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23

»Das war alles wahr, was er dir sagtet«

»Ja, Gitta, jedes Wort war wahr!«

Er hatte noch, wie er versprochen, in der Nacht an ihrem Zimmer angeklopft und sie wach gefunden. Sie mußten ganz leise sprechen, um nicht gehört zu werden. »Und glaubst du wirklich, daß er, wie er sagte, nichts sehnlicher verlangt, als dem Henker ausgeliefert zu werden!?«

Sie nickte. »Auch das ist wahr! Jedes Wort ist wahr, das er zu dir sagte.«

»Ich werde ihn überführen!«

»Tu das, Wolf! Ja, tu es! Aber habe ich nicht recht gehabt, wenn er mir unendlich leid tat? Ach, Wolf, ich möchte den Kopf in die Kissen vergraben und schreien, schreien, daß es so etwas im Leben gibt!«

Am nächsten Tag – es war der Sonntag – war viel Arbeit zu leisten. Schon am frühen Morgen rief Holten den Untersuchungsrichter an und bekam die Erlaubnis, Margis im Untersuchungsgefängnis zu besuchen. Er überlegte, ob er dem Landgerichtsrat von Glasbergs Beichte erzählen sollte, unterließ es aber. Es brachte die Angelegenheit keinen Schritt vorwärts. Im Gegenteil, Dr. Wehmann konnte zu der Ansicht kommen, daß Glasberg ein sehr gutes Gewissen haben mußte, um so zu scherzen.

Margis empfing ihn mit heiterer Gelassenheit. »Wissen Sie, wovon alles seinen Ausgang genommen hat? Von dem Bilde Glasbergs, das auf Ihrem Schreibtisch steht. Danach habe ich Glasberg erkannt und bin dann durch meine Fragen in diese Geschichte hineingekommen. Glasberg hätte mich bestimmt nicht wieder aufgesucht, wenn ich nicht ein Bekannter von Ihnen gewesen wäre. Jetzt hatte er Furcht, daß ich Ihnen seinen hiesigen Aufenthalt mitteilte. Sie konnten ihn hier beobachten lassen und seine Absichten empfindlich stören. Gleichzeitig merkte er, daß ich Interesse für die Damen Fenn hatte, und faßte den Plan, mich als mutmaßlichen Mörder vorzuschieben. Geschickt, sehr geschickt hat er das gemacht!«

Beide zusammen konstruierten den Hergang, wie er sich abgespielt haben konnte, wobei sie als selbstverständlich voraussetzten, daß Glasberg in Klein-Klank und nicht in Königsberg gewesen war. Natürlich hatte er Maria Fenn vergiften wollen. In den Vorbereitungen dazu, wahrscheinlich unmittelbar vor der Tat, hatte ihn der Schrei Renates bei Margis' Anblick gestört.

Im nächsten Augenblick hörte Glasberg Türen schlagen und das junge Mädchen durch das Haus stürmen. Da hatte er den Dolch genommen, seine Hand schnell, wegen der Fingerabdrücke, mit einem Tuch umwickelt, hatte zugestoßen und war durch das Fenster gesprungen. Vielleicht hatte er sogar, als er um die Ecke bog, Margis im Mondlicht stehen sehen.

Die Sache lag für ihn so günstig, wie er sie sich besser nicht wünschen konnte. Für alle Fälle war er zum »Versteck« des Malers gelaufen und hatte dort den Dolch niedergelegt. Es war alles klar. Nur wie er gleichzeitig in Königsberg sein konnte – das blieb das große Rätsel. Hatte er einen Doppelgänger zur Hand?

Glasbergs Chauffeur war bereits vernommen worden. Der Untersuchungsrichter hatte Margis das Protokoll vorgelesen. Am Mittwoch abend war Glasberg mit dem Wagen nach Königsberg gefahren und mit einem durchgebrannten Vergaser am Donnerstag früh zurückgekommen. Der Chauffeur war während dieser Nacht in Serbenitz geblieben.

Da der Wagen entzwei war, ließ sich Glasberg am Donnerstag abend ein Mietauto aus Königsberg kommen. Mit demselben Mietauto kam er auch gegen sieben Uhr früh aus Königsberg zurück. Wegen des schönen Wetters und weil der Weg nach Serbenitz zu sandig war, war Glasberg bereits im Wald ausgestiegen und hatte den kurzen Weg zum Gut zu Fuß zurückgelegt.

»Wenn man den Chauffeur dieses Mietautos ausfindig machen könnte!« sagte Holten.

»Aber das ist ja das schlimme!« fuhr Margis fort. »Auch dieser Chauffeur ist bereits vernommen worden. Glasberg hatte sich zufällig die Nummer gemerkt. Dessen Aussage stimmt genau mit den Aussagen Glasbergs und seines eigenen Chauffeurs überein. Der Mann hat sich sogar noch mit dem Hotelportier über Glasberg unterhalten, da er ihn doch am nächsten Morgen wieder abholen sollte. Es stimmt alles! Am Freitag früh war Renate zu Fuß nach Serbenitz gestürmt, um Glasberg die Ermordung ihrer Mutter mitzuteilen. Sie lief geradeswegs in Glasbergs Zimmer und fand ihn, wie er sich gerade umgezogen hatte. Seine Autokappe und der helle Staubmantel lagen noch auf dem Stuhl. Und diese Kleidungsstücke haben auch wieder der Chauffeur des Mietautos und der Hotelportier beschrieben. Glasbergs Chauffeur aber hatte sein Auto inzwischen repariert. Glasberg konnte es sofort dem Untersuchungsrichter zur Verfügung stellen. Die Mordkommission traf ja bereits gegen halb zehn in Klein-Klank ein. Ich selbst war bereits gegen acht umstellt.«

»Alles höchst sonderbar!«

»Wissen Sie, Holten, ich glaube doch immer noch, daß Glasberg es vielleicht nicht war. Kann man denn wirklich alle Möglichkeiten überschauen? Kann nicht ein Strolch einige Stunden vorher in das Haus eingedrungen sein und Maria Fenn ermordet haben? Kann er nicht zufällig den Dolch in meinem Versteck abgeworfen haben? Vielleicht war es ein Mann aus dem Dorf, der von meinem Lagerplatz wußte und die Waffe dort versteckte, um den Verdacht gleich auf mich zu wälzen. Es gibt ja immer so viele Möglichkeiten, an die man gar nicht denkt. Glauben Sie, Holten, daß ich wirklich in ernster Gefahr schwebe? Es will mir noch immer nicht einleuchten.«

Holten zuckte die Achseln. Wenn er sich in die Lage des Untersuchungsrichters hineindachte, war da nicht einmal von einer Eventualität Margis oder Glasberg die Rede. Glasberg kam überhaupt nicht als Täter in Betracht, während sämtliche Verdachtsmomente sich gegen Margis wendeten. Auch die Kurgäste jenes Gasthauses an der Schlucht hatten ausgesagt, daß er einen verstörten und unheimlichen Eindruck gemacht habe, als er sich noch spät nach dem Waldweg nach Klein-Klank erkundigte.

Es stimmte auch zeitlich alles zusammen: sein Aufenthalt in dem Gasthaus, sein Auftauchen an der Mordstelle, seine Rückkehr in das Strandhotel. Selbst die Abschiedsbriefe, die er an Maria Fenn und Glasberg geschrieben hatte, fielen ihm zur Last. Man konnte annehmen, daß er noch rechtzeitig abreisen wollte, ehe der Verdacht sich auf ihn richtete. Und wahrscheinlich wäre es auch so gewesen, wenn ihn Renate nicht im Park gesehen hätte.

Holten bewunderte Margis' Haltung, der nicht im geringsten verzweifelte, sondern seine heitere Gelassenheit beibehielt. »Nun, in einigen Wochen werden wir uns wiedersehen!« sagte Holten und verabschiedete sich.

Am Nachmittag konferierte er mit einem Königsberger Rechtsanwalt, Herrn Dr. Immanuel Hohn, dem er die Sache zur Fortführung an Ort und Stelle übergab. Es war ein noch junger Mensch, der die Angelegenheit mit Eifer in die Hand nahm, obwohl »der große Kollege aus Berlin« ihm bei diesem Prozeß »die Rosinen wegschnappen« würde, wie er sich ausdrückte. Mehr war im Augenblick nicht zu tun. Eine Abschrift der wichtigen Protokolle wollte der junge Kollege ihm nach Berlin schicken. Am Abend reiste Wolf mit Gitta ab.

Es war seltsam, wie seit dieser Reise der Sommer mit großen Stößen zu Ende ging. Es regnete mehrere Wochen lang. Die Blätter an den Bäumen wurden gelb, und wieder einige Wochen später wirbelten sie zur Erde. Die Menschen waren längst aus ihren Sommerfrischen zurückgekehrt, gingen wieder in Theater und Konzerte und auf Bälle. Die Erinnerungen des Sommers verwehten.

Holten wartete anfangs von Tag zu Tag, daß ihm aus Königsberg eine wichtige Neuigkeit mitgeteilt würde, aber nichts ereignete sich. Andere Prozesse nahmen ihn in Anspruch. Es gab Tage, an denen er nicht an Glasberg und Margis gedacht hatte.

Er ließ Mario durch ein Detektivbureau überwachen, obwohl er sich nicht viel davon versprach. Mario wohnte in der Dahlemer Villa, fuhr am Morgen in die Fabrik und kehrte am späten Nachmittag nach Hause zurück.

Nichts schien den gleichmäßigen Ablauf seines Lebens zu unterbrechen. Einmal traf Holten Glasberg und seine Frau im Theater. Die Herren grüßten sich mit distanzierter Höflichkeit. Käte Lenninghaus sah eisig über Holten hinweg.

Gitta traf er nur selten. Sie spielte an jedem Abend neben einer berühmten Schauspielerin, der sie die Stichworte hinzureichen hatte. »Gitta Alsen« wurde kaum von jemand beachtet, obwohl sie außergewöhnlich bezaubernd aussah. Aber sie ließ sich nicht mit Geparden oder geliehenen Pelzmänteln oder eine Markenzigarette rauchend für die illustrierten Zeitungen photographieren. Man sprach nicht von ihr. An manchen Nachmittagen trafen sie sich in der Konditorei am Kurfürstendamm, wo sie sich zum erstenmal begegnet waren. Gewöhnlich saßen sie dann in einer verborgenen Ecke und scheuten die Aufmerksamkeit der Menschen.

Es war schon im Oktober, als sie wieder einmal zusammensaßen, um den letzten Brief des Königsberger Anwalts durchzusprechen, der sich mit dem Zeugenaufgebot für die bevorstehende Schwurgerichtsverhandlung beschäftigte. Von Seiten der Staatsanwaltschaft und des Gerichtshofes stand lediglich die Person Margis' zur Diskussion.

Von einer Belastung Glasbergs war keine Rede, wie sie ja vorausgesehen hatten. Glasberg selbst sollte lediglich als Zeuge gegen Margis geladen werden. Die beiden Chauffeure und der Portier des Hotels waren ebensowenig vorgesehen. Man schien sich damit zu begnügen, die protokollarischen Aussagen gegebenenfalls vorweisen zu können. Die Verteidigung Margis', schrieb der Rechtsanwalt, müsse zwei Aufgaben ins Auge fassen. Zunächst galt es, Margis' Charakter, sein jeder Gewalttätigkeit abgeneigtes Wesen, seinen guten Ruf, seine glückliche Ehe ins rechte Licht zu rücken.

Man stünde Margis im übrigen nicht unfreundlich gegenüber. Sein Verhalten im Gefängnis machte den denkbar günstigsten Eindruck. Dr. Hohn meinte, daß Margis vielleicht auch, »ohne daß sich etwas Neues ereignete,« aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden könnte. Es käme eben auf die Zusammensetzung der Geschworenen an. Die zweite Aufgabe wäre die Belastung Glasbergs. Mehr würde man ja auf keinen Fall erreichen, als daß ein Verfahren gegen Glasberg eröffnet würde. Aber man könnte doch Verdachtsmomente häufen. Dr. Hohn schlug vor, aus Königsberg den Portier und den Chauffeur des Mietautos als Entlastungszeugen zu laden. Alles übrige könne er wohl getrost seinem »großen Kollegen aus Berlin« überlassen.

Holten und Gitta beratschlagten, wen sie als Zeugen anführen wollten. »Mama und mich,« sagte Gitta. Holten war gegen Frau Agathe. Aber vielleicht sollte man Marios Diener laden, der über das Leben und Treiben in der Dachwohnung und über jenes Bild Susettes Auskunft geben könnte. Und ferner mußte man natürlich ein schriftliches und formelles Gutachten des Schriftsachverständigen Makel vorlegen.

Später würde Herr Kunkel dann wohl seine gegenteilige Ansicht äußern, aber die Sache war wenigstens in Fluß gebracht.

»Schau unauffällig etwas nach rechts!« flüsterte Gitta Wolf in diesem Augenblick zu. Durch den Raum ging langsam, mit suchenden Blicken, eine dunkle Pelzkappe auf dem blonden Haar, die Knabenfigur in einen weiten Sealmantel gehüllt, Renate Fenn und verschwand auf der Treppe. »Hast du gesehen?« Holten nickte. »Mit wem hat sie sich hier verabredet? Mit ihrem Vater oder mit Mario?«

»Wir wollen aufpassen!« Sie blieben mit gesenkten Köpfen sitzen. Nach einer Weile kam Mario Glasberg durch den Raum und ging hinten die Treppe in die Höhe. »Sie treffen sich hinter dem Rücken des Kaliforniers.« Gitta nickte. »Ist Herr Fenn denn in Berlin?«

Nein! Holten hatte Nachricht, daß Herr Fenn mit seiner Tochter in Klein-Klank wohnte. Herr Dr. Hohn hatte ihm geschrieben, daß der unternehmungslustige Mann eine Reihe Maschinen, einen Zuchtbullen und verschiedenes andere angeschafft hatte, um aus Klein-Klank einen Musterbetrieb zu machen. Es hieß sogar, daß er elektrische Ströme durch die Erde jage, um die Ertragsfähigkeit des Bodens zu heben. »Und derweil trifft sich Renate mit Mario in Berlin.«

»Sie hat wohl nur mit ihrem Vater eine kleine Reise gemacht.«

»Weißt du, Gitta, daß es sehr wichtig ist, daß wir die beiden gesehen haben? Renate ist doch schließlich die Hauptbelastungszeugin. Wenn man nachweisen kann, daß sie alles Interesse hat, die Schuld von Glasberg fort auf jemand anders zu wälzen, würde das sicher Eindruck machen.«

Aber Gitta schüttelte den Kopf. »Das sind alles nur Kleinigkeiten, Wolf. Wenn nicht ein großer Schlag geführt werden kann, ist es umsonst.« Immerhin notierte er sich die Stunde dieser Begegnung.

Währenddessen saß Margis im Gefängnis und hatte seltsame innere Erlebnisse. Fast wünschte er, daß diese Zeit nie ein Ende nähme. Er vergaß nicht, daß in Wochen und Monaten ein Tag furchtbarer Erregung und Angst kommen würde: die Schwurgerichtsverhandlung. Aber er schob die Gedanken daran fort, lebte still sich und seinen Gedanken. Viel dachte er an Luisa und die Kinder.

Wenn er noch einmal aus diesen Mauern herauskam, sollte das ein ganz neues und anders geartetes Leben werden. Und auch seine Arbeiten würden fortan einen anderen Charakter tragen. Man schuf zuviel aus der Tradition heraus, überlegte er sich, ohne Verbindung mit dem Leben. Porträt, Landschaft – das waren feststehende Formen, die man mehr oder minder gut ausfüllte.

Aber darauf kam es gar nicht an. Wenn man einen Menschen malen wollte, dann durfte man an keines aller bisherigen und vorhandenen Porträts denken, sondern man mußte die Welt dieses Menschen malen, eben weil man ihn malen wollte. Auch die Art des Bildes mußte ganz neu und von innen heraus erschaffen werden. Nur so entstanden die großen Werke, die ewig jung blieben. Die Bilder, die ein ganzes Zeitalter in sich bargen.

Das Doppelbildnis von Maria und Renate war nur ein Anfang. Jetzt schon hätte er es ganz anders gemalt. Aber die richtige Form war darin erfühlt, der Vorstoß in das Gedankliche schon geleistet. »Mutter und Tochter,« kein stoffliches Motiv mehr, sondern schon Form, die Form, die Madonnenform der Zeit.

Er genoß es, unendlich lange bei seinen Grübeleien verweilen zu können. Wie karg war einem im Leben draußen die Zeit bemessen! Hier lag die unübersehbare Weite von Wochen und Monaten vor ihm. Immer noch zuviel Unterbrechung gab es für ihn: die Mahlzeiten, die Besuche des Geistlichen, den Rundgang in dem kahlen Hof und immer wieder Vernehmungen und Gegenüberstellungen.

Am liebsten hätte er still für sich auf der Pritsche gelegen und die Gedanken wandern lassen. Wie seltsam ist es! mußte er oft denken. Da sitze ich hier seit vielen Wochen und kehre mein Inneres um und um und meine, daß ich ganz deutlich sehen müßte. Und drüben, nicht weit von hier, sitzen Männer an Schreibtischen und kehren in den Akten mein Leben um und um, und doch ist keine Brücke und keine Verbindung von dieser Zelle zu diesen Akten. Weshalb sieht man nicht, daß ich völlig unschuldig an dieser Mordtat bin? Wenn ich schuldig wäre, würde ich es doch längst gestanden haben!

Dann aber malte er es sich aus, daß er den Mord begangen hätte. Würde er ihn wirklich gestehen? Und plötzlich kam ein großes Erschrecken über ihn. Ich weiß nicht, ob ich ihn gestehen würde. Ich weiß es wirklich nicht! Ich würde ihn gestehen wollen. Ganz starke Kräfte in mir würden mich treiben, ihn zu gestehen. Ich würde mich danach sehnen, zu bekennen. Bis dicht an die Oberfläche würde ich erfüllt sein von der Sehnsucht, alles einzugestehen. Und dennoch – über die Oberfläche hinaus würde ich es wahrscheinlich nie gelangen lassen. Etwas in mir würde schreien: Helft mir doch! Ich will ja gestehen, ich kann es nur noch nicht! Aber ich würde mich dennoch genau so halten wie jetzt, würde fast dieselben Briefe schreiben, die gleiche Ruhe bewahren. Ja, das würde ich! Und die Richter wissen nicht, ob sie dem innersten Drang eines Verbrechers entgegenkommen, wenn sie ihm die Daumenschrauben des Kreuzverhörs anlegen, oder ob sie einen Unschuldigen martern. Nie wissen sie es und können es nie wissen.

Als der Tag der Schwurgerichtsverhandlung angesetzt wurde, war es mit seiner Ruhe vorbei. Er bemühte sich, den näherkommenden Termin zu vergessen. Er sagte sich, daß noch drei lange Wochen dazwischen lagen, aber die Zeit begann ihm zur Qual zu werden.

Er ging stundenlang in seiner Zelle auf und ab. Er versuchte, spannende Kriminalgeschichten zu lesen, sah aber überall quälende Beziehungen zu seiner eigenen Lage. Er zählte die Seiten der Bibel durch, die er in der Schublade gefunden hatte.

Manchmal zählte er sinnlose Zahlenreihen vorwärts, nur um die Minuten zu erwürgen. Am Ende der ersten Woche fing er an zu toben. Er riß die Pritsche herunter, zerfetzte die Matratze, trommelte mit den Fäusten auf den Tisch, brüllte. Zwei Wärter bändigten ihn.

Nach diesem Tag wurde er wieder still und ergeben. Es kamen Stunden furchtbarer Todesangst. Er sah sich von den Henkern unter das Beil gezerrt, hörte das Schwirren des Eisens. Aber er tobte nicht mehr. Hatte er es nicht am ersten Tag, als er hier eingeliefert wurde, vorausgesehen, daß solche Stunden und Tage und Wochen der Qual und Erniedrigung und Erbärmlichkeit kommen würden? Gehörte das nicht zu der Läuterung, die ihm auferlegt war und die er mit klarer Kraft und heiligem Bewußtsein gebilligt hatte?

Diese Vorstellung tröstete ihn. Aber sie durfte von seinen Qualen auch wieder nichts fortnehmen, denn sonst drückte er sich ja um das Schicksal herum, das ihm zugemessen war. Er schüttelte den Kopf vor Verwunderung über die Verworrenheit des Lebens.

Am Ende der zweiten Woche kam plötzlich Wolf van Holten zu ihm. »Freuen Sie sich, Margis!« rief er, noch ganz erregt. »Ich habe eine Entdeckung gemacht, eine ganz fabelhafte Entdeckung, die alles aufklärt. Sie sind gerettet! Daß wir nicht gleich darauf verfielen! Die Sache ist doch so einfach!« Holten hatte entdeckt, wie man in Königsberg sein und zu gleicher Zeit in Klein-Klank morden konnte. Er berichtete mit fliegenden Worten.

Er hatte sich noch einmal nach Königsberg begeben, um sich für die Hauptverhandlung alle Daten und Details ins Bewußtsein zu rufen. Wieder war er im selben Hotel abgestiegen. Merkwürdigerweise – er wußte selbst nicht, wie er dazu kam – hatte er diesmal Glasbergs Bild eingesteckt.

Als er ins Hotel kam, fragte er, nur zur Sicherheit, noch einmal den Portier genau nach den näheren Umständen von Glasbergs Besuch. Der Portier konnte sich nicht mehr recht genau auf die Wochentage besinnen und sah in den Anmeldungen nach. »Zeigen Sie mir doch einmal das Formular her!« bat Holten. Beim ersten Blick wurde ihm klar, daß die Schrift nicht von Mario Glasberg herrühren konnte. Wie ein Faustschlag hatte ihn die Erkenntnis getroffen, aber er bemühte sich nichts merken zu lassen. »Sie sind als Zeuge geladen worden, nicht wahr? Bringen Sie, bitte, bestimmt dieses Formular mit! Es ist von allerhöchster Wichtigkeit. Und schweigen Sie gegen jedermann darüber!«

Dann wies er dem Mann Glasbergs Photographie vor und fragte wie beiläufig: »Kennen Sie übrigens diesen Herrn?« Der Portier konnte sich nicht besinnen. »Ist dies vielleicht Herr Dr. Glasberg?« fragte er noch einmal. »Bestimmt nicht!« antwortete der Portier.

Das gleiche wiederholte sich mit dem Chauffeur des Mietautos, den Holten mit vieler Mühe aufgestöbert hatte. Auch der Chauffeur konnte sich nicht entsinnen, das Bild zu kennen. »Herr Dr. Glasberg aus Serbenitz ist es jedenfalls nicht. Ich habe mir die Züge dieses Herrn ganz genau gemerkt. Denn einmal drehte ich während der Fahrt den Sucher an, um nach einem Wegweiser zu sehen. Herr Dr. Glasberg war ausgestiegen und wurde vom Schein des Suchers getroffen. Dabei sah ich mir sein Gesicht an. Der Herr auf diesem Bilde ist es nicht!«

»Was sagen Sie nun, Margis?«

»Die Sache ist viel zu einfach und wäre viel zu dumm eingefädelt, um stimmen zu können.«

»Aber nein doch! Bedenken Sie, daß es nur durch einen ganz dummen Zufall herausgekommen ist. Hätten Sie mich nicht benachrichtigt und hätte ich nicht sofort eingegriffen, dann hätte nie jemand daran gedacht, an dem Alibi Glasbergs auch nur im geringsten zu zweifeln. Man hat ja nicht einmal vom Gericht aus den Portier und den Chauffeur als Zeugen geladen. Glasberg schaltete doch völlig aus.«

»Weiß er denn, daß der Chauffeur und der Portier als Zeugen geladen sind?«

»Um Gottes willen, nein! Er ahnt es nicht. Er weiß doch, daß er diesen Menschen niemals als Dr. Mario Glasberg begegnen darf. Wenn er zur Verhandlung käme und sähe diese Zeugen, er würde sofort davonrasen. Wir haben sie deshalb auch eine halbe Stunde früher als alle anderen geladen und lassen sie in ein besonderes Zimmer führen, um sie dann mitten in der Verhandlung herauszustellen. Das alles hat der Kollege Hohn von hier hervorragend arrangiert. Der Gerichtshof selbst ahnt nichts von dem Schlag, den wir beabsichtigen.«

Margis holte tief Atem. »Das wäre –«, sagte er, »das wäre!« Er sah völlig klar, daß damit über den Ausgang des Prozesses entschieden war. Aber er mußte sich erst in die neue Lage hineinfinden. »O Gott, Luisa!« rief er aus.

»Wer aber kann der Mann gewesen sein, der an Stelle Glasbergs nach Königsberg gefahren ist? Margis, das müssen Sie wissen! Sie haben Glasberg in dieser Gegend erlebt.«

Aber Margis wußte es nicht. Vielleicht war es sogar Glasbergs Chauffeur selbst gewesen. »So müssen wir auch ihn als Zeugen benennen.«

»Um Gottes willen, nein!« rief Holten wiederum. »Glasberg würde sofort wissen, worum es sich dreht, und ins Ausland fliehen.«

Sie gingen noch einmal die Tatsachen durch. Holtens Entdeckung füllte die bestehenden Lücken aus. Wie war es gewesen? Jedesmal, wenn Glasberg nach Königsberg zu fahren vorgab, hatte er die Nacht in Klein-Klank verbracht. In der letzten Nacht wollte er ganz sicher gehen. Ihm genügte nicht der Portier des Hotels zum Nachweis seines Alibis, er wollte noch einen zweiten Zeugen haben.

Daher bestellte er sich, unter dem Vorwand, daß sein Wagen entzwei war, ein Mietauto aus der Stadt und merkte sich genau die Nummer des Wagens. Das Mietauto fuhr vor, ein Herr stieg ein. Da Dr. Mario Glasberg aus Serbenitz den Wagen bestellt hatte, konnte der Chauffeur gar nicht auf den Gedanken kommen, daß es sich um eine andere Person handelte. Dieser Glasberg-Stellvertreter kommt morgens zurück. Da es heil ist und um diese Stunde auf einem Gutshof besonderes Leben herrscht, läßt er das Auto nicht vorfahren, sondern schickt es von der Chaussee aus zurück. Der Stellvertreter verschwindet, der richtige Glasberg kommt aus Klein-Klank angewandert und geht langsam auf sein Zimmer. Alle Leute können ihn sehen, wie er aus Königsberg zurückkommt. Der Chauffeur, dessen Nummer man sich gemerkt hat, ist Zeuge, daß er Herrn Dr. Glasberg an diesem Morgen aus Königsberg nach Serbenitz gefahren hat. Nun kommt Renate angelaufen, stürzt zu Glasberg hinauf, erfährt von den Dienstboten oder schon auf dem Hof, daß er soeben aus Königsberg zurückgekehrt ist. Sie sieht die Autokappe und den gelben Staubmantel, den sie kennt, noch auf dem Stuhl liegen. Der Stellvertreter hat sie ihm inzwischen übergeben, oder Glasberg besitzt ganz ähnliche Sachen. Vielleicht ist es auch wirklich der Chauffeur, der ja in der Kammer daneben wohnt. So ist es gewesen! Glasberg war vollkommen sicher, wenn es ihm gelang, eine persönliche Konfrontierung mit seinen Alibizeugen zu vermeiden, was schließlich nicht so überaus schwierig war, da ja der Verdacht sofort auf Margis fiel.

»Hören Sie, Margis! Das ist jetzt für Sie eine hochwichtige Entscheidung. Aber schließlich kommen Sie nur aus einer Geschichte heraus, in die Sie durch einen Zufall hineingeraten sind. Aber für mich und Gitta bedeutet es einen Lebensabschnitt. Jetzt sind es bald zwei Jahre, daß wir an Glasbergs Entlarvung arbeiten. Endlich, endlich wird jetzt die ganze Sache aufgerollt werden! Sie ahnen nicht, wie es in mir aussieht!«

»Was sagt Gitta dazu?«

Holten biß sich auf die Lippen. »Ich weiß nicht, ob Sie es verstehen werden. Ich sage Gitta nichts von meiner Entdeckung. Ich weiß nicht, Gitta –« Er machte eine abwehrende Handbewegung. »Es ist etwas mit ihr anders geworden. Ich fürchte geradezu, daß sie Glasberg warnen würde. Nein, Gitta muß vor die vollendete Tatsache gestellt werden. Aber Ihrer Frau, Margis, sage ich morgen vormittag alles. Sie wird sich freuen!«

»Das weiß Gott!« sagte Margis ernst und hatte Tränen im Auge.


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