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24

Holten hatte Gitta wirklich nichts gesagt. »Wie wird es werden, Wolf?« fragte sie ihn, als sie sich am Zuge trafen, um nach Königsberg zu fahren.

Er zuckte die Achseln. »Ich will alles versuchen. Ich werde noch einmal die ganze Geschichte aufrollen. Vielleicht wird Makels Gutachten wirken.« Dann sprachen sie nicht weiter davon.

»Hast du dich leicht freimachen können?« fragte er. »Du spielst doch jeden Abend?« Es war gegangen. »Natürlich riskiere ich, daß meine Vertreterin es besser macht oder besser gefällt und mir das nächste Engagement fortschnappt. Aber das ist ja gleichgültig.«

Er wunderte sich, daß es ihm so leicht gelang, seine freudige Erregung vor ihr zu verbergen. Aber im Grunde hatte er gar nichts zu verbergen. Ihm war, als führe er genau so, ganz ohne Waffen oder doch mit sehr unzureichenden, zu der Verhandlung, wie er es sie glauben machen wollte.

Es kann nichts dazwischenkommen! machte er sich klar, aber er vermochte es selbst kaum zu glauben. Wenn Glasberg im letzten Augenblick nicht erschien oder wenn er den Chauffeur und den Portier bestochen hatte? Das war alles kaum möglich, aber doch hatte Holten nicht das Gefühl der unbedingten Sicherheit. Sollte Mario wirklich nicht damit rechnen, daß sein Alibibeweis zusammenbrach?

Der Portier dienerte, als sie aus dem Auto stiegen. Hoffentlich spricht er nicht von morgen, dachte Holten, fürchtend, daß Gitta etwas erfahren könnte. Absichtlich hatte er nicht den Kollegen Hohn zu einer letzten Unterredung ins Hotel gebeten.

Sie aßen ein wenig zur Nacht, schlenderten durch die Straßen. »Wollen wir nicht nachsehen, ob Mario im Hotel abgestiegen ist?« schlug Gitta vor. Er scheute sich vor einer Begegnung, Gitta aber übernahm es, hineinzugehen und den Portier zu fragen.

Ja, Glasberg war bereits am Nachmittag mit dem Auto von Berlin gekommen und speiste gerade im Restaurant. »Wenn die gnädige Frau ihn sprechen wollen? Bitte sehr?« Der Mann öffnete die Tür. »Nein, nein!« sagte sie schnell und ging hinaus. Holten merkte ihr an, wie erregt sie war.

Da sie noch nicht schlafen konnten, gingen sie in ein Kino. Nachher saßen sie in einem kleinen Café zusammen. »Meinst du, daß er etwas davon ahnt, daß du morgen gegen ihn sprechen wirst?« Er hielt es für gewiß. »Ich hätte ihn für mein Leben gern gesehen!« fuhr sie fort. »Hat er wieder sein offenes, heiteres Gesicht? Oder meinst du, daß er die scharfen Falten hat?«

Er meinte, daß es Mario sicher nicht sehr wohl in seiner Haut war. »Ich halte es sogar für möglich, daß er mit dem Entschluß kämpft, ein volles Geständnis abzulegen. Vielleicht hat er es sich fest vorgenommen. Wenn Margis wirklich zum Tode verurteilt werden sollte, wird er vielleicht hervortreten und alles gestehen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Beinahe wird er es gestehen, beinahe! Aber schließlich wird er doch nichts sagen.« Er kam sich hinterhältig vor, daß er ihr nichts von seinem Vorhaben sagte. Aber er fürchtete, daß sie in der Nacht zu Mario laufen könne, um ihn zu warnen.

»Weißt du,« sagte sie, »ich habe im Hotel das gleiche Zimmer wie damals. Obwohl es kalt ist, machte ich doch das Fenster auf, um noch einmal nachzusehen, ob man wirklich aus diesen unteren Zimmern auf die Straße gelangen könne. Man kann es bestimmt! Aber er war ja in derselben Stunde hier, in der der Mord geschah!«

»Rege dich nicht auf, Gitta!« redete er ihr zu. »Wir müssen gut schlafen. Morgen ist ein schwerer Tag für uns.« Sie gingen in ihre Zimmer. Schliefen aber natürlich doch nicht, hörten die Glockenschläge von den Türmen bis zum Morgen.

Eigentlich wollten sie wegen der schmutzigen Straßen mit einem Auto zum Landgericht fahren. Sie waren aber so zeitig mit Aufstehen und Frühstücken fertig und hatten so gar keine Lust, noch länger am Tisch zu sitzen, daß sie den Weg zu Fuß machten.

Holten überzeugte sich, daß der Portier bereits vor ihnen weggegangen war. Sie kamen noch immer frühzeitig genug an. Vor der Tür des Gerichtsgebäudes stand bereits Glasbergs Wagen. Hoffentlich hat er nicht schon meine Zeugen gesehen! dachte Holten. Der Chauffeur saß nicht auf dem Bock. Offenbar war er mit hineingegangen.

»Verzeih, Wolf,« sagte Gitta. »Ich möchte nicht mit dir zusammen hineingehen. Du bist der offizielle Verteidiger und ich bin Zeugin.« Holten machte ihr klar, daß sie lediglich Zeugin der Verteidigung wäre und, wenn überhaupt, so doch viel später aufgerufen werden würde. Sie sollte sich ruhig in den Zuschauerraum begeben und der Verhandlung von Anfang an beiwohnen.

Er gab ihr die Karte für einen reservierten Platz. Sie traten schnell in die Tür, da in diesem Augenblick Herr Fenn und Renate angefahren kamen. Innen trennten sie sich. Holten ging in das Anwaltszimmer, um mit Dr. Hohn zu sprechen.

Gitta stieg die Treppen zum Schwurgerichtssaal empor. Ihre Füße waren so schwer, daß sie alle Kraft zusammennehmen mußte. Ich werde bei der Verhandlung ohnmächtig werden! dachte sie.

Im oberen Stock stauten sich schon die Menschen, standen in Gruppen zusammen. Gespräche erfüllten wie ein Bienenschwarm das Treppenhaus. Männer in schwarzen Talaren liefen hin und her. Türen öffneten sich und fielen wieder zu.

Auf einmal hielt Gitta inne. Vor ihr, auf dem höheren Treppenabsatz, stand Mario Glasberg mit dem Untersuchungsrichter im Gespräch. Einige Schritte hinter Mario stand, kerzengerade und unbeweglich, sein Chauffeur. Die Herren verabschiedeten sich, schüttelten sich die Hände. Sie sah, daß Glasberg sein heiteroffenes Knabengesicht hatte. Es war, als ob er sich vergeblich bemühte, ernst auszusehen.

Jetzt ging Mario die Treppe hinauf, neben ihm der Chauffeur. Gitta folgte ihnen, denn sie wollte nicht mit den Fenns zusammenstoßen, die sie fast schon erreicht hatten. Marios Kopf verschwand hinter der Decke des oberen Geschosses. Es ist komisch, dachte sie, wenn man nur die Füße eines Menschen gehen sieht! Sie sah Marios Füße die Stufen nehmen. Gerade so hatte sie ihn damals, in der Mordnacht, im Hotel die Treppe hinaufsteigen sehen.

Plötzlich erbleichte sie. Sie mußte sich am Geländer anklammern. Das, das sind nicht die Füße, die ich damals gesehen habe, durchfuhr es sie. Aber daneben, dicht neben den Füßen Marios, gingen sie, nahmen die Stufen, in breiten, gelbledernen Stiefeln und etwas dunkleren Gamaschen. Genau so wie damals erfaßte sie die Bewegung der Gelenke.

Es war nicht Mario, es war der Chauffeur! schrie es in ihr auf. Sie wunderte sich, daß sie es nicht hinausschrie. Der Chauffeur ist in Königsberg gewesen, während Mario draußen Frau Fenn ermordete!

»Aber, kleines Fräulein!« hörte sie die Stimme des Herrn Fenn neben sich. Er stützte sie. Sie fühlte, daß sie sonst die Treppe rücklings hinuntergeschlagen wäre. An seinem Arm ging sie weiter. Sie sah, wie Mario oben den Pelz abnahm und den Chauffeur damit hinunterschickte. Der Mann mit dem unbeweglichen Gesicht und den merkwürdigen Augen streifte sie beinahe im Vorübergehen.

Mario sah sie am Arm des alten Fenn heraufkommen und wandte sich ab. Ein ungeheurer Schmerz durchstieß sie bei dieser Bewegung. Gehörte sie nicht zu den Menschen, die ihn zu Tode hetzten? Ja, von diesem Augenblick an war sein Leben in ihrer Hand.

Was sollte sie tun? Zu Holten eilen und es ihm sagen? Oder sollte sie es Herrn Fenn ins Ohr flüstern: »Dort steht der Mörder Ihrer Frau!« Sie brachte es nicht über die Lippen. Weshalb stürzte sie nicht zu Wolf, fiel ihm um den Hals, jubelte: »Wolf, Wolf, ich habe es herausbekommen! Ich weiß es jetzt! Wir haben gesiegt!« Das konnte sie alles nicht.

»Na nun, mein kleines Fräulein,« sagte Herr Fenn. Renate grüßte mit einer kühlen Kopfbewegung und schoß ihr einen giftigen Blick zu. Gitta drückte Herrn Fenn die Hand, wollte fortgehen, aber er ließ sie nicht los. Sie sah in sein Gesicht, dieses häßliche, brutale Gesicht mit den zusammengekniffenen schlauen Augen darin, und merkte auf einmal, daß dieser selbstbewußte Riese vor Aufregung beinahe barst und sich fest an sie klammerte. Natürlich, empfand sie, es geht ja um die Ermordung seiner Frau!

Die Menschen schoben sich durcheinander, drängten sich in die Türen eines Saales. Sie ging an Herrn Fenns Seite hinein, hinter ihm Renate. Ein Bote wies ihnen die Plätze auf der reservierten Bank vorne an. Eine bleiche, verschleierte blonde Frau saß neben ihr. Frau Margis! wußte sie. Auf der anderen Seite, rechts von ihr, sah sie Mario.

»Es ist die Zeugenbank,« erklärte Herr Fenn. Er hatte durch Gitta seine Ruhe wiedergefunden. Er mag Renate nicht! dachte sie und wunderte sich, daß Vater und Tochter nicht enger zusammenhingen. Andere Personen nahmen auf der Zeugenbank Platz. Sie erkannte den Wirt des Strandhotels.

Dann sah sie Wolf van Holten vorne an einem Pult stehen, und jetzt wurde Margis hereingeführt. So sieht ein Mensch nach drei Monaten Untersuchungshaft aus! dachte sie voller Schrecken und Mitleid. Wenn man bedenkt, daß in jedem Augenblick Tausende und Zehntausende in Untersuchungshaft sitzen! Grausig!

Die blonde Frau neben ihr begann zu weinen. Gitta sah Margis an, den sie nur flüchtig aus Berlin kannte. Ein feiner Kopf! dachte sie, und trotz aller Falten und Aufregung von einer herrlichen Überlegenheit und Ruhe. Wie er die Richter und die Geschworenen mustert! Ja, sieht man denn nicht, daß dieser Mann unschuldig ist?

Sie sah zu Glasberg hinüber. Sein Gesicht war vollständig ruhig. Vielleicht ist er sehr beruhigt, daß der Portier und der Mietchauffeur nicht unter den Zeugen sitzen. Aber was nützt es ihm! Ich, ich weiß ja doch alles!

Eine Glocke ertönte. Der Vorsitzende strich sich den kräftigen Schnauzbart und eröffnete die Verhandlung. Förmlichkeiten, die Gitta nicht verstand, gingen rasch und in einem undeutlichen Gemurmel vorüber. Einmal hörte sie Wolfs Stimme, verstand aber nicht, was er sagte. Der Vorsitzende las etwas vor. Allmählich wurde er lauter und eindringlicher. Es war die Anklageschrift.

Ein dünner, semmelblonder Staatsanwalt mit einem Glaskneifer erhob sich und sprach. Paragraphen wurden genannt. Endlich wurde Margis aufgerufen. Er gab Antworten mit deutlicher Stimme. Aber auch das brach wieder ab. Die Zeugen wurden hinausgeführt und sollten draußen ihren Aufruf abwarten. Und dann begann es. Wenn Mario nun draußen fortläuft! dachte Gitta. Aber vielleicht war er ganz sicher, ahnte nichts von dem, was sie gesehen hatte.

Margis erzählte seine Erlebnisse in St. Lüne. Er berichtete von dem Abend, an dem er die Damen Fenn und Glasberg kennengelernt hatte. Wie er mit Renate tanzte und sich mit Maria Fenn unterhielt. Gleich im Anfang flocht er ein, wie er sich auf Glasbergs Geschichte mit Susanne Streicher dunkel besann. Er erzählte von dem Bild Glasbergs, das er auf Holtens Schreibtisch gesehen hatte.

Der Staatsanwalt unterbrach ihn. »Die Geschichte des Herrn Doktor Glasberg geht uns hier nichts an.«

»Ich denke doch,« fuhr Margis fort. »Vielleicht mache ich damit auf den hohen Gerichtshof und die Geschworenen zunächst einen schlechten Eindruck. Aber ich halte Doktor Mario Glasberg für den Mörder der Frau Fenn, und ich werde im Laufe der Verhandlung, hoffe ich, den Beweis dafür erbringen.« Das war mit starker Stimme und Betonung herausgesagt. Der Staatsanwalt lächelte, der Vorsitzende strich sich gelangweilt den Bart. Man merkte, daß die Zuschauer und die Geschworenen sich über diese Behauptung wunderten, die Köpfe hoben, fragende Blicke warfen.

Margis erzählte weiter von den Bildern, die er von Maria und Renate Fenn gemalt hatte, von ihren gemeinsamen Stunden und schließlich von den Erlebnissen des letzten Tages und der letzten Nacht, die seiner Verhaftung vorausging.

»Sie bestreiten, mit der Ermordeten ein Liebesverhältnis gehabt zu haben?« fragte der Vorsitzende.

»Durchaus!« sagte Margis.

Der Vorsitzende suchte in den Akten und las die protokollarisch gegebene Aussage von Fräulein Renate Fenn, Tochter der Ermordeten, vor. Danach wäre Renate zunächst im Zweifel gewesen, ob die Ermordete nicht zu Dr. Glasberg in nahen Beziehungen stand, hätte dann aber doch immer mehr der Ansicht zugeneigt, daß es Margis war, der fast jede Nacht sich durch den Park von Klein-Klank schlich.

Ganz sicher wurde sie ihrer Sache aber erst, als sie in jener Nacht den Maler vor ihrem Fenster stehen sah.

Der Vorsitzende fragte Renate, ob sie ihre Aussage aufrechterhalte. »Ja!« rief Renate von ihrem Platz. Aller Augen wandten sich nach dem jungen Mädchen hin, das so Furchtbares durchgemacht hatte.

Hier mischte sich zum erstenmal Wolf van Holten ein. Es wäre sehr töricht von Margis, sagte er, sich nach dem Mord unter Renates Fenster zu stellen. Vorausgesetzt, daß sein Klient der Mörder wäre, würde er sich sofort durch die Birkenallee auf die Chaussee begeben haben. »In diesem Augenblick hat ein Mörder nur das Bestreben, zu fliehen. Margis aber stand ganz ruhig vor Renates Fenster.« Der Staatsanwalt fragte Renate, ob nicht Margis vorbeigeflohen wäre. »Nein!« sagte sie. »Er stand da. Mehr habe ich nicht gesehen.«

»Wie lange?«

»Einige Sekunden.«

»Er blieb vielleicht einige Sekunden stehen, aber er war im Begriff zu fliehen,« sagte der Staatsanwalt.

»Dann floh er jedenfalls in verkehrter Richtung,« warf Holten ein. »Der Weg zur Flucht ging nach der entgegengesetzten Seite.« Man merkte an einer leisen Unruhe, daß Holtens Worte Eindruck machten. Holten fuhr fort: »Man fand nachher den Dolch in dem sogenannten Versteck meines Klienten. Der Herr Vorsitzende hat vielleicht die Güte, das corpus delicti, das vor ihm liegt, den Herren Geschworenen sichtbar zu machen.« Der Vorsitzende tat es. »Sie sehen, meine Herren, daß es sich immerhin um eine Waffe von einiger Größe handelt. Wenn die Voraussetzungen des Herrn Staatsanwalts und der Anklageschrift zutreffen, muß also Herr Margis diesen Dolch bei seiner ›Flucht‹ zu dem Fenster des Fräulein Fenn bei sich getragen haben. Hat Fräulein Fenn etwas Derartiges bemerkt? Nein? Dann bitte ich den Herrn Staatsanwalt, mir zu erklären, wie man einen solchen Dolch anders als in der Hand tragen könnte. Mit einem solchen Dolch in der Tasche herumzulaufen, dürfte sich auch für einen Mörder nicht empfehlen. Wenn aber Margis den Dolch in der Hand hatte, dann mußte Fräulein Fenn das bemerken. Margis kann also nicht derjenige sein, der den Dolch in das sogenannte Versteck gebracht hat. Ganz abgesehen davon, daß es eine kolossale Dummheit von ihm gewesen wäre. Es war doch viel einfacher, die Waffe irgendwo im Walde fortzuwerfen.«

Wieder ging eine Bewegung durch die Reihen. Wolf spricht gut! empfand Gitta.

Holten fuhr fort, auseinanderzusetzen, daß nur ganz wenige Menschen dieses kleine Versteck kannten. Nur die beiden Damen Fenn und Herr Dr. Glasberg. »Möglich, daß auch einige Dorfbewohner sich dafür interessierten, wo die Malsachen und die schwere Staffelei, die Margis nicht jedesmal nach Hause schleppen wollte, während der Nacht blieben. Der Mann jedenfalls, der den Dolch dort niederlegte, war der Mörder, und er wollte den Verdacht auf Herrn Margis lenken. Von allen Menschen der Welt aber hatte allein der Angeklagte das Interesse, daß der Dolch nicht gerade an dieser Stelle gefunden wurde. Soviel ich weiß, kam Herr Doktor Glasberg als erster auf den Gedanken, an dieser Stelle nach verdächtigen Momenten zu suchen. Merken Sie wohl, meine Herren Geschworenen: Herr Doktor Glasberg kam auf diesen Gedanken! Der einzige, der, außer Margis selbst und den Damen, das Versteck kannte! Darf ich vielleicht bitten, Herrn Doktor Glasberg als Zeugen zu vernehmen?«

Aber der Staatsanwalt wollte erst den Wirt des Strandhotels in St. Lüne und den Herrn Studienrat Albrecht vernehmen, jenen Herrn, der dem Maler am Abend den Waldweg nach St. Lüne beschrieben hatte. Der Wirt hielt sich hauptsächlich an den Eindruck der letzten Nacht: Wie Herr Margis mit blutender Stirn und offensichtlich in höchster Aufregung durch das Lokal auf sein Zimmer gestürzt wäre.

Der Staatsanwalt unterstrich das Bild des fliehenden Mörders. Der Rechtsanwalt machte es begreiflich, daß ein Künstler mit sensiblen Nerven wohl aufgeregt sein konnte, nachdem er jene Schreie des Fräulein Fenn vernommen und sofort etwas Furchtbares geahnt hatte. Der Studienrat wußte wenig mehr zu sagen, als daß der Angeklagte in dem Wirtshaus bei der Schlucht einen seltsamen und verstörten Eindruck machte.

Das Bild ändert sich, empfand Gitta. Man denkt nicht mehr so günstig über Margis wie vorher.

In dem Augenblick tat sich die Tür auf, und Mario Glasberg kam herein. Sein Auftreten war eine kleine Sensation. Die meisten Anwesenden kannten den Namen des Leynhausener Trustkönigs. Mario sprach die Eidformel mit ruhiger Stimme nach und antwortete ausführlich auf die Fragen des Vorsitzenden. Gitta sah, wie die bleiche Frau Margis gespannt an seinen Lippen hing. Der Mann, der dort mit der Ruhe und Liebenswürdigkeit eines vornehmen Gentleman aussagte, der so blendend gewachsen und tadellos gekleidet war und ein offenes, klares Gesicht zeigte – dieser Mann war hier soeben von dem Angeklagten des Mordes beschuldigt worden.

Alle dachten daran und fragten sich, ob er eine Ahnung von dieser Anschuldigung haben konnte. Es schien unmöglich. Gitta fielen seine Worte ein, die er zu Holten gesagt: »Ich sehne mich ja danach, unter das Beil des Henkers geliefert zu werden!« Konnte es wirklich in diesem Menschen so aussehen? Keiner unter allen, die im Saal waren, würde es vermutet haben.

Glasberg sagte aus, daß er eigentlich zunächst nicht besondere Beziehungen zwischen Frau Fenn und Herrn Margis angenommen habe. Erst in der letzten Zeit wäre ihm die besonders enge Freundschaft zwischen den beiden aufgefallen. Damals entsann er sich einzelner Äußerungen von Margis, die er erst später richtig verstehen und deuten lernte. »Jetzt freilich glaube ich, daß diese Beziehungen sehr eng gewesen sind. Und das Motiv der Tat?« Er zuckte die Achseln. Es läge seit dem Befund der Leiche deutlich zutage. »Furcht vor den Folgen dieser nächtlichen Zusammenkünfte!«

Der sachverständige Arzt warf für die Geschworenen einige aufklärende Sätze dazwischen. Holten wiederholte seine Ausführungen über die inneren Widersprüche der Anklage, was auf Glasberg großen Eindruck zu machen schien.

Der Vorsitzende fragte Glasberg, ob er von der Schuld Margis' überzeugt wäre. »Ich war felsenfest davon überzeugt,« antwortete er. »Aber durch die Fragen des Herrn Rechtsanwalts van Holten bin ich in der Tat zweifelhaft geworden. Ich halte es nicht mehr für ausgeschlossen, daß Margis völlig unschuldig ist.«

Wieder ging eine Bewegung durch den Raum. Nur Holten lächelte.

Der Vorsitzende machte Anstalten, Glasberg zu entlassen. Holten bat, völlig unbetont, noch einige Fragen an den Zeugen richten zu dürfen. Bevor er sprach, merkte man ihm eine gewisse Verlegenheit an. Er wußte im Augenblick nicht, wie er Mario anreden sollte.

»Will der Zeuge mir.« sagte er dann, »erklären, wo er sich in der Unglücksnacht befunden hat? Es ist mir aufgefallen, daß er reichlich früh zur Stelle war, als es galt, die Verfolgung und Überführung Margis' aufzunehmen, obwohl er doch die Nacht in Königsberg zugebracht haben will.« Die Saalgeräusche wurden um einige Grade leiser, obwohl nur drei oder vier Menschen merkten, daß diese Frage wie ein blitzendes Schwert durch die Luft sauste.

»Ich war in Königsberg und übernachtete im Hotel,« sagte Glasberg ohne jede Erregung. »Übrigens hat mich meine frühere Schwägerin, Fräulein Brigitte Streicher, die im Zuschauerraum anwesend ist, genau zur Zeit der Mordtat dort die Treppe hinaufgehen sehen.«

Der Vorsitzende bat die bezeichnete Dame, hervorzutreten und auszusagen. Offenbar wollte er durch dieses unverdächtige Zeugnis den Angriff Holtens gegen Glasberg von vornherein abbiegen.

Gitta stand vor den Schranken. »Ich will Sie nicht vereidigen, Fräulein Streicher, da Sie mit Herrn Doktor Glasberg verschwägert sind. Aber ich hoffe, daß Sie auch ohne Eid die volle Wahrheit sagen werden. Ist die Behauptung des Herrn Doktor Glasberg richtig? Haben Sie ihn zu der angegebenen Zeit dort gesehen?«

Gitta sah zu Mario hinüber, der sie kaum zu beachten schien. Wenn er mich jetzt ansieht, durchfuhr es sie, dann sage ich alles, was ich weiß. Aber Mario sah sie nicht an. Zu ihrer eigenen Verwunderung hörte sie sich sagen: »Jawohl, ich sah ihn die Treppe hinaufgehen.«

Ganz fest und ruhig hatte sie das gesagt. Sie sah, daß Holten sie mit einem fragenden Blick streifte. Als sie sich besann, was geschehen war, saß sie bereits wieder auf ihrem Platz.


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