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18

Seit langer Zeit zum erstenmal nahm er sein Mittagessen im Strandhotel ein. Danach ging er in sein Zimmer, um ein wenig zu ruhen und zugleich das Packen seiner Sachen vorzubereiten. Da er vor einigen Tagen seine Wäsche hatte waschen und plätten lassen – vielleicht schon aus Vorahnung – bekam er alles bequem in die beiden Koffer hinein. Er kramte allerlei Kleinigkeiten in der Stube zusammen.

Auf einmal machte er sich klar, daß er sofort packen mußte, wenn er den Abendzug erreichen wollte. Der Hoteljunge konnte die Malsachen erst am späten Nachmittag abholen. Nur wenn er sich beeilte, kam er noch zur Zeit. Es ist falsch, so überstürzt abzureisen, dachte er. Man muß noch einen Abschiedsspaziergang durch die Dünen und die Kusseln machen und womöglich noch einmal baden.

Er beschloß, erst am nächsten Morgen zu fahren, bis zum Abend in Königsberg zu bleiben und am Sonnabend früh überraschend bei Luisa einzutreffen. So ging alles in Ruhe vor sich. Und nichts ist schöner, als an einem Ort zu verweilen, in dem man eigentlich nicht mehr da ist. Das sind die einzigen Stunden, in denen man niemandem und nichts gehört.

Während die Sonne noch hoch stand, badete er an der alten Stelle, dicht bei seinem Versteck, und ließ sich im Sande trocknen. Sechs Bilder hatte er hier gemalt. Sie lagen zusammengerollt in dem großen Holzkoffer. Mein Gott, wieviel gelbe Farbe hatte er hier verbraucht und wieviel rote zum Untermalen! Diese ganze Landschaft war ja eigentlich am Nachmittag schon rot, wenn die Nebel stiegen und die Sonnenstrahlen sich brachen, trotz der Glühhitze, die der weiße Sand zurückwarf. Eigentlich war aber auch der Sand rot. Er ließ die zu feinen Körnern zermahlenen Gebirgsmassen durch seine Finger laufen und sog den Tanggeruch vom Wasser auf. Zermahlenes Nordland! – empfand er. Blöcke, angeschwemmte Bergriesen, von Jahrtausenden zerquetscht und zerstäubt, und eine Wüstensonne lag über allem.

Er schlenderte den Strand entlang, kam an der Landspitze vorüber, wo er mit den Frauen gebadet hatte. Liebte er sie noch? Nein, sie lagen weit hinter ihm, dieses merkwürdige Paar von Mutter und Tochter. Mochte der sagenhafte Herr Fenn sie mit nach Kalifornien nehmen! Wann kam er eigentlich an? Montag oder Dienstag vielleicht oder noch früher. Solche Menschen mußten überraschend auftauchen und alles umwerfen.

Er ging am Strand weiter. Der wurde hier ganz schmal und war von Steinen überdeckt. Mannshohe Blöcke von den Umrissen seltener Tiere verwitterten einsam. Durch eine buschige Bucht kam ein Bach geplätschert. Es war derselbe, der halb vertrocknet durch die dunkle Schlucht vor Serbenitz floß. Margis sah sich wieder am Abend die Chaussee entlanggehen, als der Scheinwerfer des vorbeirasenden Autos ihn streifte. Hatte nun Glasberg darin gesessen oder nicht? Er wußte es noch immer nicht. Damals war dann die Nacht im Park vor Renates Fenster gekommen! Er sah sich wieder vorsichtig durch die Fliederbüsche lugen.

Auf einmal überwältigte ihn die Erinnerung. Nein, er liebte diese beiden Frauen nicht, aber sie waren wie ein Traum aus einem früheren Dasein durch sein Leben geschritten und hatten ein unbekanntes Heimweh in ihm erweckt. Nie würde er die beiden vergessen können! Er setzte sich auf die Steine und stützte den Kopf in die Hand. Nach einer Weile klomm er längs des Baches die Böschung empor. Oben mußte man in der Ferne Klein-Klank liegen sehen, wenigstens mußten in dem Ausschnitt der Bäume die drei hohen Fenster des Salons zu sehen sein, wo jetzt gerade seine Staffelei abgeholt wurde. Ob er noch einmal im Leben an dem Rosenrondell vorbeigehen würde? Ob er noch einmal auf der Veranda Renate mit ihrem Buch sitzen sah? Vielleicht las sie im nächsten Jahr irgendwo in Kalifornien auf einer Veranda.

Ein Fußweg lief von dem Bach fort in die Höhe. Margis ging ihn entlang, kam aber nicht, wie er dachte, auf die Chaussee, sondern in den Garten des Gasthauses, an dem er einige Male vorübergewandert war. An primitiven Holztischen saßen Sommergäste beim Abendbrot. Hühner stolzierten zwischen den Tischen und stürzten sich in komischer Eile auf die hingeworfenen Brocken.

Er wunderte sich, daß es schon so spät war. Es waren fast drei Stunden vergangen, seit er das Hotel verlassen hatte. Er ließ sich Eier geben. Einige Tische weiter schrieb ein Kurgast einen Brief. Ihm fiel ein, daß er ebenfalls an Glasberg und Maria Fenn schreiben konnte, um Abschied zu nehmen. Richtig, Glasberg erwartete ihn ja morgen abend. Oder erwartete er ihn nicht?

Es war so eigentümlich gewesen, wie er seine Zusage aufgenommen hatte. So, als wenn dieser Abend niemals herankommen würde. Ein unheimliches Gefühl beschlich ihn. Was war das mit diesen Fahrten nach Königsberg? Maria Fenn hatte davon gewußt. Sie war über und über rot geworden, als sie davon sprach.

War ein Geheimnis dabei? Abgerissene Gespräche wollten sich ihm zu einer Kette zusammenschließen. Arbeitete Glasberg daran, sich von seiner Frau zu befreien? Hatte er sie vielleicht nach Königsberg gelockt, um sie dort zu beseitigen, wie er einst Susette beseitigt hatte? Dieser Mensch ist vielleicht ein Teufel! schoß es ihm durch den Kopf.

Trotz solcher Einfälle ließ er sich Schreibzeug bringen und schrieb an Glasberg einige höfliche Zeilen »im Augenblick der Abreise« und entschuldigte sein Fernbleiben am Freitagabend. Der Kellner, der in Frack und Morgenschuhen durch den Garten schlurfte, hatte ihm mehrere Bogen gebracht. An Maria Fenn wollte er eigentlich erst aus Königsberg schreiben, aber die bereitliegenden Seiten verlockten ihn.

»Verehrte gnädige Frau!« fing er an, »Liebe Maria Fenn! Ganz plötzlich habe ich mich entschlossen, morgen in aller Frühe...« Ja, es war besser, wenn er sich noch von hier verabschiedete. Er konnte den Brief in den Kasten vor dem Wirtshaus werfen. Maria erhielt ihn dann bald nach seiner Abreise.

Die anderen Gäste hatten den Garten verlassen. Sie gingen, um vom Rand der bewaldeten Düne aus die untergehende Sonne zu sehen. Ob er auch noch ein letztes Mal ging, den roten Ball ins Meer untertauchen zu sehen? Er stand auf und zahlte. Aber seine Abneigung gegen die Pathetik des Sonnenuntergangs ließ ihn den Ausgang nach der Chaussee nehmen. Wie in Gedanken bog er nach links in die Schlucht. Der Modergeruch des Bodens, den nie ein Sonnenstrahl traf, umhüllte ihn. Unten sickerte unter überhängendem Brombeergesträuch der kleine Bach, gluckste mühsam über die Steine.

Margis ging langsam weiter, die grandios geschwungene Schleife der Chaussee entlang. Dann aber bog er links in den Wald ab. Er wollte Glasberg nicht begegnen, wenn der vielleicht wirklich nach Königsberg fuhr. In weitem Bogen umschritt er, immer durch den Waldrand gedeckt, die Wiesen und Roßgärten, in deren Mitte Serbenitz lag. Wie ein riesiger Block aus schwarz-grünem Granit stand der Park des Gutes. Einige Tannenspitzen stachen aus der oberen Kante hinaus. Trotz der großen Entfernung sah er es deutlich.

Als er weiterging, tauchte jenseits des Parks das Meer auf, schwarzblau, mit einem Rosenstreif am Horizont. Hier blieb er auf einem Baumstumpf sitzen. Weshalb tat er das? Vielleicht wollte er Glasberg doch nach Königsberg fahren sehen. Vielleicht wollten seine Augen sich sattrinken an dieser üppigen Landschaft, zur Entschädigung für die Wochen, die er in den dürftigen und ausgetrockneten Dünen von St. Lüne verlebt hatte.

Die weite Rodung, in der das Gut des Barons Teuffel lag, war wie ein Brett vor ihm ausgebreitet. Am gegenüberliegenden Waldrand konnte er trotz der einbrechenden Dämmerung die umgehauenen Baumstämme noch deutlich erkennen. Ob Glasberg bereits von seinem Brief etwas wußte? Es wurde dunkler.

Auf einmal kam ein Auto von der Chaussee her über die Lichtung gefahren. Wie ein kleines Spielzeug sah es aus, mit dem offenen Kasten und durchsichtigen Rädern. Ein Mietauto, wie es sie in den Städten gibt. Nanu? dachte Margis. Was will das leere Auto hier?

Er konnte deutlich erkennen, daß sich außer dem Chauffeur kein Mensch darin befand. Es fuhr, mit kleinen Staubwolken unter den Rädern, auf den Gutshof zu. Es dauerte eine halbe Stunde, ehe es wieder zurückkam. Die Dämmerung hatte inzwischen rasche Fortschritte gemacht. Ganz undeutlich sah er den Wagen, erkannte nur noch, daß das Verdeck jetzt geschlossen war. Die Laternen, die schon angesteckt waren, rissen das Dunkel keilförmig auf.

Ist das Glasberg, dachte er, der nach Königsberg fährt? Weshalb benutzt er den Mietwagen? Er wartete, bis das Auto im Walde verschwunden war, dann ging er zur Chaussee zurück. Weshalb fährt Glasberg in einem Mietwagen? mußte er immer noch denken. Vielleicht war sein eigener Wagen in Reparatur? Es konnte alles ganz natürlich zusammenhängen. Aber vielleicht hatte auch sein Brief schon Aufregungen hervorgerufen. Wie, wenn er in Serbenitz selbst nachfragte? Etwas drängte ihn dorthin.

Er ging zwischen den Drahtzäunen der Weiden hindurch und stand in einigen Minuten vor dem verschlossenen hölzernen Tor. Er sah den Hund an der Kette springen und hörte ihn jaulen. Vor dem Schuppen stand Glasbergs Wagen. Einige Männer saßen vor der Stalltür. Ein Knecht fragte ihn nach seinem Begehr. Herr Doktor Glasberg wäre nach Königsberg gefahren. Ja, sein Auto hätte heute nacht einen Vergaserbrand gehabt. Der Herr Doktor wäre kaum mit dem Wagen bis hierher gekommen. Für heute hätte er sich einen Mietwagen aus der Stadt kommen lassen. Wo der Chauffeur wäre? Der schliefe wohl schon in seiner Kammer im Herrenhaus oder bringe seine Sachen in Ordnung. Ob er ihn holen solle? »Nein, danke!« sagte Margis und ging davon.

Es war genau wie an jenem ersten Abend gewesen, nur daß der Knecht heute freundlicher war. Margis hatte die Empfindung, daß der Mann nicht log. Wenn Glasberg sich ein Mietauto aus der Stadt hatte kommen lassen, war er in der Tat nach Königsberg gefahren. Ein Mietauto konnte man nicht nachtsüber im Walde verstecken, um Schäferstunden zu verleben.

Außerdem war der Weg nach Klein-Klank so kurz, daß Glasberg ihn ebensogut zu Fuß zurücklegen konnte. Nein, kein Zweifel, er war in Königsberg. Vielleicht war er immer in Königsberg gewesen, wenn der Maler ihn in Klein-Klank vermutet hatte. Auch in jener Nacht, als er vor Renates Fenster stand.

Er schlenderte die Chaussee entlang, kam durch den Grund, an dem Wirtshaus vorüber. In dem blauen Kasten lagen jetzt seine Abschiedsbriefe. Seltsam war das, da er noch in dieser Gegend umherstrich. Ob es übrigens nicht einen näheren Weg zwischen Serbenitz und Klein-Klank gab als die Chaussee? Es war interessant, das festzustellen.

Er ging in das Gasthaus hinein. In der Fremdenstube saßen Kurgäste an einzelnen Tischen und lasen. Er bestellte ein Glas Bier. Der Kellner brachte es in Frack und Filzschuhen. Er fragte ihn nach dem Weg. Der Mann wußte aber weder etwas von Serbenitz noch von Klein-Klank.

Ein Herr am Nebentisch gab Auskunft. In der Tat ginge ein Waldweg hinter der Schlucht von der Chaussee ab. »Gar nicht zu verfehlen!« Margis dankte, blieb eine Weile sitzen und las in der Königsberger Zeitung. Wie die Zeit verrann! Es war bereits halb zehn Uhr. Er zahlte und ging.

Eigentlich wollte er geradeswegs nach St. Lüne zurückkehren, aber der Waldweg lockte ihn. Er ging durch die Schlucht zurück. Hinter dem Gut bog der Fußpfad in den Wald hinein. Margis konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Der Weg senkte sich hinunter. Er drehte die Taschenlampe an. Eine kleine Brücke führte über den Bach, Gestrüpp schlug ihn schulterhoch ein. Jenseits stieg der Weg wieder an. Oben kam er aus dem Wald heraus. Auf dem Feld stand Getreide in dunklen Hocken.

Er ging weiter am Waldrand entlang. Vor ihm stieg die Mondsichel hoch. Eine Waldzunge spannte sich in das Feld hinein. Dies war die Waldecke, hinter der sich Maria Fenn mit Glasberg traf, wenn sie »mit dem Inspektor aufs Feld ritt«. Der Weg bog wieder in den Wald ein. Als er nach einigen Minuten hinaustrat, lag Klein-Klank vor ihm mit großen Scheunen und Wirtschaftsgebäuden. Seltsam, daß es auch in Klein-Klank so etwas gab!

Es war ihm nie eingefallen, daß Maria eine Gutsherrin war, die vielleicht morgens in hohen Stiefeln durch den Kuhstall ging. Aber sicher gab es das auch bei ihr. Hinter dem Haus, das so zierlich und köstlich eingerichtet war, wurden Gespanne eingeteilt und Schafe ausgetrieben und standen abends Knechte vor Stalltüren, und Kälber wurden geboren, und schwere Zuchtsäue sielten sich mit ihren Ferkeln. Weshalb hatte man Maria Fenn nie danach gefragt? Vielleicht führte sie auf der anderen Seite des Hauses ihr eigentliches Leben, hatte Besprechungen mit dem Inspektor und gab der Mamsell Anweisungen. Seltsam, daß er nie darauf gekommen war!

Er ging quer über das Feld auf die große dunkle Scheune zu. Im Mondschatten stand ein Roßwerk. Dicht daneben begann schon der Park. Aber er konnte nicht ohne weiteres eindringen. Kletten hingen sich an seine Kleidung, das Gestrüpp wurde undurchdringlich. Brennesseln schlugen ihm gegen die Hände und ins Gesicht. Schließlich kam ein Graben, den er nicht zu überspringen wagte, da er dem Boden drüben nicht traute. Vielleicht blieb er im Morast stecken.

Er machte einen weiten Bogen und erreichte schließlich, wieder über mondhelles Feld gehend, den Parkrand, schlüpfte durch den Drahtzaun und stand in raschelndem Laub, das den Boden bedeckte. Wenn er ein wenig vordrang, mußte er unter Renates Fenster stehen. Er merkte, daß er wie aus dem Wasser gezogen war. Das Hemd klebte an seinem Körper. Die Luft zwischen den Bäumen umfing ihn mit stickiger Schwere. Wie, wenn Renate in ihrem Fenster auf jemand wartete? mußte er plötzlich denken. Von dieser Seite mußte Glasberg angeschlichen kommen. »Renate weiß nichts, und sie darf und soll nichts wissen!« hatte Maria Fenn gesagt.

Aber vielleicht wußte sie dennoch alles, sah jede Nacht den dunklen Gast über das Feld kommen und zwischen den Büschen herumstreichen, kauerte sich im Fenster zusammen und wartete, bis er wieder fortging, zerrissen von Qualen der Eifersucht und gemarterter Kindesliebe. Mein Gott! dachte er. Kann es etwas Furchtbareres geben als das, was dieses Kind durchmacht.

Der Mond stand noch tief. Die Fassade des Hauses lag im tiefen Dunkel. Hell und lau mit silbernen Sternen jubilierte der Nachthimmel über dem First. Margis spürte das schwere Duften des Rosenrondells. Er sah die dunkle Mauer vor sich. Irgendwo mußte der Fliederbusch stehen, in dessen Schutz er damals bis dicht vor das Fenster gelangt war.

Er lugte zwischen den Büschen hindurch, sah das Gesträuch dunkel vor sich aufragen. Langsam schob er sich bis dahin vor, tastete sich vorsichtig durch die Zweige. Jetzt mußte er dicht unter dem Fenster stehen, aber noch immer sah er nur die dunkle Mauer und darüber den funkelnden Himmel. Ganz langsam bog er das Gezweig zurück und stand im Freien.

Seine Augen bohrten sich in das Dunkel. Oben, in der Höhe des zweiten Stocks, sah er die weiße Gestalt, undeutlich, nur als bleicher Fleck zu erkennen. Saß sie, wie damals, zusammengekauert im Fensterrahmen, die Arme um die Knie geschlungen, den Kopf niedergebeugt und von dem Vorhang der blonden Haare verhüllt? Er suchte den weißen Fleck zu deuten, Umrisse zu erkennen. Stand unbeweglich, ohne Atem fast vor dem verschleierten Bild. Ihm war, als wenn ihre Atemzüge zu ihm hinunterschwebten, als könnte er das Schlagen ihres Herzens vernehmen. Die Zeit sank hinter ihm in den Abgrund. Er wußte nichts mehr außer diesem erahnten Geschöpf dort oben und ihrem Schicksal. Morgen, in einigen Stunden schon, war er weit weg, sah sie vielleicht niemals im Leben wieder.

Auf einmal schreckte er hoch. Hatte etwas Helles sein Auge getroffen? Der Mond war über den First emporgestiegen, zögerte einen Augenblick und schnellte sich in den jubilierenden Himmel. Margis fühlte, wie hinter ihm der Garten in silberner Lichtflut stand, die mit Windeseile vorwärtsjagte, gerade auf ihn zu, in breiter Linie das Rosenrondell und den Fliederbusch überschwemmte und über ihn hinwegbrach.

Er sah sich im vollen Licht stehen und oben im Fenster Renate. Ihre Augen trafen sich, suchten Halt in des andern Gestalt, staunten sich erschrocken an. Was war das? Er sah, daß ihre Arme sich hoben, hörte einen Schrei, nochmals einen Schrei wie aus fernen Wäldern. Sah sie vom Fenster wegstürzen.

Er stand wie betäubt, starrte in das offene Loch. Irgend etwas war geschehen, er wußte nicht. War das nicht ein Jubelschrei gewesen? Er hörte einen Jubelschrei in seinem Ohr, stand noch immer, vom Licht überflutet, das jetzt die Fassade hinaufsprang. Innen huschte es aus den Räumen wie elektrisches Licht. Eine Stimme schien durch das Haus zu fliegen.

Und dann kam wieder ein Schrei. Nein, das war kein Jubelschrei! Es kam von der andern Seite des Hauses, ein furchtbarer, gellender Schrei war es. Irgend etwas Entsetzliches war geschehen. War das Renates Stimme? Er hatte nur ein Gellen im Ohr. Weshalb ist es so furchtbar, daß ich hier stehe? dachte er.

Dann kam noch einmal dieser Schrei. Er hörte Fenster, Türen schlagen. Ein Grausen ergriff ihn. Er sprang ins Gebüsch zurück, raste sinnlos über die Wiese, wie von Furien gehetzt, und wieder durch Dickicht. Das faulende Laub raschelte unter seinen Füßen, Zweige peitschten ihm ins Gesicht. Er durchsprang den trockenen Graben, hetzte über die Birkenallee. Mein Gott! dachte er nur immer. Mein Gott! – Er kam erst auf dem Fußweg nach St. Lüne zur Besinnung.

Was war das nur? fragte er sich. Habe ich vielleicht so furchtbar ausgesehen, wie ich da im Mondlicht stand? Er hastete den Weg durch die Kusseln weiter. Ganz allmählich beruhigte er sich. Wenn ihm nur nicht diese letzten beiden Schreie noch immer im Ohr gegellt hätten! Seltsam – nun habe ich die ganze Gegend noch einmal abgeschritten, die Dünen und den Strand und den vertrockneten Bach und Serbenitz und Klein-Klank, und jetzt bin ich gerade an der Stelle, wo ich Maria Fenn und Renate zum erstenmal sah! Er blieb ein wenig stehen, fühlte, wie ihm etwas Nasses über die Stirn tropfte. Er wischte es mit der Hand ab und sah im Mondlicht, daß es Blut war. Er mußte sich an einem Zweig gerissen haben.

Dann ging er weiter, von Fragen und Angst bestürmt. Wie sollte er es Renate erklären, daß er vor ihrem Fenster gestanden hatte? Ob er ihr noch vor seiner Abreise einige erklärende Worte schrieb? Weshalb war es so schlimm, daß er in der letzten Nacht noch einmal an Klein-Klank vorbeiging? Natürlich, natürlich ist es schlimm! sagte er sich. Wie soll ich ihnen glaubhaft machen, daß ich nicht jede Nacht dort war und sie die ganzen Wochen hindurch belauerte? Jetzt werden sie alles von mir glauben. Ich stehe im Geruch eines Verbrechers, dem vielleicht nur die Gelegenheit zu einer Untat fehlte!

Als er in das Strandhotel kam, packten die Musiker ihre Instrumente zusammen. Der Wirt rechnete mit dem Kellner ab.

»Wie sehen Sie aus, Herr Professor?« rief er Margis lächelnd zu. »Als ob Sie jemand umgebracht hätten!«

Margis sagte, daß er sich im Walde verirrt und wohl an einem Brombeerstrauch geritzt habe. Ihm schien, daß der Wirt ungläubig lächelte. »Übrigens, morgen früh fahre ich ab. Mit dem Zehnuhrzug. Sind eigentlich meine Sachen aus Klein-Klank zurückgekommen?«

»Jawohl,« erwiderte der Wirt und dienerte. Margis fühlte selbst, daß er eine lächerliche Figur machen mußte. Vielleicht hielt man ihn für betrunken. Und in der Tat, ihm war, als taumelte er die Treppe hinauf.

In seinem Zimmer stand der Kasten mit der Palette und den Pinseln, und in der Ecke lehnte die zusammengeklappte Staffelei. Er packte den Rest seiner Sachen ein und ging zu Bett. Seltsam, seltsam! dachte er beim Ausziehen. Wie mag das alles zusammenhängen?

Er erwog eine Verbindung zwischen seinem Brief an Holten und Renates gellenden Schreien. Es mußte da ein Zusammenhang bestehen, wenigstens ein moralischer. Wußte man schon von seinem feindlichen Schritt? Aber wie war das alles miteinander verknüpft? Er besah sich im Spiegel. Ein blutiger Riß ging quer über seine Stirn. Es erschien ihm wie eine Strafe für seinen Brief. Er konnte lange nicht einschlafen, wurde das Bild nicht los, wie Renate ihre Arme in die Höhe warf und aufschrie.

Als er am Morgen erwachte, war es fast neun Uhr. Er warf einen Blick durch das Fenster, um nach dem Wetter zu sehen. Ein Herr stand dort und sah zu ihm empor. Margis kannte ihn nicht, aber er hatte das undeutliche Gefühl, daß dieser Herr seinetwegen dort stand und vielleicht mit seinem Brief oder der verflossenen Nacht zusammenhing. Er kleidete sich rasch an und ging hinunter.

Auch im Hausflur stand ein fremder Herr, der ihm sogar folgte. Unten dienerte der Wirt, ohne zu lächeln. So seltsam war das alles! Er frühstückte, gab Anweisungen wegen seines Gepäcks, bezahlte die Rechnung beim Kellner, der ein eisiges Gesicht machte. Er wollte sich von dem Wirt verabschieden, aber der verschwand in seinem Privatkontor. Margis setzte den Hut auf, hing den Mantel über den Arm und verließ die Halle.

Der Herr aus dem Hausflur ging wenige Schritte hinter ihm her. Der andere Herr, der vorhin vor seinem Fenster gestanden hatte, setzte sich gleichfalls in Bewegung. Der Diener fuhr auf dem Handwagen sein Gepäck zur Bahn. Margis bemerkte alles wie durch einen Schleier. Sollte er die Herren zur Rede stellen?

Aber er gab es wieder auf, hatte die Empfindung, daß sich in wenigen Augenblicken alles aufklären würde. Er löste die Fahrkarte nach Königsberg.

Als er vom Schalter zurücktrat, kam einer der Herren auf ihn zu, lüftete seinen Hut und zeigte seine Marke als Kriminalbeamter. »Es tut mir leid, Sie für verhaftet erklären zu müssen, Herr Margis.«

»Verhaftet? Wieso verhaftet?« Aber er fühlte selbst, daß er erbleichte. »Wieso verhaftet?«

Der Beamte zuckte die Achseln. »Sie werden das wohl selbst am besten wissen.«

»Nichts weiß ich! Was ist denn los?«

»Sie stehen in dem dringenden Verdacht, heute nacht Frau Fenn in Klein-Klank ermordet zu haben.«

Margis taumelte zurück. »Was? Maria Fenn ist ermordet? Ja, um Gottes willen!« Mit einem Schlage wurde ihm die Situation klar. »Ich verstehe,« sagte er. »Wenn Frau Fenn heute nacht ermordet wurde, dann muß ich wohl in den Verdacht kommen, der Täter zu sein. Natürlich folge ich Ihnen, mein Herr. Es wird sich bald alles aufklären. Ich bin vollkommen unschuldig.«

Dann erst kam es ihm zum Bewußtsein, daß Maria ermordet sein sollte. Er preßte die Hände vor die Augen und stöhnte laut auf. »Aber um Gottes willen, wie ist das möglich! Und Renate? Was ist denn mit Renate? Ich muß Renate sprechen!«

»Sie werden dazu Gelegenheit haben,« sagte der Beamte und bat ihn, sich zusammenzunehmen. »Die Leute werden aufmerksam.«


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