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Das Natternrecht

Karl der Große war der beste Richter, den je ein Auge sah, umjubelt von Dankbarkeit, wo immer er Gerichtstag hielt. An jeder Stätte, wo er weilte, pflegte er eine große Glocke aufrichten zu lassen, um der Armen willen, damit sie sie läuteten, wenn ihnen Unrecht widerfahren war. So oft dann die Glocke erklang, dachte er an den Zorn und das Gericht Gottes, und richtete weise und gerecht.

Eines Tages nun, als er bei Tische saß und ein reiches Mahl mit Hühnern und Fischen aufgetragen war, hörte er laut die Glocke ertönen. »Dies wird ein Armer sein«, sprach er, »dem irgend Leides geschehen ist. Aber ich will ihm Recht verschaffen, bei meinem Leben, es sei nun Mann oder Weib.« Sogleich gingen die Hüter hinaus, um nachzusehen, wer Recht vom Könige begehre, aber sie erblickten niemand, weder Weib noch Knecht. Dies sagten sie dem Könige an, da erscholl die Glocke zum zweiten Mal. »Geht nochmals hin«, sprach Karl, »und bringt Ihr mir nicht den Mann, der dort in Nöten läutet, so sollt ihr bei Gott des Todes sein!« Die vier Leute, die zu Hütern der Glocke bestellt waren, eilten darauf hinaus, sahen sich nach allen Seiten um und bückten sich, ob sie nicht etwa jemand zu entdecken vermöchten, aber so viel sie auch hier und dorthin spähten, es war kein Mensch ringsum zu finden. So gingen sie denn wieder vor den König und sprachen: »Wir sehen niemand, der die Glocke geläutet hat.« Kaum aber war das Wort heraus, so ertönte das Läuten zum dritten Male. Wieder schwur der König ihnen den Tod, wenn sie ihm den Mann nicht brächten; da gingen die vier bebend hinaus und klagten, daß ihnen um nichts der Tod bestimmt sei. Da sah einer von ihnen in die Glocke hinein und gewahrte darin eine lange Natter, die sich um den Klöppel geschlungen hatte, daß die Glocke davon zu schallen begann. Da drangen sie vor den König: »Ist es jemand«, rief dieser, »dem Schaden angetan wird, so führt ihn vor mich her, damit ich Gericht darüber halte!« »Herr«, erwiderten die Hüter, »wir haben niemand gesehen als eine große Natter, die sich um den Schwengel geschlungen hat und ihn stoßend schwingt. Es ist gar ein greulich Untier.« »Dies ist ein Gotteswunder«, erwiderte Karl, »vielleicht trauert sie, weil ihr ein Leid geschehen, das sie mir klagen möchte. Tut auf die Tür, laßt sie herein, ich muß sehen, was Gott mit ihr vor hat und wie es um sie beschaffen ist!« Da kroch die schreckliche Natter ohne Furcht von der Glocke herab und schlängelte sich bis an die Tür. »Laßt sie herein«, sprach der König, »ihr Gang ist schleichend, was mag sie begehren?« und verbot aufs strengste, sie zu verfolgen oder ihr ein Leid anzutun. »Sagt an. Ihr Herren«, rief er, »was beginnt sie?« »Sie geht auf Euch zu!« sprachen diese, »nun legt sie sich zu Euren Füßen hin.« Da sagte der König: »Kein Zweifel, sie begehrt Gnade und will Gericht von mir und daß ich ihre Not schlichte. So gebiete ich dir denn, mir deinen Kummer zu offenbaren! Bei Gott, dem nichts verborgen ist, tu mir zu wissen, welch ein Leid dich betrübt!« Da kroch die Natter wieder aus dem Zimmer und die vier Hüter mußten ihr folgen, das Wunder zu schauen. Langsam schlich sie in einen Baumgarten bis in ein dichtes Dornicht, wo kein Mensch ringsum zu sehen war. Das zerwarfen die vier Hüter und erblickten nun eine Kröte, wie sie breit auf den Eiern der Natter lag, dem Tier zu Leide. Da ward die Kröte vor den König gebracht und sogleich gerichtet, indem man sie mit einem Spieße durchstach.

 


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