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2

Am nächsten Tage begann der Maler einen Brief an den Rechtsanwalt van Holten in Berlin. Ihm war, als müsse er diesem die Begegnung mit Mario Glasberg und die seltsame Wirkung, die die Erwähnung seines Namens hervorgerufen, mitteilen. Aber auch zwei, drei Tage später war der Brief nicht über die ersten Sätze hinausgekommen. Schließlich kannte er den Rechtsanwalt nicht genauer, als einige gemeinsame Abende im Bühnenklub und einige Besuche mit sehr vielen Menschen zusammen es mit sich brachten. Und was ging es ihn eigentlich an, was zwischen van Holten und Glasberg vorgefallen sein mochte! Sie waren Freunde gewesen und hatten sich getrennt, nichts weiter. Oder van Holten hatte vielleicht einen Prozeß gegen die Leynhausener Glasbergs geführt und gewonnen. Es war nichts Besonderes daran, und es wäre direkt taktlos gewesen, bei van Holten daran zu rühren.

Dennoch standen gleich im Anfang des Briefes einige Sätze, die dem Maler so unbedingt das Richtige auszudrücken schienen, daß er den Bogen nicht fortwarf. »Ich habe natürlich keine Ahnung, lieber van Holten, weshalb ich Ihnen davon schreibe. Aber eine innere Stimme sagt mir, daß es richtig ist. Verzeihen Sie, wenn ich dadurch vielleicht schmerzliche Saiten bei Ihnen zum Klingen bringe, aber –.« So weit hatte er geschrieben, als er den Brief abbrach.

Seit jenem Abend blieb er nicht mehr in der Hoteldiele sitzen, bis die Musik begann. Er stand frühzeitig von seinem Tisch auf und legte sich in die nahen Dünen. Aber immer so, daß er ein heranfahrendes Auto bemerken mußte. Oder strich durch das kleine Badedorf, ging den Weg zum Wäldchen, dann in dieses hinein. Aber wiederum immer so, daß er die Autostraße im Auge behielt und gleichzeitig jenen Pfad überblickte, auf dem Mutter und Tochter im vorigen Jahr ihm begegnet waren. Es war, wie er in Erfahrung gebracht hatte, der Fußweg von St. Lüne nach Klein-Klank. Für sein Leben gern wäre er hier weitergegangen, um den Gutshof liegen zu sehen. Aber er fürchtete eine Begegnung mit Glasberg oder den Frauen, wobei es sich herausstellen konnte, daß er ihnen nachspionierte. Im übrigen arbeitete er fleißig an seinem letzten Bilde weiter. In den Kusseln am Strand, rechts von der allgemeinen Badestelle, hatte er sich eine richtige kleine Räuberhöhle angelegt. Nicht eine Hütte gerade, aber so etwas wie einen Vorratsschrank. Ein Loch im Sandboden, mit kleinen Hölzern abgesteckt, um seine Staffelei, die Palette, Pinsel und Farben unterzubringen. Es war ihm gesagt worden, daß man in dieser Gegend nicht stehle. So bedurfte es nur eines Verschlusses gegen den Regen.

Jeden Morgen, wenn es einigermaßen gutes Wetter war, stellte er in den Dünen die Staffelei auf, zog den Malerkittel über den bloßen Körper und arbeitete, badete, las. Eigentlich hätte er es den ganzen Tag bis zum Abend so treiben können, aber gegen Mittag bekam er doch Hunger, und die Hitze wurde zu stark. Selbst im Schatten stand die Glut zwischen den Bäumen. Dann ging er in sein Hotel zurück, aß und legte sich eine Stunde aufs Bett. Nach dem Kaffee ging er gewöhnlich wieder an seine Bade- und Malstelle. Aber es war dann nicht mehr das Richtige. Gewöhnlich zog er sich bald an, verstaute die Sachen und machte Spaziergänge. Über diesen Nachmittagsstunden lag eine Unlust, die bis zum Schlafengehen anhielt und erst am nächsten Morgen fortgeblasen war. »Vielleicht bin ich doch zu einsam!« sagte er sich.

An einem der nächsten Vormittage tauchte Mario Glasberg überraschend zwischen den Dünen auf. Da nie ein Mensch hierher kam, man aber allgemein im Hotel und Dorf seine Arbeitsstätte kannte, war es kaum anders möglich, als daß Glasberg ihn absichtlich aufsuchte.

»Holla!« rief Glasberg von weitem. »Holla, Meister Margis! Darf man sich dem geweihten Bannkreis nahen?« Sie setzten sich auf die Sandhügel; Margis reichte Zigaretten. Glasberg war gekommen, um sich für den plötzlichen Aufbruch neulich zu entschuldigen. »Sie werden diese Eile natürlich auf sich bezogen haben, Meister. In Wirklichkeit wollten wir nur einmal in diesen Tempel Terpsichores hineinschauen, einige Runden machen und wieder verschwinden. Wir hatten es uns gar nicht überlegt, daß, wenn zwei tanzen, der Dritte genasführt dabeisitzen muß. Gott sei Dank sprangen Sie ein.«

»Bitte!« unterbrach Margis. »Es war aber unverkennbar, daß Sie und die Damen sich zurückzogen, als ich den Namen Holtens genannt hatte.«

Damit hätte er allerdings einen Namen genannt, der ihm ziemlich verhaßt wäre. Und wie der Zufall spiele: Gerade an diesem Nachmittag hätte er den Damen Fenn von seinem feindlichen Zusammenstoß mit dem Rechtsanwalt erzählt. Holten hätte sich ihm gegenüber wirklich toll benommen. Aber das wären alte, begrabene Geschichten. Glasberg lächelte dazu und entblößte seine prächtigen Zähne. »Sind Sie übrigens mit Holten befreundet?«

Diese Frage rief bei Margis ein ihm selber unerklärliches Mißtrauen hervor. Er verstand sofort, daß diese Frage der eigentliche Grund war, weshalb Glasberg ihn aufsuchte. Vielleicht war es Mario Glasberg unbequem, wenn van Holten durch ihn etwas von seinem hiesigen Aufenthalt erfuhr? Vielleicht wollte er sich vergewissern, ob der Maler nicht schon an Holten geschrieben hatte oder schreiben wollte? Er zögerte mit der Antwort, wußte nicht recht, was da zu sagen war.

»Verzeihen Sie meine Frage!« fuhr Mario Glasberg fort. »Natürlich, ich bin indiskret; aber es handelt sich um folgendes: Wenn Sie mit Holten befreundet sind, ist natürlich jeder Verkehr zwischen Ihnen und mir ausgeschlossen. Denn Holten ist einfach mein Feind. Im andern Fall hätte ich gern meinen Aufenthalt hier mit Ihrer Gesellschaft ein wenig gewürzt. Man könnte nette Abende miteinander verbringen, zusammen Auto fahren, jagen, bei den Damen Fenn tanzen und tausend Sachen mehr.«

»Wohnen Sie in Klein-Klank?« fragte Margis dagegen.

»Oh, keine Spur! Ich wohne auf dem Rittergut Serbenitz, bei meinem Freund Teuffel.«

Margis fuhr zusammen. Der Name erschreckte ihn in diesem Augenblick. »Teufel?«

»Teuffel! Baron von Teuffel! Eine in Deutschland nicht unbekannte Familie. Ich bin seit Jahren in jedem Sommer dort. Wenn Sie so wollen, sehe ich dort nach dem Rechten, wenn Baron Teuffel verreist ist. Ende Juli kommt er wieder; wir verbringen dann noch eine gemeinsame Woche, und ich rutsche wieder an die Arbeit. Also: Sind Sie mit Holten befreundet?«

Das alles war mit vollendeter Liebenswürdigkeit herausgesprudelt, von einem Lächeln und dem Blitzen der prachtvollen Zähne begleitet. Margis mußte wieder daran denken, daß keine Frau diesem Manne widerstehen konnte.

»Nein!« sagte er. »Ich kenne Holten nur oberflächlich. Aber noch in diesem April sah ich Ihr Bild auf seinem Schreibtisch. Hinterher, als Sie fort waren, fiel mir das alles ein.«

»Was heißt alles?« fragte Glasberg scharf zurück und bohrte seine Augen in das Gesicht des Malers. Margis erwiderte den Blick ruhig.

»Alles, was man seinerzeit über Sie redete. Aber das sind unangenehme Erinnerungen für Sie.« Er sah nicht ein, weshalb er Glasberg gegenüber ein Blatt vor den Mund nehmen sollte.

Mario Glasberg stand auf und ging einige Schritte weiter. Plötzlich drehte er sich wieder um. Seine Augen waren niedergeschlagen. Er hatte das Gesicht eines gescholtenen Knaben.

»Man hat diese Geschichte also noch nicht vergessen?« sagte er langsam. »Ich dachte, daß jetzt Gras darüber gewachsen sei. Aber es ist noch immer so: Wenn einer den Namen Mario Glasberg hört, dann denkt er sofort an die furchtbare Geschichte mit Susette Streicher, nicht wahr?«

»Ich entsinne mich keiner Einzelheiten, Herr Doktor, und es ist auch nur wie eine ganz ferne Erinnerung.«

Mario Glasberg schlug die Augen auf. »Bitte, Meister Margis, was wissen Sie noch davon? Verzeihen Sie! Aber es interessiert mich natürlich brennend, wie man heute, nach mehr als zwei Jahren, über diese Geschichte denkt. Bitte, was wissen Sie noch davon?«

Margis rekapitulierte mit kurzen Stichworten, was er über Susette Streichers Ende in der Erinnerung hatte: ihre Flucht mit Mario vor dem elterlichen Widerspruch, die kurze Ehe und dann den überraschenden Selbstmord. Er dachte, daß Glasberg nur unter Qualen diese Geschichte anhören könnte. Als er aber aufsah, bemerkte er statt eines verstörten Gesichts, wie der Chemiker mit Interesse, ja, mit einer gar nicht verhehlten Befriedigung, mit einem fast glücklichen Leuchten in seinen Augen zuhörte.

Was ist das für ein Mensch! dachte er entsetzt. Im nächsten Augenblick aber korrigierte er diesen Eindruck. Natürlich war es nur der Gedanke an die Geliebte, an das Jahr ihres unbeschreiblichen Glücks, das diese beseligende Wirkung bei ihm auslöste.

»So!« sagte Glasberg nach einer Weile. »Und weshalb, glauben Sie, hat sich meine Frau das Leben genommen? Haben Sie darüber etwas gehört?«

»Dumme Gerüchte! Man sprach damals sogar davon, daß Ihr Herr Vater die unbequeme Schwiegertochter aus dem Wege geräumt habe. Es hieß auch, daß die allzu zudringliche Liebe eines Prinzen – ich weiß nicht, welches – Susi Streicher in den Tod getrieben habe. Das ist aber wohl alles Unsinn?«

Glasbergs Gesicht war wieder eisig geworden. »Ich weiß nichts!« sagte er nach einer Weile. »Mir ist die Tat heute noch ebenso unergründlich wie damals. Seit jenem Morgen, als ich Susette tot in ihrem Bett fand, habe ich keinen der Meinen und keinen der Ihren mehr wiedergesehen. Auch nicht den Prinzen Georg. Vielleicht habe ich Vermutungen, aber Sie verzeihen, daß ich darüber nicht spreche!«

Im Augenblick fiel dem Maler der Name van Holtens ein. War ein Zusammenhang zwischen dieser Geschichte und der Feindschaft der beiden Männer? Aber war es denn überhaupt eine Feindschaft? Der Rechtsanwalt hatte doch das Bild Mario Glasbergs auf seinem Schreibtisch stehen!

Wie sonderbar war das alles! Aus wie vielen Situationen und Eindrücken war dieser Augenblick zusammengeweht! Da sah er im vorigen Jahre Mutter und Tochter auf einem Fußweg an sich vorübergehen, da sah er im Winter die Photographie eines Mannes auf dem Schreibtisch eines Bekannten, da hatte er von Mario Glasberg erzählen hören – und jetzt auf einmal ballten sich die zerstreuten Eindrücke zu dieser seltsamen Situation zusammen: Er mit Glasberg im Gespräch über das Ende der schönen Susette. Und noch eben war ein Abend gewesen, da hatte ihm die kleine Renate Fenn verboten, den Namen van Holtens auszusprechen.

Wie merkwürdig war das Leben! Einen Augenblick mußte er denken, daß etwas ganz anderes als nur eine spröde Landschaft ihn hierhergerufen hatte, daß ihn hier irgend etwas erwartete. Ganz folgerichtig war das alles so gekommen: erst die inhaltleeren sechs Wochen wie ein Auftakt, und jetzt überstürzten sich die Begegnungen.

»Verzeihen Sie,« sagte Glasberg, jetzt wieder leichthin. »Ich falle Ihnen mit diesen Dingen lästig. Im übrigen führt mich ein bestimmter Auftrag hierher. Frau Fenn läßt Sie bitten, heute nachmittag bei ihr Tee zu trinken. Haben Sie Lust? Mein Wagen kann Sie abholen.«

Margis fand nicht sofort die bejahende Antwort. Das richtige wäre gewesen, die Einladung abzulehnen, seine Sachen zusammenzupacken und abzureisen. Ganz deutlich hatte er die Empfindung, daß dies das allein Richtige war. Was sollte er mit diesen Menschen? Er witterte irgendeine Absicht hinter der Einladung.

Daneben hörte er sich die Zusage geben: »Selbstverständlich, ich komme sehr gern!« Hatte er das wirklich gesagt? Aber weshalb sollte er nicht? Seine Bedenken waren natürlich lächerlich. Die Damen Fenn interessierten ihn, er hatte durch einen Zufall ihre Bekanntschaft gemacht, sie luden ihn ein. Es war selbstverständlich, daß er hinging. Man konnte überhaupt einige nette Wochen in diesem weltabgelegenen Winkel verbringen. Wie hatte Glasberg gesagt? »Ein wenig Auto fahren, jagen, bei den Damen Fenn tanzen und tausend Sachen mehr.« Natürlich konnte man das. Weshalb nicht? Ihm wollte jetzt sogar scheinen, als wenn Glasberg die Damen Fenn nicht übermäßig ernst nahm. Vielleicht hatte der verwöhnte Industrieprinz für sie dasselbe Lächeln wie der Hotelier. »Mit den Damen Fenn tanzen und tausend Sachen mehr.« Das klang ein wenig, als wenn er Maria Fenn für eine Kokette nahm, gut genug für einige Sommerwochen, und vielleicht war er der Gesellschaft der beiden längst überdrüssig und suchte im Verkehr mit Margis Abwechslung. Jedenfalls konnte man das alles ganz harmlos und leicht nehmen.

»Dann wird mein Wagen Sie um fünf Uhr abholen, Meister Margis. Ich werde übrigens heute nicht in Klein-Klank sein. Ich muß arbeiten, ich mache gerade einen interessanten Versuch: Arsenreaktionen. Ich habe mir in Serbenitz ein kleines Laboratorium eingerichtet.« Sie gingen durch den Sand zum Hotel zurück, wo Glasberg das Auto gelassen hatte.


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