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Seit sechs Wochen lebte Franz Margis, der Maler, jetzt in dem kleinen Badeort Sankt Lüne. Er genoß das Alleinsein, fern von seiner Frau und den Kindern. Es war herrlich, so losgelöst zu sein, in aller Stille morgens mit einigem Raffinement die Nerven auf die Arbeit einzustellen, dem Bogen nachzugeben, wie er sich gerade spannte: für vier, für sechs Stunden, für den ganzen Tag bis zur Dämmerung.

Dann aber wieder waren die Abende da, mit denen er nichts anfangen konnte. Hin und wieder konnte man spazierengehen, möglichst dem Sonnenuntergang aus dem Wege, den alle Menschen pflichtgemäß bewundern gingen. Ein wenig durch das Gehölz streifen. Aber nicht zu oft, denn diese Mischung von wildem Krüppelholz und sauberer Promenade, diese aufgeputzte Dürftigkeit fiel auf die Nerven. Gleich hinter St. Lüne wurde es anders. Da begann die Steilküste mit den dunklen Wäldern, die auf einmal jäh abrissen und mit weißem Dünenhang zum Meer hinunterstürzten. Aber gerade in St. Lüne konnte er hoffen, diese wundersame Meerstimmung zu fassen und künstlerisch zu bewältigen. Diese großartige Öde von Strandhafer, im Wind frierenden Kiefernstämmen, ohne pathetische Linien, ohne steile Hänge, ohne den Hintergrund dunkelblauer Forsten und fetter Felder mit roten Dörfern darin – gerade das reizte ihn. Gerade deshalb hatte er beschlossen, einmal einen ganzen Sommer lang, ohne Familie, hierherzugehen. Und jetzt war er seit sechs Wochen da und rang mit dieser spröden Landschaft.

Nach dem Abendessen blieb er gewöhnlich in der Hoteldiele an seinem Tisch sitzen, bestellte eine Flasche Mosel, hörte zu, wie die Musiker ihre Instrumente stimmten. Und saß noch immer da, wenn die Tanzerei in vollem Gange war. Eigentlich konnte er auch nichts anderes tun als dasitzen. Oben auf seinem Zimmer hörte er doch jeden Ton: den Baß des getrommelten Klaviers, das Klirren des Schlagzeugs, die winselnden Saxophone und den Schleifschritt der Tanzenden. Es blieb ihm geradezu nichts anderes übrig, als hier bis nach Mitternacht zu sitzen, obwohl er in seiner Isoliertheit an dem kleinen Tisch offenbar eine lächerliche und auffallende Erscheinung war: mit der Weinflasche und später der Mokkatasse, immer das aufgeschlagene Buch vor sich, als wenn man bei dem Lärm hätte lesen können. Das einfachste wäre gewesen, das Hotel zu verlassen und sich irgendein Zimmer zu mieten. Man hätte sogar viel billiger leben können. Aber es war, als ob die Jazzband ihn mit ihren Schlagern faszinierte wie die Schlange das gebannte Opfer. Jeden Tag konnte er sich vornehmen, eine Änderung eintreten zu lassen. Am Abend saß er dann doch wieder an seinem Platz, trank, las und sah auf die tanzenden Paare.

Eigentlich hatte er einen besonderen Anlaß gehabt, gerade nach St. Lüne zu gehen. Zunächst war es der künstlerische Grund gewesen: die eigenartig spröde Landschaft. Aber wieviel Landschaften hatte er schon gesehen, die ihn reizten, und dennoch war er nie für Monate, für ein halbes Jahr dorthin gegangen. Es war etwas anderes gewesen: ein Blick, eine flüchtige Begegnung, kaum eine Begegnung, was ihm im vorigen Frühjahr, als er mit seiner Frau sich ganz zufällig einige Tage hier aufhielt, sofort den Gedanken eingab, für längere Zeit hierherzukommen. Sie waren abends auf dem Wege zum Strandhotel durch die Kusseln gegangen. Ein schmaler Steig führte zwischen den Kiefern hin, so schmal, daß zwei Menschen kaum aneinander vorbeikonnten.

Da war ihnen jene Frau begegnet, die er seither nicht wieder ganz hatte vergessen können. Keine sehr junge Frau mehr, vielleicht fünfunddreißig Jahre oder älter. Schwarzes Scheitelhaar über schmalem Gesicht, Knoten im Nacken. Ein weißes Kleid, und ein schwarzer Schal über die Schultern gelegt. Als sie an ihm vorbeiging, konnte er deutlich sehen, daß sie blaue Augen hatte, die in seltsamem Gegensatz zu ihrem dunklen Haar und dem weißen Gesicht standen. Da sie sich dicht und langsam aneinander vorüberdrücken mußten, hatte er die Gestalt genau ins Auge gefaßt.

Aber es war nicht diese Frau allein. Hinter ihr ging ein Mädchen, ein halbes Kind noch, offenbar ihre Tochter. Und das merkwürdige war, daß sie in allem der Gegensatz zu der voranschreitenden Frau schien. Hellblonder Bubikopf, der wiederum mit schmalen, ganz dunklen Augen kontrastierte. Eine kurze, fast aufgewippte Nase, darunter ein ausdrucksvoller Mund, wie der einer reifen Frau. Und in eigenartiger Weise war der Gang der Tochter voll gespannter Beherrschung gewesen, der der Mutter wie eines halbflüggen Backfisches von berückender Unfertigkeit. Zwei Frauengenerationen gingen da vorüber, von denen die ältere, zwischen den Zeiten stehend, nicht ganz fertig mit sich geworden war, und eine jüngere, die, fast vollendet, mit zwei kräftigen Beinen mitten ins Leben hineinsprang und da war.

Diese beiden Gestalten waren für Franz Margis fast eine einzige gewesen. Er konnte die eine nicht ohne die andere denken, nicht das weiße Kleid der Mutter ohne das dunkelblaue der Tochter. Nicht den schwarzen Haarknoten ohne die blonde Tolle. So war eine Deutung in Richtung auf Verliebtheit nicht gut möglich, und doch fühlte er sich von den beiden auf eine merkwürdige und ganz tiefe Art ergriffen, ohne daß er seiner Frau, die gleich ihm beiseitegetreten war, mit einer Silbe von diesem Erlebnis Mitteilung machen konnte. Luisa hatte von den beiden nicht mehr bemerkt als: eine Dame und ihre Tochter; und ganz unnötig war seine Besorgnis gewesen, sie würde sich der Begegnung erinnern und seinem Plan, nach Sankt Lüne zu gehen, mit Mißtrauen entgegenstehen.

Natürlich war das Ganze nicht mehr als eine Spielerei seiner Phantasie gewesen, ein kleines Raffinement, sich die Landschaft, die er malen wollte, reizvoll zu machen und vor sich selbst die Wiederkehr in diesen Ort energischer zu betreiben. Auch hatte er der beiden Erscheinungen, seit er wirklich wieder in St. Lüne war, kaum mehr gedacht, und nur manchmal beobachtete er sich, wenn er Abend für Abend in der Tanzdiele des Hotels saß, daß er in den Gesichtern nach Ähnlichkeiten suchte und sich sogar für ein Wiedersehen mit den beiden wappnete, wenn er zwischen den Kusseln umherstrich. Gerade sechs Wochen war er in Sankt Lüne, als eines Abends Mutter und Tochter in Gesellschaft eines Herrn in die Hoteldiele eintraten und am Nebentisch Platz nahmen.

Die kleine Gesellschaft war – das hatte er bemerkt – mit einem Auto gekommen. Zuerst war der Herr eingetreten, eine auffallende Erscheinung übrigens, und war geradeswegs auf den zufällig leeren Nebentisch losgegangen. Hinter ihm ging das junge Mädchen, erwachsener als im vorigen Jahr, aber kaum verändert, und dann kam die Frau im weißen Kleid, den schwarzen Spitzenschal über den Schultern. Ihre Mäntel und Hüte hatten sie wohl in dem Auto draußen gelassen. Die Art, wie sie Platz nahmen, war keineswegs geräuschvoll und dennoch auffallend. Nicht so sehr durch das selbstbewußte Auftreten des Herrn und die ruhige Sicherheit des jungen Mädchens als gerade durch die unruhige und ein wenig unsichere Art der Frau, die sich zwischen den Stühlen nicht zurechtfand, erst den einen Platz, dann einen anderen versuchte, aus Verlegenheit mitten in einem Piano der Musik den Kellner heranrief und nach Eis fragte.

Franz Margis wartete, bis die Fremden bestellt hatten. Sekt, und für die Damen überdies Eisbecher. Dann ging er in sein Zimmer hinauf, um sich umzuziehen. Er wollte sich nicht etwa besonders fein machen, aber in Breeches und Sporthemd dazusitzen, erschien ihm nicht mehr ganz passend. Als er nach zehn Minuten herunterkam, fragte er den Hotelier hinter dem Büfett nach der Gesellschaft am Nebentisch. Den Herrn kannte man nicht; die Dame aber war Frau Maria Fenn, Besitzerin des Restgutes Klein-Klank, und das junge Mädchen ihre Tochter Renate. Jedermann weit und breit sollte Maria Fenn und ihre Tochter Renate kennen. Der Wirt schmunzelte sogar ein wenig während seines Berichts.

Maria Fenn! dachte Margis, als er sich an seinen Platz setzte. Maria und Renate Fenn!

Der Herr, etwa dreißig Jahre alt, trug einen Ehering. Er sagte »Gnädige Frau« und »Fräulein Renate«, wie Franz Margis deutlich hören konnte. Ihn redeten die Damen mit »Herr Doktor« an. Eigentlich war der Doktor der interessanteste von den dreien. Eine hohe, trainierte Gestalt, amerikanisch bartloses Gesicht, das braune Haar glatt nach hinten gekämmt. »Klug, energisch und sehr reich!« konstatierte der Maler. »Sportsmann oder Industrieller!«

Das Gespräch ging zwischen dem Doktor und der Tochter, aber Margis spürte, daß die Beziehungen zur Mutter vornan standen. Als ein Blues gespielt wurde, forderte der Herr Maria Fenn auf, zögerte aber einen Augenblick, da die Tochter dann am Tisch allein geblieben wäre. Die Augen der Mutter sahen sich verlegen lächelnd im Saale um.

Franz Margis bewunderte sich selbst, da er sich erhob, zu dem jungen Mädchen trat und sich mit kurzer Verbeugung vorstellte. Der Herr und Frau Fenn tanzten schon, ehe der Maler recht zur Besinnung kam. Das Mädchen stand auf und nahm seinen Arm, aber ihre Miene verbot ihm, ein Wort zu sagen. Wozu auch? dachte er. Renate tanzte genau, wie er es sich gedacht hatte. Obwohl sie kunstgemäß seiner Führung folgte, sich jedem Einfall anpaßte – Margis war Eigentänzer, wie er es nannte – schien sie dennoch weitab. Eigentlich bist du eine dumme Gans, dachte er, daß du dich gar nicht darum bekümmerst, mit wem du tanzt. Mit einem, der einen Namen hat, Beste! Dessen Bilder in allen großen Galerien hängen. Es ist keine besondere Herablassung, wenn du mit mir tanzt, kleines Mädchen!

Renates Augen suchten die Mutter. Manchmal lächelten beide Frauen sich beim Tanzen zu. Margis kam es vor, als machten sie sich über ihn lustig und als ginge Frage und Antwort zwischen den beiden hin und her. Eigentlich war er froh, als der Tanz zu Ende war und er Renate an ihren Platz führte. Dennoch, jetzt merkte er, wie diese Begegnung ihn erregte. Durch sie bekam sein Aufenthalt erst einen Sinn. Bisher war alles unbefriedigend gewesen. Jetzt schürzte sich ein Erlebnis. Eigentlich wollte er kein Erlebnis, wollte nur die beiden Frauen zusammen sehen, was ihn auch jetzt wieder seltsam und ganz tief berührte. Der schwarze Scheitel der Mutter, der blonde Schopf Renates! Wenn er von seinem Buch aufsah, konnte er allen dreien ins Gesicht blicken, weil sie im Halbkreis um den runden Tisch saßen. Aber der interessanteste war der Mann.

Es war kaum anders möglich, als daß dieser »Doktor« Abenteuer in Hülle und Fülle erlebt hatte. Dabei war das Gesicht aber wie das eines Kindes geblieben. Vielleicht Forschungsreisender? dachte Margis. Einer jedenfalls, bei dem Abenteuer mit Löwen, wilden Völkern und Frauen keine problematische Zerrissenheit zurücklassen, der sie wieder abschütteln und von neuem anfangen kann. Ein bildschöner Kerl!

Ab jetzt ein Boston kam, warf der Herr einen Blick zu dem Maler herüber, und erst, als Franz Margis sich aufzustehen anschickte, forderte er das junge Mädchen auf. Margis stand vor Maria Fenn.

»Es ist nett von Ihnen, daß Sie unsern Kreis ergänzen,« sagte sie. »Eigentlich wollten Sie lesen?«

Er wollte aber nicht lesen, erklärte ihr, daß sein Zimmer über der Diele läge. Kein Gedanke daran, daß man einschlafen könne, solange die Musik spiele.

Sie fand es sonderbar, daß er allein in St. Lüne lebe.

Er arbeite, male. Die Landschaft interessiere ihn.

Ob er ein berühmter Maler sei? Sie hätte seinen Namen nicht verstanden. Er wiederholte ihn, aber sie hatte noch nie von ihm gehört.

Sie standen noch immer zwischen den Tischen. Auf einmal erklärte Maria Fenn, nicht tanzen zu wollen. »Nehmen Sie es mir sehr übel? O bitte, nein!« Sie hielt ihn zurück. »Leisten Sie mir Gesellschaft! Oder wollen Sie allein sein?«

Er fand sie nervös. Während sie sprach, folgten ihre Augen der Tochter, die mit dem Doktor tanzte. O mein Gott, dachte er, hier haben sich Mutter und Tochter in den gleichen Mann verliebt! – Man konnte keine rühmliche Rolle dabei spielen. Trotzdem setzte er sich an den Tisch, ärgerte sich zugleich, daß er nun mit dem Rücken gegen den Saal sitzen mußte, und überhaupt –. Der Wirt schien erfreut, daß sein Gast Gesellschaft gefunden hatte; er kam selbst vom Büfett herbei und trug ihm Flasche und Glas nach. Dabei lächelte er wieder wie vorher bei seiner Auskunft. Was hatte man über Maria Fenn zu lächeln? War sie vielleicht eine ortsbekannte Kokette?

»Wohl bekomm's!« sagte der Wirt. Er hatte ihm eingeschenkt und entfernte sich. Die Dame fragte ihn, ohne zuzuhören, nach Herkunft und Familie. Er ärgerte sich, daß man ihm die Flasche nachgebracht hatte. Eigentlich wollte er hier nur sitzen, solange die beiden andern tanzten. Es war sogar unschicklich von ihm, sich hier niederzulassen. Er hätte die Flasche zurückschicken sollen. Nun stand sie großspurig auf dem Tisch, eine einfache grüne Flasche, neben den Eisbechern und den drei Sektgläsern. War Frau Fenn erstaunt gewesen, daß er sich so plötzlich an ihrem Tisch anbaute?

»Um Gottes willen, gnädige Frau! Ich habe es gar nicht gesehen. Der Wirt –. Ich will durchaus nicht stören.« Sie schien ihn nicht ganz zu verstehen. In diesem Augenblick war der Tanz zu Ende. Der Doktor und Renate kamen an den Tisch, ein wenig verwundert, den Fremden vorzufinden. Renate schien über das Ungeschick ihrer Mutter zu lächeln. Margis erhob sich. Maria Fenn stellte vor, nannte Herrn Margis, ihre Tochter Renate und Herrn Dr. Mario Glasberg.

»Glasberg?« fragte Margis erstaunt und dachte an die berühmte Industriedynastie. In welche Gesellschaft war er geraten!

Der Doktor zeigte sein sympathisches Lachen. »Es ist jedesmal dasselbe,« sagte er fröhlich. »Jawohl, von den Glasbergs aus Leynhausen! Kohlen, Stahl, Eisen, Truste, Banken, was Sie wollen. Aber nur ein simpler dritter Sohn, ganz bescheidener Doktor der Chemie.«

Mario Glasberg! Wo habe ich den Namen schon gehört? durchfuhr es den Maler. – Glasberg fragte ihn nach seinem Beruf, ließ sich den Namen noch einmal nennen. Im Augenblick waren sie im Gespräch. Er kannte Margis' Pietà in der Hamburger Kunsthalle, dieses kolossal angelegte Werk, das seinen Ruf begründet hatte. Die drei Eifellandschaften, die in Frankfurt hingen.

Ein reizender Kerl, dieser Industriellensohn! Ein wenig zu liebenswürdig vielleicht! empfand Margis. Seltsam, noch vor einer halben Stunde war ihm Sankt Lüne gleichgültig gewesen, und jetzt saß er hier auf einmal mit den Damen Fenn und einem wirklichen Glasberg zusammen. Wo habe ich von Mario Glasberg schon einmal gehört? Nur konnte er nicht daraus klug werden, ob er das Trio störte oder wirklich willkommen war.

Die beiden Frauen sprachen kaum mehr, um so lebhafter der Doktor. Er schien alle Welt zu kennen, Margis und er hatten im Handumdrehen eine Reihe gemeinsamer Bekannter. Ein Zufall, daß sie sich nicht längst begegnet waren.

»Kennen Sie van Holten,« fragte Margis, »den Rechtsanwalt? Ich glaube, van Holten hat mir von Ihnen gesprochen.«

»So!« antwortete Glasberg kurz und wendete sich ab. Frau Fenn wollte sich ins Gespräch mischen, aber dem Maler fuhr es bereits heraus: »Natürlich! Jetzt weiß ich's: van Holten hat Ihr Bild auf seinem Schreibtisch stehen!«

Er bemerkte nicht, daß Glasbergs Miene eisig wurde und die Damen sich verstörte Blicke zuwarfen. Die Musik setzte mit einem Charleston ein. Renate sprang wie erlöst auf und winkte dem Maler zu: »Tanzen Sie Charleston?«

»Das nicht,« bekannte er. »Aber wir können steppen.«

Während des Tanzes sprach sie wieder kein Wort. Als ob sie eine Pflicht erfüllte, schwebte sie in seinen Armen, ein wohlfunktionierender Mechanismus, dem leisesten Druck gehorchend, aber ohne Seele, steinhart das Gesicht, die Augen niedergeschlagen. Auf einmal sagte sie, ohne daß ihre Miene sich geändert hätte: »Sprechen Sie nie wieder jenen Namen aus!«

»Welchen Namen?« fragte er erstaunt.

»Van Holten!«

»Ich verstehe nicht.«

Sie sagte nichts mehr. Die Musik hörte auf, er führte Renate zum Tisch zurück. Im Augenblick merkte er die verwandelte Stimmung. Maria Fenn sah verlegen vor sich nieder. Glasberg war bereits im Begriff zu zahlen und ganz mit dem Kellner beschäftigt. Der Chauffeur stand in der Tür. »Wir kommen!« winkte der Doktor ihm zu.

Warum dieser plötzliche Aufbruch? dachte Margis. Natürlich täuschte er sich, aber es wollte ihm vorkommen, als ob die Erwähnung jenes Namens eine kleine Panik zur Folge gehabt hätte. Glasberg reichte ihm die Hand, die Damen nickten ihm wie in Verlegenheit zu. Nicht einmal »Auf Wiedersehen!« wurde getauscht. Die drei gingen hinaus, wie sie gekommen waren, nicht geräuschvoll, aber doch auffallend. Voran Mario Glasberg, dann Renate und Maria Fenn als letzte. Wie ein Traum war das alles gewesen.

Franz Margis faßte sich an die Stirn. Nun saß er allein an dem großen Tisch. Hatte er eine Taktlosigkeit begangen? War es vielleicht, weil er sich überhaupt zu fremden Menschen an den Tisch gesetzt hatte? Aber Frau Fenn hatte ihn dazu aufgefordert! Das konnte es unmöglich sein. Glasberg war sogar entschieden froh gewesen, seine Gesellschaft zu finden. Bis jener Name fiel.

Van Holten, Rechtsanwalt van Holten! Weshalb durfte man diesen Namen nicht aussprechen? Oder war der plötzliche Aufbruch nur ein Zufall gewesen? Van Holten war ein durchaus einwandfreier Mann, der sich durch einige große Prozesse einen Namen gemacht hatte. Und Margis hatte wirklich die Photographie Glasbergs auf van Holtens Schreibtisch gesehen. Jetzt besann er sich sogar ganz genau darauf. Eine in die Brüche gegangene Freundschaft? »Sprechen Sie nie wieder diesen Namen aus!« hatte das junge Mädchen gesagt.

Auf einmal fiel es ihm ein: Dr. Mario Glasberg, Sohn des berühmten Leynhausener Trustkönigs! Richtig, da war diese Geschichte gewesen, eine ganz rätselhafte Geschichte, die durch die Blätter gegangen war und über die man vor einigen Jahren viel geredet hatte. Wie war es doch gewesen? Hatte dieser Mario Glasberg nicht eine Frau gehabt? Oder war es eine Geliebte gewesen?

Plötzlich fiel dem Maler sogar der Name ein, brach aus ferner, dunkler Erinnerung hervor: Susi Streicher, die süße Susette Streicher, aus der berühmten Schauspielerfamilie! So war es gewesen: Heirat gegen den Willen der Eltern, abenteuerliche Entführungsgeschichte, ein Jahr lang Leben in Saus und Braus, und dann, urplötzlich, hatte sich die junge Frau, die süße Susette, das Leben genommen, aller Welt zur Überraschung.

Was war damals alles geredet worden? Einfluß des allgewaltigen Trustmagnaten! Sogar von der Liebe eines Prinzen hatte man gesprochen, vor der die süße Susette sich schließlich in den Tod flüchten mußte. Mein Gott, war das damals eine Aufregung an den Künstler- und Schauspielerstammtischen gewesen! Alle kannten Susi Streicher von der Bühne her. Sie hatte ein Jahr lang in Berlin gespielt. Dann war sie an irgendeine Hofbühne im Reich gegangen, irgendwo in der Nähe von dem Industriereich der Glasbergs. Weimar, Meiningen oder Koburg? Oder war es Leynhausen selber? Es konnte Leynhausen gewesen sein. Irgendein Herzog oder regierender Graf saß dort in der Nähe. Ein emeritierter Fürst, der natürlich nichts neben den Glasbergs bedeutete. In dieser Atmosphäre hatte sich das Drama angesponnen. Natürlich: Dr. Mario Glasberg!

Franz Margis war in sein Zimmer hinaufgegangen und stand am Fenster. Jenseits der flachen Dünen lag das Meer und sandte sein immerwährendes Donnern herüber. Wie konnte man nach solcher Tragödie dieses Knabengesicht behalten? dachte er. Er sah die klaren, energischen Züge des Chemikers zum Greifen deutlich vor sich. Das also war der Mann der vergötterten Susette Streicher gewesen! Ein ganz junger Mann, der anscheinend erst zu leben anfing, der die furchtbaren Erinnerungen längst wie ein Knabenerlebnis abgeschüttelt hatte. Und dieser Mann fuhr jetzt im Auto mit Maria Fenn und ihrer Tochter durch die Nacht.

»Eifersüchtig?« fragte Margis sich selber. Wie konnte er eifersüchtig sein! Dieser Mario Glasberg war einer der Halbgötter der Erde. Was konnte er, der ringende Maler, der in Berlin eine Frau und drei Kinder hatte, neben Mario Glasberg für Frauen bedeuten? Aber seltsam war dieses Zusammentreffen!

Mit einem Seufzer legte er sich ins Bett, obwohl die Klänge der Jazzband von unten heraufdrangen.


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