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[15]

Gitta rief Holten an, er solle sich den Abend und die Nacht freihalten. Sie hätte etwas. »Gewöhnlichen Straßenanzug, bitte! Ich hole Sie gegen acht Uhr ab.« Es war unmöglich, mehr aus ihr herauszuholen. »Ich erkläre Ihnen alles nachher.«

Um acht Uhr kam sie, ganz einfach angezogen. Sie sah reizend aus. »Haben Sie nicht einen älteren Rock? Dieser sieht viel zu fein aus.«

»Mein Gott, was haben Sie nur!?«

Sie hatte etwas Abenteuerliches vor. »Heute nacht werden wir in Glasbergs Wohnung sein!« Er sah sie erschrocken an. Sie erklärte ihm die näheren Umstände. Sofort nach ihrer Ankunft in Berlin hatte sie jene Fabrikgebäude des Glasberg-Konzerns zwischen Schöneberg und Tempelhof regelrecht belagert. Sie versuchte sich als Stellungsuchende Eingang zu verschaffen, war von einer Abteilung zur andern geschickt worden und hatte schließlich die Bekanntschaft eines jungen Werkführers gemacht. Sie mietete in einer der Nebenstraßen ein kleines, dunkles Zimmer und wohnte dort als stellungsuchende Arbeitslose, ließ aber durchblicken, daß sie »bessere Tage gesehen«. »Ein entzückendes Fabrikmädchen sind Sie!« lobte Holten. Sie blieb aber ernst.

Jener Werkführer besuchte sie und bemühte sich, sie in einer Abteilung der Fabrik anzubringen. Schließlich, als sie eine Woche lang die Abende miteinander verbracht hatten – sogar in einem Neuköllner Vergnügungsetablissement hatte sie sich abends von ihm traktieren lassen –, sagte sie ihm die Wahrheit. Sie wolle aus Glasbergs Schreibtisch jenen Abschiedsbrief ihrer toten Schwester an ihre Mutter heraushaben.

Weshalb sie es denn nicht mit dem Gericht versucht hätten, hatte der Werkführer gefragt. »Glasberg würde sagen, daß dieser Brief irrtümlich mit andern Papieren durch die Schuld eines Dieners verbrannt worden sei. Man kann ihn nur mit List herausbekommen.« Schließlich hatte sie ihm dreihundert Mark versprochen, wenn er ihr den Brief verschaffte. Zuerst habe er sich furchtbar gesträubt, Geld anzunehmen. Wenn er es täte, so täte er es nur, weil es ein gutes Werk sei, nicht wegen Geld. Die Hauptsache wäre ihm, daß es sich wirklich nur um jenen einen Brief handele. Das versprach Gitta ihm hoch und heilig.

Endlich war folgendes ins Werk gesetzt: Es gab in der Fabrik mehrere Dienstwohnungen. Der junge Werkführer selbst wohnte als Einmieter bei einer Inspektorsfamilie. Diese Familie feierte heute einen Geburtstag, zu dem mehrere Gäste geladen waren. Als Gäste dieser Familie sollten Holten und Gitta in die Fabrik eingeladen werden. Sie würden mit dem Werkführer zusammen durch das Tor gehen. Der Portier würde keine Schwierigkeiten machen, da sie namentlich angemeldet waren. Glasbergs Wohnung selbst war zum größten Teil abgeschlossen, die Köchin beurlaubt, und der Diener, der dort zurückgeblieben war, war ebenfalls zu der Geburtstagsfeier eingeladen worden. Dieser Diener machte dem Manne überhaupt wenig Kopfzerbrechen; er schilderte ihn als Dummkopf, der es nicht einmal verhindert hatte, daß er selbst sich die Wohnung genau ansah. So hatte der Werkführer bereits Nachschlüssel und Brecheisen besorgt. Er stellte zur Bedingung, daß er selbst nichts anzurühren brauchte, aber persönlich dabei war, wenn Gitta und der Rechtsanwalt den Schreibtisch durchsuchten, damit er sich überzeugen könne, daß es sich wirklich nur um jenen Brief handelte.

Holten sah die Sache nicht so leicht an. »Weiß denn die Inspektorsfamilie davon?« Sie wußte nichts. Der Werkführer hatte nur im Namen des Inspektors zwei Personen mehr angemeldet. Sie würden sich als Herr Viktor Stadelmann und Fräulein Marie Klump – diese Namen hatte Gitta ausgesucht – in das Buch eintragen.

»Aber wird es nicht auffallen, wenn der Werkführer von der Geburtstagsfeier fernbleibt?« Aber auch das war schon in die Wege geleitet. Eine Schwester des Werkführers kam mit ihrem Mann aus Westfalen, und er wollte sie auf der Bahn sprechen. Er ging dann später zu der Feier.

»Gitta,« sagte Holten, »natürlich werde ich mitkommen, aber ich werde mich keinen Augenblick wundern, wenn das Ganze eine Falle ist, in die Mario uns lockt. Oder wenn es elektrische Alarmklingeln gibt, die uns verraten.« Gitta lachte. »Die Alarmleitung hat doch mein Werkführer selbst im vorigen Jahr gelegt, und er versteht es, sie auszuschalten. Nur vor Fingerabdrücken sollen wir uns in acht nehmen. Wir tragen natürlich Handschuhe.« Sie sprach sehr zuversichtlich, aber Holten sah es ihr an, daß sie erregt war. »Und wenn wir gefaßt werden?« Sie zuckte die Achseln.

»Aber wenn sich nun dieser Brief als echt herausstellt?«

Sie sah ihn ernst an. »Vielleicht wünsche ich nichts in der Welt sehnlicher, Wolf. Dann ist meine Schwester freiwillig in den Tod gegangen. Dann hat sie unter ihrem Leben gelitten, wie wir es manchmal gedacht haben, daß sie darunter leiden sollte, und der Ekel vor der Öde und Nichtigkeit dieser Welt ist immer höher und höher in ihr gestiegen, bis sie wirklich schließlich ›aufstand und fortging‹. Dann ist Susette eine große Frau gewesen, Wolf!« Er nickte. »Dann hat uns Mario viel zu verzeihen.«

Holten setzte sich an den Schreibtisch und schrieb einige Zeilen für seine Sekretärin auf. »Wenn ich morgen früh nicht zu Hause bin oder keine Nachricht gebe, benachrichtigen Sie unverzüglich die Polizei. Fräulein Gitta Alsen und ich wollen heute nacht versuchen, in die Wohnung des Herrn Mario Glasberg, in den Fabrikgebäuden des Glasberg-Konzerns in Tempelhof, einzudringen und uns in den Besitz eines widerrechtlich dort zurückgehaltenen Dokuments zu setzen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß wir in eine Falle gelockt sind. Sollte ich also bis zehn Uhr nicht zurück sein, bieten Sie sofort polizeiliche Hilfe auf.« Er adressierte: Fräulein Elma Diepenbroich, und schrieb sicherheitshalber auf den Umschlag: »Nicht vor zehn Uhr zu öffnen!« und trug den Brief in sein Bureau hinüber.

»So, nun kann es losgehen!« Sie brachen auf.

Im Auto konnten sie vor Erregung kein Wort sprechen, malten sich alle Konsequenzen aus, die die Auffindung des Briefes nach sich ziehen mußte. Wenn die Schriftzüge gefälscht waren und ein Schriftsachverständiger es ihnen attestierte, dann mußte die Staatsanwaltschaft die Leiche ausgraben und Mario Glasberg verhaften lassen. Diese Aufregung in Leynhausen! Holten mußte in Gedanken daran lächeln und bemerkte, daß auch Gitta lächelte.

»Warum lachen Sie?« fragte er. Sie dachte wie er an Leynhausen. »Ist es nicht komisch, daß wir in diesem Augenblick an dieses Nest denken? Und nicht einmal an die Menschen, die uns nahestehen, sondern wahrscheinlich an die allergleichgültigsten Leute. Zum Beispiel an den Apotheker, der allen Freunden am Stammtisch große Vorträge über Veronal und Arsen halten wird, und an die Hofdame der Prinzessin Amalie und an die Garderobenfrau im Landestheater, die Susette so gut kannte.«

»Ja,« sagte er. »Es ist nun einmal so. Ich habe an ganz ähnliche Ergebnisse unseres Unternehmens gedacht.«

Das Auto bog von der Schöneberger Hauptstraße in die Tempelhofer Straße ein. Holten kannte diese Gegend kaum. Es ging unter Eisenbahnunterführungen durch, über unbebautes Land mit blühenden Schrebergärten. »Wie heißt diese Straße?«

»Sachsendamm!« Er hatte noch nie davon gehört. Auf einmal fiel ihm ein, daß seine Rechtsanwaltslaufbahn zu Ende war, wenn er bei diesem Einbruch ertappt wurde. Vielleicht fiel eine gerichtliche Strafe nicht einmal so hoch aus. Man würde ihnen selbstverständlich mildernde Umstände zubilligen, aber mit seiner Juristenlaufbahn war es trotzdem aus.

Es ging um eine Ecke. Hier waren die Häuser sechs Stockwerke hoch. Man hatte das Gefühl, in einer engen Schlucht zu sein. Gitta ließ halten. Sie stiegen aus, standen allein. Zur Rechten erhob sich die Steinmauer des Bahndamms. Stufen mit einem Eisengeländer führten hinauf. Ein Signalmast mit grünem Licht stieg in die Unendlichkeit. Die Straße verlief im Kreise. Wo sie umbog, hing eine Laterne schief in einem eisernen Halter und brannte, obwohl es noch ziemlich hell war.

»Ist es hier nicht wie auf einer Zeichnung von Alfred Kubin?« sagte Gitta. »Und Sie sollten diese Straße morgens und am Nachmittag sehen, wenn sie bis an den Rand gefüllt ist von einem Strom eiliger Menschen. Können Sie glauben, daß ich diese Gegend seitdem liebe? Nicht Ebbe und Flut am Meer hat mir diesen Eindruck kosmischer Gewalten gegeben, die das menschliche Leben bestimmen, wie das An- und Abschwellen dieser Massen in diesen Winkelstraßen. Glauben Sie, daß es die Uhr und der Achtstundentag ist, der dieses Strombett füllt und entleert? Nein, der Kosmos, der Rhythmus der Unendlichkeit atmet darin.«

»Wissen Sie, wie wir sprechen?« fragte er. »Wie sich Menschen im Weltkrieg kurz vor Losbruch der Schlacht unterhielten. Man weiß nicht, was die nächste Stunde bringt. Da setzt man sich schnell in Einklang mit dem Unendlichen und redet von ewigen Dingen.«

»Sie können recht haben,« lächelte Gitta. »In solchen Augenblicken überschaut man die Zusammenhänge des Lebens am deutlichsten. Und was wir jetzt tun werden, hat wirklich Ähnlichkeit mit einer Schlacht. Wenn es mißglückt, haben wir uns aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgestrichen.« Nach einer Pause fuhr sie fort: »Eigentlich wollte ich es allein tun, aber es ließ mir keine Ruhe. Sie sollten an allem teilhaben, am Erfolg oder am Mißerfolg.«

»Sie wissen, Gitta, daß das eine Liebeserklärung ist, was Sie da sagen!«

»Ich weiß es, Wolf. Ich habe Ihnen neulich in Leynhausen auch schon eine gemacht.« Er nickte, und sie sahen sich an.

»Weshalb stehen wir hier eigentlich?« fragte er, in die Wirklichkeit zurückkehrend. Es war die Stelle, die sie mit dem Werkführer verabredet hatte. »Wissen Sie, daß ich drei Häuser weiter wohne? Hoch oben unter dem Dach! Oder vielmehr gewohnt habe. Denn heute nachmittag bin ich wieder in die Lietzenburger Straße zu Frau Werneuchen gezogen. Ich glaubte, es sei besser, wenn man mich hier nicht mehr sieht.«

Der Werkführer kam um die Ecke und trat auf die beiden zu. Ein bildhübscher Kerl, ein wenig jünger als Holten, von einem verstaubten Blond, mit klugem und gutmütigem Blick. Sie sprachen den Plan durch.

»Die Dame hier hat Ihnen dreihundert Mark versprochen,« sagte Holten. »Aber Sie sollen tausend Mark haben, wenn alles klappt.«

Der Mann wurde verlegen. »Es ist nicht wegen dem. Ich tue für das Fräulein alles sehr gern. Aber wenn ich nun nachträglich gefaßt werde? Es ist ja nur, weil ich meine alte Mutter mit ernähre. Würden Sie mir, wenn ich in Not bin, eine Stelle besorgen, Herr Rechtsanwalt? Ich verstehe so allerhand und bin, trotz dieser Geschichte hier, ehrlich.«

Holten versprach, ihn unterzubringen; wenn nicht anders, dann bei sich selbst. »Falls mir diese Sache nicht selber das Genick bricht!«

Der Werkführer grinste. »Diese Sache,« sagte er, »ist gut und ehrlich, wenn sie geglückt ist. Wenn sie mißglückt, ist sie ein Einbruch und nichts weiter.« Sie lachten. »Kommen Sie!«

Sie gingen die Straße weiter bis zu einem kleinen Platz. Ein hohes Gittertor gähnte dunkel. Hier war der Eingang zur Fabrik. Ein Fliederstrauch wuchs aus dem Asphaltring, sonst gab es nur Stein und Glas und Eisen. Gegen den halbdunklen Himmel wölbte sich das Portal. In den obersten Fenstern brach sich glührot die untergehende Sonne. Es war die einzige Farbe in dem einförmigen Grau. Der Werkführer zog an der Glocke.

Ein Portier in Hemdsärmeln, aber in Mütze, schlurfte über den Zement des Eingangs. »Was wollen Sie?« fragte er barsch.

»Aber, Mensch, das sind doch die Freunde vom Inspektor Bresch! Wegen des Geburtstags!«

»Ach so,« knurrte der Portier und schloß das Tor auf. An zwei großen Brettern hingen die Nummern der Arbeiter. Es gab lange Gestelle für Fahrräder, die jetzt leer waren. Holten und Gitta mußten sich in ein Buch einschreiben. »Na, denn amüsieren Sie sich man!« rief der Portier ihnen nach. »Du gehst doch mit, Gustav, nicht wahr?«

»Selbstverständlich!« rief der zurück und bog mit den beiden um die Ecke. »Wir haben schön Zeit. Wenn wir zu früh herauswollen, fällt es nur auf.« Holten dachte, daß sie jetzt vielleicht in der Falle waren. Machte man es ihnen nicht ein wenig zu leicht? Das Tor schnappte hinter ihnen zu.

Sie gingen zwischen dunklen Mauern hin, kletterten über Gleise, gingen durch Straßen, über denen Rädergewirr und Drahtgeschling hing. Dann hielten sie vor einem hohen, sechsstöckigen Haus, das sich oben ins Dunkle verlor. »Hier ist es!« Sie traten ein. Der Werkführer entschuldigte sich, daß er keinen Schlüssel zum Fahrstuhl habe. Sie würden zwölf Halbtreppen steigen müssen. Er riet, kein Licht zu machen, sondern sich am Geländer hinaufzutasten. Die Fenster des Treppenhauses wären von draußen zu sehen, während die Wohnung selbst abgedeckt sei.

Holten fragte nach der elektrischen Alarmleitung. Sie war an der Entreetür angebracht und führte direkt in die Portierloge. Man konnte sie von drinnen und von draußen abstellen, wenn man es verstand. Karl, der Diener, würde sie angestellt haben, als er zu Breschs hinüberging. Sie stiegen in schweigenden Minuten hoch, einer hinter dem andern, zählten jeder für sich die Treppenabsätze. Zwölfmal mußten sie umbiegen; oben steckte der Mann ein Streichholz an und hantierte an einem Wandschalter. »Hat der Karl richtig vergessen, die Alarmleitung einzuschalten. Was nützen da die schönsten Erfindungen!« Er war ordentlich ärgerlich.

Holten meinte, daß der Diener doch vielleicht noch in der Wohnung wäre. Ob man nicht vorsichtshalber erst klingelte? Der Werkführer hielt es für ausgeschlossen, überzeugte sich noch einmal, daß die Alarmglocke abgestellt war, und schloß die Tür auf. »Karl!« rief er hinein, »Karl, wo steckst du denn? Wir warten alle.« Aber die Wohnung lag leer und schweigend. Sie gingen hinein.

Der Werkführer riet, kein Licht anzumachen. Vielleicht drang doch ein Schimmer ins Freie, obwohl nach außen hin alles abgeblendet sei. Holten fühlte, wie sein Herz gegen die Rippen sprang. Weshalb kein Licht? dachte er. Sollten wir etwa Mario und seine Männer nicht sehen, die sich vielleicht im nächsten Augenblick auf uns stürzen? Wer weiß, wer sich hier versteckt hat!

Dort, hörte man nicht atmen? Aber es war nur Gitta, die hinter ihm ging. Er fand, daß der fremde Mensch in Glasbergs Wohnung merkwürdig genau Bescheid wußte. Eine Tür nach der andern wurde geöffnet. Hinter jeder Ecke konnten die Feinde hervorstürzen.

Holten hielt es nicht mehr aus. Als sie wieder an eine Tür kamen, suchte er rechts und links nach dem Schalter, und dann drehte er ihn plötzlich an und sah das weiße, beißende Licht von der Decke herniederstürzen, die Wände hochklettern. Die beiden andern standen erschrocken.

»Was ist das?« Gitta schrie es fast. Der Werkführer war kreidebleich. Holten sagte, daß er das Licht angedreht habe. »Ich hatte die Empfindung, daß sich einer im Dunkeln auf mich stürzen wollte.«

»Kommen Sie,« sagte der Mann lächelnd. Er drehte dieses Licht ab und ließ die Beleuchtung im nächsten Raum anspringen. Es war Glasbergs Arbeitszimmer. »Diese Fenster gehen auf den Dachgarten. Dort sind dichte Hecken gezogen, so daß hier niemand etwas sehen kann.«

Die Fenster schienen die ganze Wand einzunehmen. Schwere Brokatvorhänge hingen von der Decke hernieder. In der Ecke stand ein riesengroßer Schreibtisch, ein »Diplomat«, aber er war mit einem flachen Rolladen verschlossen. Ein hohes Büchergestell nahm eine ganze Wand ein. An den andern Wänden hingen große Ölgemälde der Florentiner Schule. In der Mitte standen niedrige Sessel um einen Rauchtisch mit einer gehämmerten Kupferplatte. Der ganze Raum, die Brokatstoffe, die Bezüge, die Tapeten, hatte die Farbe dunklen glänzenden Kupfers. Nur der Teppich und der Schreibtisch waren schwarz.

Was aber ihre Blicke vom Augenblick des Eintretens an auf sich zog, war der schwarze Vorhang an der Wand über dem Schreibtisch. Er schien einen Spiegel oder ein Bild zu verdecken. Holten zog den Vorhang beiseite. Gitta und er prallten erschrocken zurück.

In rotem Kupferrahmen, der wie von Blut Überflossen schien, hing dort das lebensgroße Porträt Susettes. Wie eine Heilige von Ribera kniete sie am Boden in transparent leuchtendem kobaltblauem Kleid, umflossen von dem Lichtgold ihrer aufgelösten Haare, reckte sterbend die Arme einer nebelverhüllten Sonne entgegen. Man sah, daß sie im nächsten Augenblick entseelt zur Erde sinken würde. Der Ausdruck der Gestalt war von einer überwältigenden Größe und noch im Tode leuchtenden Schönheit. Es war, als ob diese Frau noch im Sterben schön zu sein sich bemühte, als ob darüber aller Schmerz hinfällig würde und abflösse wie die Falten des Kleides. Sie standen ergriffen.

»Das ist Susette!« flüsterte Gitta. »Wer mag es gemalt haben?«

»Kein Deutscher!« gab Holten flüsternd zurück. »Es ist wie von einem Spanier.« Gitta ließ sich in einen Sessel fallen und schluchzte. Sie wollte das Weinen zurückdrängen, aber ihr Körper bebte unter den verhaltenen Tränen. Der Werkführer stand verlegen beiseite. Holten zog den Vorhang wieder vor.

Sie begannen mit Brecheisen und Schraubenschlüsseln zu arbeiten, wobei sie sich bemühten, möglichst wenig Spuren zu hinterlassen. Nach einer Viertelstunde ließ sich der Rolladen zurückschieben. Sie zogen eine Schublade nach der andern auf. In der untersten lagen in dicken Bündeln Susettes Briefe und, im blauen Umschlag für sich allein, mit Bleistift geschrieben, der Abschiedsbrief. Holten entfaltete ihn. Es war der richtige, lange gesuchte. Gitta hatte sich an seine Schulter gelehnt und sah mit ihm zugleich in das Blatt. Sie nahmen zum Vergleich einen anderen Brief heraus, prüften aufmerksam Buchstaben und Zeilen.

»Ich würde den Brief für echt halten,« sagte Holten dann. »Was meinst du, Gitta?« – Seit sie vor Susettes Bild gestanden hatten, nannten sie sich »du«.

»Ich auch,« flüsterte Gitta tonlos. Sie überflogen flüchtig die letzten Briefe Susettes, die obenauf lagen, um vielleicht etwas zu erfahren. Trotz der Situation mußten sie ein wenig lächeln. Die Briefe enthielten nur Beschreibungen von Kleidern und kurze Bemerkungen über Feste. »Es war goldig,« oder: »Es war fad,« kehrte ständig wieder.

»Laß mich noch einmal das Bild sehen!« bat Gitta. Sie schauten es an. Ja, das war der gleiche Mensch, der diese kurzen Briefe geschrieben hatte. Genau der gleiche und dennoch von einer hinreißenden und ergreifenden Schönheit, ein Wunder des Himmels.

»Komm!« sagte sie leise und hing sich erschöpft in seinen Arm. Der Werkführer suchte wenigstens oberflächlich die Spuren des Einbruchs zu verwischen. Als er fertig war, zog Wolf den Vorhang zu und drehte das Licht ab. Sie gingen hinaus. Im Dunkeln befühlte er den Brief in seiner Tasche.


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