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9

Natürlich konnte Gitta nicht an der Bahn sein. Obwohl das Theater Ferien hatte, bestand für sie vielleicht dennoch eine dienstliche Abhaltung. Vielleicht hatten auch die Proben schon eingesetzt, oder sie hielt es überhaupt für richtig, Aufsehen zu vermeiden.

Trotzdem fühlte er eine leichte Enttäuschung, als sie nicht da war und nur der alte Herr ihn erwartete. Ein sehr würdiger alter Herr mit einer ein wenig eingeknickten Statur und weißem Schnurrbart.

Holtens Blicke suchten nach Gitta, ob sie nicht doch irgendwo hinter einer Säule stand. Aber sie war wirklich nicht gekommen. Sollte er sie von seinem Vater aus gleich anrufen? Aber wahrscheinlich erregten auch die Telephongespräche der Familie Streicher auf dem Amt besonderes Interesse. Es war besser, wenn er in der Dunkelheit zu der Streicherschen Villa ging. Währenddessen umarmte er den Vater.

»Natürlich bist du wegen Streichers gekommen,« sagte der alte Herr. »Schauderhafte Geschichte das!« Der Oberregierungsrat nahm selbstverständlich Partei gegen die Glasbergs. Im einzelnen war er über die Absichten seines Sohnes in dieser Angelegenheit nicht orientiert; es war ihm nur natürlich, daß »ein anständiger Mensch« sich für die Hofpartei entschied. Es gefiel und imponierte ihm sogar ein wenig, daß sein Sohn in dieser Angelegenheit eine Rolle zu spielen schien. Wolf erklärte ihm, daß sein Besuch am besten geheim bliebe, er aber in der Tat noch diesen Abend zu Streichers müsse.

Der Vater hatte Verständnis. »Selbstverständlich bist du ganz unbehindert!«

Als sie aus dem Bahnhofsgebäude heraustraten, warteten drei Droschken auf dem Platz. Eine hatte sich der Oberregierungsrat bereits gesichert. An der Ecke kroch eine leere Elektrische langsam davon, gerade als die Menschen von dem Zug herausströmten. Sie fuhren durch die Anlagen am Fluß in die Stadt. Vor der Brücke stand das Denkmal von Herzog Georg dem Eisernen. Er setzte den linken Fuß vor, und die erhobene Rechte schien zu drohen oder zu schwören. »Wie klein das jetzt alles ist!« Wolf dachte es jedesmal, wenn er über die Brücke fuhr.

In diesen Anlagen war er als Knabe umhergestrichen. Sie hatten unendliche Schlupfwinkel, Urwälder und weite Savannen enthalten. Jetzt sah er nur glattgeharkte Wege, einiges Buschwerk und Rasen. Jenseits der Brücke begann die Stadt mit unendlich langweiligen Straßen. Zehn Minuten klapperten die Hufe des Schimmels immer zwischen den gleichen Häusern. Einige Male bogen sie um Ecken, ohne daß das Bild sich veränderte. Sie fuhren an dem Georgsplatz vorüber, der leicht geneigt war und in der Mitte ein Kriegerdenkmal von 1871 präsentierte. Dann kam eine Villenstraße. Auch hier dieselben Häuser, nur in kleinen Gärten stehend. Nicht der Luft und des Raumes wegen, sondern weil es vornehmer war. Weiß abgeputzt, mit Borten von roten Backsteinen, manche auch gelb getönt, alle mit kriegerischen Zinnen am Gesims und den gleichen Magnolien vorne.

Vor einer solchen Villa hielten sie. Das Mädchen in der weißen Schürze und der Schäferhund standen am Gittertor und warteten. Dies war das Haus seiner Kindheit. Als Knabe war man stolz darauf gewesen, in einer der vierzig Villen zu wohnen, die vier Straßen entlang in Reih und Glied standen. Er gab dem Mädchen die Hand. Sie war schon sechs Jahre in der Familie und hatte noch seine Mutter gekannt. Der Hund wedelte freundlich, wußte aber nicht recht, wo er den Besuch hintun sollte. Wolf war seit einem Jahr nicht mehr dagewesen.

Er bezog sein altes Knabenzimmer. Das Mädchen brachte den Koffer herauf. Dann kam das Abendessen mit dem alten Herrn. Bratkartoffeln und Aufschnitt, wie immer. Der Oberregierungsrat schimpfte auf die neue Zeit, klagte über die Verlassenheit des alten Herzogs, erzählte von der Prinzessin Amalie, die er gestern in den Anlagen beim Spazierengehen getroffen hatte. Jawohl, die alte Nettelmann war noch immer Hofdame. Gott sei Dank, was sollte Prinzessin Amalie ohne die Nettelmann anfangen! Und Prinz Georg jagte immer noch in Markroda. Es hatte sich nichts verändert und würde noch in zehn Jahren das alte sein.

Dann ließ Wolf sich die Schlüssel geben und ging fort. »Du wirst doch wohl nicht zu spät kommen, Junge? Ich denke, wir trinken dann noch eine Flasche zusammen.« Wolf konnte es nicht versprechen. Die Straße war menschenleer. Drei, vier Gaslaternen glühten wie giftige Blumen. Ein kleiner, plätschernder Bach kam von links gelaufen. Hier ging ein Fußsteig zwischen Gärten und Zäunen. Er führte zur Margaretenstraße hindurch. Zwischen zwei niederhängenden Weiden stand eine Bank. Die Jungens und Mädels des Villenviertels kannten sie alle seit zwanzig Jahren. Hinten sah man gegen den Himmel zwei Reihen Pappeln antreten. Es war die Chaussee, die hier zur Stadt hinausführte. Die Streichersche Villa lag an ihr, als letztes Haus der Straße, Wolf ging auf einem Laufsteig über den Bach. Jenseits der Chaussee lagen die weiten Flußwiesen. Das war die Stelle, die er an Leynhausen liebte. Die alte Heerstraße, auf der schon die Burgunder ins Donautal gezogen waren, lange, lange ehe es diese künstliche Stadt über den Kohlelagern gab. Hier merkte man nichts von Gruben und Hütten und Hochöfen, nichts von dem grauen Schloß, das auf der anderen Seite hinter dem Park lag. An dieser Stelle hatte der alte Herzog den Streichers die Villa bauen lassen. Ein schönes, bequemes Haus, aber immerhin, weil es doch Schauspieler waren, ganz an den Rand der Stadt gebaut. Schauspieler brauchten nicht in der gleichen Straße mit dem Hofmarschall und dem Minister zu wohnen. Das denn doch nicht!

Eine Pergola führte von der Gartenpforte zur Haustür. Sie war über und über mit kleinen Rosen berankt. Weshalb wirkt so etwas hier dürftig und wie angeleimt? dachte er. Es ist die Industriegegend! Die Luft schmeckt nicht nach Rosen, sondern nach Kohle. Das ist es!

Er klingelte. Ein Hund bellte innen; die Tür wurde geöffnet. Gitta stand vor ihm. »Da sind Sie!« rief sie mit gedämpfter Stimme. »Wir wollen auf die Chaussee gehen. Ich habe Ihnen viel zu sagen!« Sie nahm einen Mantel, zog ihn im Gehen an, drehte das Licht ab und war im Augenblick draußen. »Kommen Sie!«

Ihre Anwesenheit schien die Atmosphäre mit einem Schlage zu verändern. Er spürte auf einmal den Sommer und den warmen Anhauch des abendgetränkten Luftmeeres. Die Pappeln stiegen hoch in das blaue Dunkel, und von der Wiese her quakten die Frösche. Sogar die Kletterrosen begannen zu duften. Gitta schritt neben ihm. Er sah von der Seite, wie sich ihr halblanges Haar im Nacken ringelte.

Natürlich wüßten die Eltern von seinem Kommen, aber den heutigen Abend hätte sie ihnen unterschlagen. »Es ist gut, daß Sie jetzt noch gekommen sind. Ich dachte immer: Kommt er oder kommt er nicht? Gerade heute abend aber wollte ich Sie ganz ungestört sprechen.«

Ob sie etwas Besonderes hätte?

»Ich weiß eben nicht, ob es etwas Besonderes ist. Aber vielleicht – vielleicht weiß ich jetzt alles.« Er horchte erstaunt auf.

Das Besondere bestand darin, daß sie zu einem der Chemiker auf der Kohleversuchsstation in Beziehungen getreten war, einem alten Herrn, der erst seit einem Jahr im Glasberg-Trust arbeitete. Gitta hatte ihm als Schauspielerin gefallen, und er hatte ihre Bekanntschaft gesucht, und aus dieser Bekanntschaft entwickelte sich bald eine Art Freundschaft. Herr Dr. Gerlach, der sonst wenig ausging und selten unter Menschen kam, hörte erst spät von den Vorfällen, die ganz Leynhausen in Atem gehalten hatten. Es blieb natürlich nicht aus, daß er seine junge Freundin – er besuchte sie bald auch in ihrem Elternhaus – danach fragte. Nach anfänglicher Zurückhaltung erzählte ihm Gitta die ganze Geschichte, und seine Sympathie für das junge Mädchen bestimmte ihn, ihr aufs Wort zu glauben. Schon als sie ihm das erstemal von Susettes Ende berichtete, machte er jene Bemerkung, die ihr ganz neue Aussichten eröffnete.

»Natürlich ist sie gar nicht mit den Veronaltabletten vergiftet worden. Ihre Frau Schwester hat sicherlich keine einzige dieser Tabletten geschluckt. Die angebrochene Röhre sollte nur den Anschein des Selbstmordes vortäuschen. Vergiftet worden ist sie mit einem ganz anderen Gift.« Er erklärte ihr, daß man zwar öfters Todesfälle als Folge übermäßigen Veronalgebrauchs wahrgenommen hätte, daß sich aber kein Chemiker auf diese Wirkung verlassen würde. »Wenn Ihre Frau Schwester tatsächlich an Veronalvergiftung gestorben ist, so wäre das ein Beweis dafür, daß sie sich das Leben zu nehmen versucht hat.«

»Da haben wir es!« rief Holten lebhaft aus. »Selbstverständlich, so ist es! Er hat ihr ein anderes Gift beigebracht und nachher das Veronal auf den Nachttisch gelegt. Aber wie ist dieses andere Gift nachzuweisen? Nur durch Exhumierung der Leiche!«

»Warten Sie!« fuhr Gitta fort. »Wir sind noch einen Schritt weitergegangen.« Sie berichtete, wie der Dr. Gerlach sofort auf Arsen verfallen war. Er hatte geäußert, daß einem Chemiker, wenn er jemand vergiften wollte, Arsen jedenfalls am nächsten läge. Es hätte den Vorteil, nicht ganz leicht nachweisbar zu sein. Wem einige Zeit vergangen wäre, könnte es unter Umständen gar nicht mehr nachzuweisen sein. Herr Dr. Gerlach meinte, daß Arsen im Erdboden sehr verbreitet sei. Würde in einem Grabe Arsen nachgewiesen, so könnte es immer noch von der Erde herstammen. Falls ein Chemiker also jemand mit Arsen umgebracht habe und die Leiche würde in einem stark arsenhaltigen Erdreich begraben, so wäre die Vergiftung nur äußerst schwer nachweisbar.

»Und ist die Erde bei Susettes Grab arsenhaltig?« fragte Holten gespannt.

»So warten Sie doch! Natürlich ist sie es. Und nun kommt etwas Merkwürdiges. Wissen Sie, daß nach dem Ereignis ein großer Kampf darüber entbrannte, wo meine Schwester bestattet werden sollte? Meine Eltern wollten das Grab durchaus auf dem Neuen Friedhof haben, wo sie selbst einmal ruhen würden. Und so furchtbar eng war ja auch Susette niemals mit der Familie Glasberg verwachsen. Aber Mario setzte es durch, daß sie im Glasbergschen Erbbegräbnis beigesetzt wurde. Sie kennen es sicher: auf dem Alten Friedhof, wo die große Marmorgruppe steht. Bis jetzt ruhen die Eltern des alten Glasberg dort und sein jüngerer Bruder, der als Kind starb. Ich kann mir sogar denken, daß der alte Glasberg es durchaus nicht gern wollte, daß die ihm ziemlich unsympathische Schwiegertochter im Glasbergschen Erbbegräbnis begraben wurde. Aber Mario setzte sein Stück durch. Wir dachten damals alle, daß er die Eltern damit ärgern wollte. Denn es ist ihnen natürlich unangenehm, das Glasberg-Grab aufzusuchen, wenn sie das Grab ihrer Tochter besuchen wollen. Sie gehen in der Tat auch sehr selten hin und bekränzen lieber Susettes großes Bild in Vaters Arbeitszimmer. Es ist allerdings auch möglich, daß Mario seiner Frau nach ihrem Tode die Genugtuung verschaffen wollte, im Erbbegräbnis gerade der Familie zu ruhen, die sie so ungern als Schwiegertochter aufnahm.«

»Nein, solche zarten Gedankengänge liegen Mario vollkommen fern. Er wird dem Andenken Susettes zu Ehren eine besonders gute Flasche Champagner trinken und das Glas gegen die Wand schmettern. Doch ich weiß jetzt schon, worauf Sie hinauswollen, Gitta.«

»Ja, wir haben in einer Nacht beim Glasbergschen Erbbegräbnis ein Loch gegraben. Meinen Bruder Paul, den Sekundaner, nahmen wir gegen sein Ehrenwort, zu schweigen, mit. Ein ganz tiefes Loch, so tief, wie die Leiche liegt. Es war vor acht Tagen. Wir krochen mit großer Anstrengung über die Mauer, vom Schloßpark aus. Wir waren alle drei wie aus dem Wasser gezogen vom vielen Graben. Der arme Dr. Gerlach hat sich noch böse dabei erkältet, denn die Nächte sind hier am Fluß doch so schauderhaft neblig. Aber es half nichts, die Sache war doch zu wichtig. Dr. Gerlach nahm sich also von den verschiedenen Erdschichten Proben mit. Er hatte schon besondere Gefäße dafür mitgebracht. Was soll ich Ihnen sagen: Die Erde war –«

»Kolossal arsenhaltig!«

»Natürlich! Herr Gerlach nannte mir auch den Prozentsatz. Ich habe ihn vergessen, aber er soll sehr hoch sein. Und außerdem handelte es sich um eine besondere Zusammensetzung des Arsens, um Arsentrioxyd oder so ähnlich. Und Dr. Gerlach meinte, daß Mario das gewußt hat und daß er nach dieser Zusammensetzung, ganz genau danach, das Gift für Susette hergestellt habe. Denken Sie! Und selbst wenn man jetzt die Leiche ausgräbt, kann man in der Leichenflüssigkeit nur genau dasselbe Arsen feststellen, das auch der Boden enthält.«

»Verstehen Sie?« fuhr Gitta, zu Holten gewendet, fort. »Deshalb wollte Mario durchaus, daß Susette dort begraben wird. Er hat alles darangesetzt, um dies durchzusetzen. Vielleicht hat er seinem Vater damals sogar versprochen, Käte Lenninghaus zu heiraten, unter der Bedingung, daß Susette gerade hier begraben wird.«

»Aber vielleicht enthält die Erde auf dem neuen Kirchhof ebenfalls Arsen?«

»Auch das haben wir geprüft. Vorgestern nacht haben wir drei dort ein Loch an einer Stelle gegraben, wo die Eltern damals Susettes Grab hinhaben wollten. Und diese Erde war nahezu arsenfrei. Was sagen Sie nun? Gestern, als Herr Dr. Gerlach mir das Resultat mitteilte, habe ich Ihnen sofort das Telegramm geschickt. Sagen Sie selbst: Mario hat den Plan von langer Hand vorbereitet. Er hat es sich sorgfältig überlegt, daß er die Tat am besten in Leynhausen ausführt, denn es wäre vielleicht schwierig, die Leiche von Berlin nach hier zu überführen. Vielleicht hat er auch auf Berliner Kirchhöfen nach arsenhaltiger Erde gesucht und nicht das Richtige gefunden. Vielleicht kann man auch in Berlin nie ganz berechnen, wo eine Grabstelle in Wochen und Monaten frei sein wird. Kurzum, das alles paßte ihm besser in Leynhausen. So fuhr er mit Susette denn zu dem Kostümfest hierher, nachdem er früher schon das Gift nach den entnommenen Erdproben fertiggestellt hatte. Und so geschah es denn, und niemals, niemals wird dieser Mord gesühnt werden. Nie wird es bewiesen werden können. Mario Glasberg ist zu raffiniert vorgegangen!«

Sie schwiegen beide. Es war so dunkel geworden, daß sich nur noch die Schattensäulen der Pappeln von dem dunklen Grund der Nacht abhoben und einer des andern Gestalt gerade noch neben sich erriet. Die neuen Tatsachen rumorten in Holtens Gehirn. Nichts bisher hatte so dicht an die Mordtat herangeführt wie diese Überlegungen des alten Chemikers.

Man hatte kombiniert und erwogen, aber zum erstenmal stieg jetzt Glasbergs Tat mit allen scheußlichen Einzelheiten auf. Man sah ihn an der Erde knien und Proben entnehmen. Man sah ihn das tödliche Gift nach dem Maß dieser selben Erde bereiten, in der das Opfer, seine Frau, bald ruhen würde. Man sah ihm zu, wie er eine Gelegenheit suchte, um mit ihr nach Leynhausen zu fahren. Mit besonderer Wollust ging er mit ihr in das Hotel und stieg nicht im väterlichen Hause ab, sich teuflisch überlegend, daß die verärgerten Seinen seine Frau bald in ihrem Erbbegräbnis würden dulden müssen. Sollte ein Mensch wirklich Wochen und Monate hindurch solche Gedanken hegen und dabei an der Seite seines Opfers hinleben können, heiter, lachend, wie auf einem immerwährenden Fest?

»Gitta!« unterbrach er das Schweigen, »das ist ja alles nicht möglich! Bedenken Sie, was das heißt! Wir haben doch allenfalls angenommen, daß er Susette in einer plötzlichen Aufwallung ermordet hat. Aber diese wochenlangen Vorbereitungen! Das kann nicht so gewesen sein! Durch diese Theorie haben Sie etwas an der Sache überspannt. Das Ganze ist nicht möglich, ich glaube es nicht mehr. Wir haben uns in Hirngespinste verloren. Das ist ja alles ganz anders. Susette hat sich in einer merkwürdigen Überreiztheit ganz plötzlich das Leben genommen. So war es: Das Fest ist vorüber, sie hat an dem Abend einen Zusammenstoß mit Prinz Georg gehabt. Das ist wohl sicher, daß sie den gehabt hat. Darauf das lange Telephongespräch mit ihrer Mutter. Sie kehrt in ihr Zimmer zurück. Mario schläft bereits. Um ihn nicht zu wecken, steckt sie nur die Kerze auf ihrem Nachttisch an. Denken Sie sich die Stimmung in einem halbdunklen Raum, in dem die Schatten huschen, und neben einem schlafenden Menschen. Noch eben stand sie in dem Lichtersaal, umringt, umjubelt, und jetzt sitzt sie in dem öden Hotelzimmer. Ein unüberwindlicher Ekel vor diesen Festen, diesen flirtenden Menschen packt sie. Vielleicht ist es der einzige Augenblick in ihrem Leben, in dem sie ganz sie selbst ist. Die Leere dieses Lebens überwältigt sie. Vielleicht weiß sie auf einmal, daß sie diesen Mario Glasberg nie hätte heiraten dürfen. Einem großen Künstler vielleicht, einem Gelehrten, einem Dichter hätte sie sich verbinden sollen; aber jetzt ist es zu spät. Sie fühlt, daß sie niemals mehr den Mut finden wird, umzukehren. Da entdeckt sie auf dem Nachttisch das Röhrchen mit den Veronaltabletten. Mario hat es ihr fürsorglich hingestellt und schon geöffnet, damit sie nach den Aufregungen des Tages leicht einschlafe. Jetzt faßt sie den entsetzlichen Entschluß. Sie nimmt die Briefkassette aus dem Koffer und schreibt diesen Abschiedsbrief an ihre Mutter. Vielleicht meint sie es noch gar nicht so ernst, rechnet damit, daß Mario aufwacht und sie fragt. ›Ach, ich mache mir nur ein paar Notizen‹, würde sie dann sagen, und sie würden vielleicht ein wenig plaudern und zusammen einschlafen, und am nächsten Morgen hätte sie den angefangenen Brief zerrissen, und das alte Leben wäre weitergegangen. Nun aber wacht Mario nicht auf, sie wird aus der übernächtigten Verstiegenheit nicht herausgerissen, und so schreibt sie den Brief zu Ende. ›Deshalb gehe ich, da noch alle Tafeln besetzt sind! Adieu, ich stehe auf!‹ Ist das nicht ganz Susette? Und sie schluckt eine, zwei, drei, fünf Tabletten hinunter und weiß, daß sie nicht mehr erwachen wird. Und Mario ist wirklich aus allen Himmeln gefallen, wie er die Tote neben sich findet. Kann sich von der letzten Reliquie, diesem Abschiedsbrief, nicht trennen und weigert sich, ihn herzugeben. Aus Liebe zu seiner Frau setzt er es durch, daß sie in dem Erbbegräbnis beigesetzt wird. Vielleicht auch aus Eifersucht gegen ihre Eltern, an denen sie bis zu Ende hing. Vielleicht mußte er wirklich seinem Vater versprechen, Käte Lenninghaus zu heiraten und das Langenohrer Hüttenwerk dem Konzern einzubringen. Auch das hat er noch für Susette getan, damit sie, die von den Glasbergs Angefeindete und Verfolgte, in ihrem Erbbegräbnis ruhe. Zur Genugtuung! Gitta, hören Sie, das ist die Wahrheit! Ich glaube es jetzt ganz bestimmt. Man kann nicht so verrucht sein, wie wir es von Mario glaubten, und es ist doch kein Beweis, daß die eine Erde nun soundsoviel Prozent Arsen enthält und die andere ein wenig weniger.«

Er hielt inne und mußte Atem schöpfen, so rasch hatte er gesprochen. Er fieberte, daß man ihm beistimme oder starke Gründe entgegensetze.

»Das glauben Sie doch selber nicht, Wolf!« hörte er Gitta sagen. Sie legte die Entscheidung wieder in ihn selbst. Er wußte nicht mehr, was er glaubte. »Immerhin ist das mit den beiden verschiedenen Erdsorten merkwürdig,« sagte Gitta. »Aber das, was den Ausschlag gibt, ist doch, daß ich an einen Selbstmord Susettes nicht glauben kann.«

»Wieso nicht?« fragte er erstaunt.

»Susette ist ja gar nicht so gewesen!« Er sah erstaunt zu ihr hin, konnte aber ihr Gesicht nicht erkennen. »Nein, sie ist nicht so gewesen!« wiederholte sie noch einmal. »Deshalb gehe ich, da noch alle Tafeln besetzt sind! – Ach, Herr van Holten, alle Menschen, auch meine Eltern und vielleicht Mario selbst, haben geglaubt, daß meine Schwester so sei. Aber sie war ganz anders. Soll ich es Ihnen sagen, daß sie viel kälter, eitler war? Um Gottes willen, verachten Sie mich nicht, Herr van Holten! Sie wissen, wie ich zu Susette aufsah und wie ich sie geliebt habe und noch liebe. Das hat nichts damit zu tun. Aber ich habe mich seit zwei Jahren so mit ihr beschäftigt, habe mir so sehr jedes Wort und jede Bewegung von ihr zurückgerufen und mir lebendig zu machen gesucht, daß ich jetzt genau weiß, wie sie war. Susette war ganz anders!«

Holten hing an ihrem Munde. War sie dahintergekommen? War Gitta jetzt so weit, auszusprechen, was er seit Jahren dachte? Hatte sie nicht eben gesagt, daß Susette »viel kälter und eitler« war? Das war, was er von jeher an ihr gesehen hatte. Aber wie?

Weshalb setzte dann Gitta ihr Leben ein, um diese Schwester zu rächen? Hätte sie ihre schönsten Jugendjahre nicht ganz anders verwenden können?

Es war, als hätte sie seine Gedanken erraten. Nein, Susette war herrlich gewesen, ein herrliches Geschöpf. »Aber nicht moralisch zu nehmen, verstehen Sie? Ein hinreißendes Wesen, voll Charme und Esprit und Anmut, und als Schauspielerin eine ganz große Begabung. Aber sie war doch ganz anders, wie man dachte. Sie war nur ›herrliches Geschöpf‹, ohne Tiefe und Verpflichtung. Gerade das liebe ich ja an ihr.«

»Nein,« sagte er, »gerade das konnte ich an ihr nicht lieben. Gerade dieser Mangel an Tiefe und Verpflichtung ließ mich ihr nicht näherkommen. Und, Gitta, weil Sie Tiefe und Verpflichtung haben und überdies alles das, was Susette auszeichnete, dazu, deshalb mag ich Sie gerne.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts von Susette außer einer Ähnlichkeit von Stirn und Nase, und alle die Hemmungen, die ich habe und die Sie offenbar Tiefe nennen, bewerte ich nicht sonderlich. Mit diesen Eigenschaften, gerade mit diesen, habe ich mich immer als – nun raten Sie! – als Schatten von Susette gefühlt. Auch weil ich dunkler bin als sie. Unsere Mutter nannte uns immer ›Susi und ihr Schatten‹, und das ist richtig. Wir beschwerten und zergrübelten und dunklen Menschen sind nur die Schatten von diesen hellen Lichtgestalten. Wir liegen immer, wo sie aufrecht schreiten. Wir haben nicht ihre herrliche, unbekümmerte Leichtigkeit. Das ist ja nur Neid und Ressentiment, daß wir uns als ›tiefer‹ ausgeben. Wir werden niemals das sein, was sie sind. Und nicht einmal – wenn Sie das verstehen, und Sie werden es verstehen – so ›Gott wohlgefällig‹ wie sie. Die andern schweben als ein Traum Gottes durch das Leben. Sie können eitel und kalt sein, aber sie tragen doch einen Hauch des Paradieses um sich, während wir nur im Schattenreich des – allerdings ›tieferen‹ – Fegefeuers vegetieren. Wir quälen uns und andere, indes die Susettes erfreuen und gute Träume geben. Ich hätte etwas von Susette? Ach Gott, kann ich die Menschen durcheinanderwirbeln wie sie? Kann ich eine ganze Gesellschaft heiter stimmen? Kann ich beglücken wie sie?«

»Nun, Gitta, mich beglücken Sie mehr und tiefer und inniger, als Susette es je gekonnt hätte. Verzeihen Sie, ich will Ihnen keine Liebeserklärung machen. Ich würde es nicht wagen. Aber Ihre Wertschätzung der Susette-Natur erscheint mir geradezu ein wenig abstrus.«

»Wirklich?« fragte sie. »Ja, ganz wirklich!« Sie hielt einen Augenblick inne. Vielleicht freute sie sich über seine Meinung. »Ich will Ihnen alles zugeben,« sagte sie nach einer Weile. »Susette war nun einmal das höchste Ideal meiner Mädchenjahre, und sie wird es immer ein wenig bleiben. Ach, ich könnte noch ganz anders über Susette reden. Ich könnte Ihnen sagen – und es ist die Wahrheit, hören Sie?«

»Ich höre.«

»Ich könnte Ihnen sagen: sie hat Mario genommen, weil er ein Glasberg war. Diese Liebesgeschichte war eine unerhörte Reklame für sie. Und daß sie für ein, zwei Jahre von der Bühne fortging, war nur klug. Im nächsten Winter konnte sie, nach ihren gesellschaftlichen Erfolgen, jedes Engagement in Berlin haben, das sie wollte, und zu jeder Bedingung. Und sie hatte es sich ganz genau überlegt, wann sie wieder auftreten würde. Und Glasberg wäre sicherlich nicht ihr letzter Mann gewesen, sondern jetzt wäre irgendein berühmter Bühnenname an die Reihe gekommen, und dann hätte die Welt ihr zu Füßen gelegen. Sehen Sie, und gerade das finde ich herrlich an ihr!«

»Nein,« rief er, »das finden Sie gar nicht herrlich! Sie belügen sich selbst. Ja, Sie beleidigen geradezu Ihr eigenes innerstes Wesen damit.«

»Tue ich das?« sagte sie ernst. »Ich komme mir Susette gegenüber minderwertig vor. Sie haben es nicht von Jugend auf erlebt, wie sie vergöttert wurde. Auch von mir selbst. Es muß doch eine Kraft in ihr gewesen sein. Erklären Sie mir die Kraft, die in ihr war!«


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