie es gestern zum erstenmal getan?

»Guten Tag, Fräulein Renate!« sagte er und ging zu ihr. Sie beachtete ihn nicht sonderlich, gerade, daß sie nicht weiterlas. Reichte ihm auch nicht die Hand. »Komme ich ungelegen?«

»Nein, wieso? Herr Glasberg ist bei der Mutter drin.« Er fragte, ob die beiden etwas zu besprechen hätten. Er wolle nicht stören. Dabei setzte er sich neben sie. Sie legte das Buch zur Seite. »Ärgern Sie sich, daß ich Ihre Lektüre unterbreche?«

»O Gott, nein!« sagte sie. »Ein entsetzlich langweiliges Buch! Aber alle lesen es.«

»Weshalb lesen Sie es denn? Es ist kein Buch für Sie.« Er hätte heute keine Lust zum Baden. Das Wasser wäre eisig. Und überdies müsse er die Bilder beschleunigen. Er werde in der nächsten Woche nach Berlin zurückfahren. Dabei wartete er ängstlich auf ein Zeichen ihres Bedauerns. Es sollte ihr leid tun, daß er fortfuhr.

»Schade!« sagte sie. Es war so unbetont gesprochen, daß es nur Höflichkeit schien. Auf einmal fiel ihm ein, daß es van Holten war, der seine Frau wegen eines Bildankaufs angerufen hatte. »Was ist eigentlich mit van Holten los?« fragte er unvermittelt. Sie hob den Kopf und sah ihn an. »Haben Sie von – von diesem Mann etwas gehört?«

»Das nicht!« sagte er. »Aber Holten scheint an jenem Auftrag für mich irgendwie beteiligt zu sein. Ich weiß übrigens nichts darüber. Es scheint mir nur so. Und da ich Herrn Doktor Glasberg hier nun kennengelernt habe, interessiert es mich natürlich, was zwischen den beiden Herren spielt. Es ist jedenfalls sicher, daß Holten das Bild Glasbergs auf seinem Schreibtisch stehen hat.«

»Ach,« sagte sie, »es ist nichts weiter. Eine Dummheit. Herr van Holten soll der Ansicht sein, daß Herr Glasberg seine erste Frau, die Schauspielerin, umgebracht hat.«

»Wie denn? Sie hat sich doch selbst das Leben genommen?«

»Ja aber Holten soll behaupten, daß Glasberg es getan hat. Verrückt, nicht?«

»Anscheinend!« sagte Margis; aber er war betroffen. Er hatte sogar das Gefühl, zu erbleichen. War das möglich, was Holten behauptete? Aber was war hier nicht möglich?

In diesem Augenblick trat Glasberg mit Maria Fenn aus dem Haus. »Hallo, Meister Margis!« rief er. »Gerade wollte ich zu Ihnen kommen, um mich wegen gestern abend zu entschuldigen.« Frau Fenn bewillkommnete ihn gleichzeitig mit vielen Worten.

Mario Glasberg sprach sein Bedauern aus, Margis am Abend verfehlt zu haben. Der Chauffeur wäre ein dummer Kerl. »Selbstverständlich hätte ich Sie brennend gern auf Serbenitz begrüßt. Zu jeder Tages- und Nachtzeit!« Er forderte den Maler auf, ihn gegen Abend zu besuchen. Fragte, ob er Jäger sei. Sie könnten abends oder auch am nächsten Morgen pirschen gehen.

Margis war nicht Jäger; aber er liebte es, im Wald herumzustreifen. Ihm fiel ein, was Glasberg in den Dünen zu ihm gesagt hatte: »Man könnte nette Abende miteinander verbringen, zusammen Auto fahren, jagen, bei den Damen Fenn tanzen und tausend Sachen mehr.« Seither hatte er Glasberg kaum zwei- oder dreimal flüchtig gesehen, und von diesen angenehmen Dingen war nicht mehr die Rede gewesen. War Glasbergs Gleichgewicht inzwischen durch irgend etwas gestört worden?

Der Chemiker schien seine Gedanken zu erraten. »Überhaupt hoffe ich, Sie jetzt öfters zu sehen, Meister. Ich hatte in den beiden letzten Wochen viel vor. Ich habe Spritztouren in die Umgegend gemacht und nachts gearbeitet. Aber auch Sie haben sich ja hier mit dem Pinsel vor Anker gelegt!«

Margis überlegte sich, ob das vielleicht eine eifersüchtige Warnung sein sollte. Aber nichts schien in dem offenen Knabengesicht Glasbergs zu drohen. Es strahlte eitel Lebenslust und gute Laune aus. »Also heute abend, Meister! Gegen sechs oder sieben Uhr. Sie essen zur Nacht mit mir und bleiben bis in die Unendlichkeit.« Er reichte allen die Hand, sprang zum Auto hinunter und fuhr davon.

Margis berichtete von seinem Plan, die Bilder in einer Woche zu beenden und fortzufahren.

»Um Gottes willen!« rief Maria Fenn aus. »Wie können Sie uns sobald allein lassen! Im Herbst und Winter sind wir lange genug einsam!«

Der Ausbruch tat ihm nach Renates Gleichgültigkeit wohl. Aber auch hier wußte er nicht, ob es nicht nur Höflichkeit war. Lag der Frau wirklich etwas an seiner Gesellschaft? Vielleicht war es nur die Gegenwart Renates, die jeden Gefühlsausdruck der Mutter zurückdämmte?

»Gnädige Frau!« sagte er, »Sie beschämen mich. Wie kann ich hoffen, daß meine Gegenwart Ihnen etwas bedeutet?«

»Nur niemand halten wollen, Mama!« rief Renate dazwischen. Es wirkte in dem Augenblick, da Maria Fenn und der Maler sich gerade in Freundschaftsbeteuerungen überbieten wollten, so komisch, daß sie alle drei lachten. Während des Gelächters wurde Margis inne, daß er die ganze Zeit an Renates Worte gedacht hatte: »Herr van Holten soll der Ansicht sein, daß Herr Glasberg seine erste Frau umgebracht hat!« Eine merkwürdige Ansicht Holtens! Konnte man ihm zutrauen, daß er sich in eine unsinnige Idee verbiß? Während diese Sätze in klarer Formulierung durch seinen Kopf gingen, lachte er immer noch mit den Frauen.

»Nun, dann muß ich mich in der Tat verabschieden,« sagte er und löste neues Lachen aus. Maria Fenn begleitete ihn bis zur Allee, während Renate wieder zu ihrem Buch griff.

»Heute muß Ihr Bild fertig werden, Frau Maria. Aber dazu wird es nötig sein, daß wir einige Stunden ungestört sind. Morgen werden dann Sie beide gemalt. Aber heute nachmittag sind wir allein im Salon, gelt?«

Maria Fenn seufzte: »Wie sag' ich's meinem Kinde?« Und begann von Renates Eifersucht zu sprechen. »Wissen Sie, daß eine erwachsene Tochter einen am liebsten abdrosseln möchte? Man hat doch manchmal das Bedürfnis, mit jemand allein zusammen zu sein. Sie erlaubt es nicht!«

Auf einmal lachte sie wie ein kleines Mädchen. »Mit Herrn Dr. Glasberg gebe ich mir manchmal geradezu ein Rendezvous. Ihnen kann ich's sagen, Sie verstehen es natürlich nicht falsch. Ich reite mit dem Verwalter aufs Feld – Renate mag nicht reiten – und treffe mich hinter der Waldecke mit Glasberg. Ich will mich doch auch über Renate mit jemand aussprechen, nicht wahr? Was soll aus dem Mädchen werden? Was meinen Sie, Margis? Sie will nichts lernen und nichts arbeiten. Sie werden mir sagen, daß sie heiraten wird. Aber solche Wesen werden in jeder Ehe unglücklich sein. Und wie, wenn ich selbst noch einmal heiraten sollte?« Sie sah ihn fragend an.

»Das wird Renate nicht zulassen,« sagte er lachend.

»Nein, sie wird es nicht zulassen. – Also auf heute nachmittag!« Sie ging um das Rondell zur Veranda zurück.

Es ist nichts zwischen ihr und Glasberg! entschied sich Margis. Natürlich ist sie in den Jungen verliebt. Auch Renate ist in ihn verliebt. Wenn Glasberg nicht da wäre, würden sie beide in mich verliebt sein, und es würde ebensowenig zu bedeuten haben. Oder nein! Wahrscheinlich weniger, viel weniger! Aber ist Glasberg in Maria Fenn verliebt? Dann gibt es ein Unglück. Er wußte nicht, weshalb es ein Unglück geben würde. Jedenfalls nicht wegen Glasbergs Frau, die nur in geringem Grade auf der Welt zu sein schien. Aber vielleicht wegen Renate!

Auf dem Weg überlegte er, daß er seit gestern abend ein großes Stück vorwärts gekommen war. Es war gut, daß er Renate des Nachts in ihrem Fenster gesehen hatte und heute vormittag einfach nach Klein-Klank gegangen war. Was hatte er alles in diesen Stunden kombiniert! Man nahm immer alles zu wichtig, beschwerte jede Äußerung, jeden Umstand, jedes Kommen und Nichtkommen mit tausend Möglichkeiten, und dabei war alles so einfach. Natürlich! Wenn die Frauen nicht baden wollten, so riefen sie Glasberg an, und er kam zu ihnen gefahren. Man brauchte wirklich an keine nächtlichen Feste zu denken, und wenn die drei vielleicht zusammen soupierten, so war es sicher kaum anders als seine eigenen Zusammenkünfte mit den Damen Fenn. Die Eifersucht Renates sorgte schon dafür. Aber wie kam Holten darauf, daß Glasberg seine Frau umgebracht haben sollte? Ein toller Gedanke! Oder hatte Glasberg es wirklich getan?

Am Nachmittag empfing ihn Renate auf der Veranda noch kühler. Sie sah kaum von ihrem Buch auf, als er ins Haus hineinging. Natürlich hatte sie auch nicht das rotseidene Kleid an, sondern etwas, was sie fast niemals trug: Rock und Bluse. Es stand ihr allerliebst. Natürlich wußte sie das. Sie schlug damit zwei Fliegen mit einer Klappe. Erstens sah sie gut aus, zweitens dokumentierte sie Margis gegenüber: »Es ist mir ganz gleichgültig, wie ich für Sie aussehe.« Rock und Bluse waren ungefähr eine Kriegserklärung und Mobilmachung.

Im Salon erwartete ihn Maria. »Renate ist böse!« sagte sie. Er erwiderte, daß er es gemerkt hätte. »Ist das schlimm?«

Maria fand, daß es doch eigentlich sehr ehrenvoll für ihn wäre.

»Nein,« sagte er ernst. »Man muß nicht alle Situationen über einen Kamm scheren. Sie ist nicht eifersüchtig auf mich, wie sie es etwa auf Herrn Dr. Glasberg wäre, sondern nur in dem Sinne, daß ich als ziemlich gleichgültige Person es fertigbekomme, sie von etwas auszuschließen. Sie ärgert sich darüber, daß Sie, Frau Maria, mir einige Stunden mit sich gönnen, nichts weiter.«

»Sie dürfen sich nicht so gering einschätzen, Lieber!«

»Ich schätze mich richtig ein.«

»Nein, Sie sind zu bescheiden!« sagte Maria. Er sah sie erstaunt an, begann aber schon, die Farben auf der Palette zu prüfen. In diesem Augenblick wirkte sein Entschluß, die Bilder zu beenden und abzufahren. Merkwürdigerweise gerade in diesem Augenblick. Maria Fenn nahm schweigend ihre Pose ein. Er arbeitete mit strenger Sachlichkeit. Es war wenig mehr oder noch alles an dem Bilde zu tun. Der letzte Eindruck der Fertigkeit war heraufzubeschwören, ohne daß man das Wesentliche, das längst dastand, antastete.

»Wenn Sie wüßten, was ich hier male, würden Sie mich hinauswerfen,« sagte er endlich.

Sie sah ihn fragend an. »Ich genieße Sie,« sagte er trocken. Und nach einer Weile, sie groß und offen ansehend: »Darf ich Sie küssen?«

Da sie nichts antwortete, trat er zu ihr, nahm ihren Kopf in beide Hände und küßte ihren Mund, ihre Augen, ihre Stirn.

»Deswegen wollten Sie mit mir allein sein?« fragte sie, ihn zurückschiebend.

»Ja!«

Sie stand auf, und ihm war, als ob seine Zärtlichkeiten damit von ihr abflössen und zu Boden sanken. »Ich habe es gestattet,« sagte sie ernst. »Aber tun Sie es nie wieder!«

»Weshalb nicht?« fragte er fast barsch.

»Weil – ich einem andern gehöre. Was haben Sie gemalt?« Sie zeigte auf das Bild. »Mein Gott!« sagte sie. »Das ist ein Meisterwerk!« Sie stand ergriffen vor der Staffelei.

Renate kam herein. Margis bemerkte mit innerer Schadenfreude, daß Maria vor ihrer Tochter verwirrt war.

»Wenn Sie um sieben in Serbenitz sein wollen, müssen Sie jetzt fort!« sagte Renate. Und in diesem Augenblick fühlte er, daß er hunderttausendmal lieber Renate geküßt hätte.


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