Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI

Die mündliche Entschuldigung

Als der Wagen vorfuhr, lief das ganze Lokal zusammen: »Sie kommen – sie kommen«, pflanzte sich der Ruf fort. Onkel Karl überlegte, ob er den Wagen deshalb nicht besser durch das Gartenportal bis vor das Haus fahren lassen solle, aber da wurde der Schlag schon aufgerissen, und Frau Lemke – ganz aufgelöst – fragte: »Haste'n denn ooch wirklich, Karrel?«

»Hia bring ick dia deen Kind«, und Onkel trat schlicht und bescheiden zurück, um das Wiedersehen zwischen Mutter und Sohn nicht zu stören. Zu Herrn Lemke aber, an den sich die kleine Liese klammerte, und zu den spalierbildenden Gästen gewandt, sagte Onkel: »'n bißken dreckich sieht er zwar aus, aba heil is'r. Na – ick kann nua saren, die zehn Tala möcht ick mia nich noch mal vadienen. Willem, den Kutscha mußt du bezahlen.«

Und dann trat er zu Frau Lemke, die den Jungen noch immer an sich drückte, tippte ihr zart auf die Schulter und sagte ernst: »Nu sacht nischt, und nu fracht ihn nischt – Edwin muß jetz int Bette und schwitzen, wat er schwitzen kann!«

»Meen Jott, meen Jott«, stammelte Frau Lemke, und ihre geängstigten Augen suchten auf den Gesichtern der Umstehenden zu lesen, während sie Haar und Anzug ihres Sohnes betastete: »... Denn is a also doch int Wassa jefallen jewesen?«

»Nee – ick hab ihn schon berochen, bloß seene Hände stinken 'n bißken nach Kanal«, sagte Onkel, »beruhje dia doch man, Anna, schwitzen is imma jut, da kommt allet raus!«

Frau Lemke ließ Edwin los und wandte sich zu Onkel: »Ach – ick bin ja so jlicklich, so jlicklich! Karrel –«, sie faßte nach seiner Hand, »Karrel, ick danke dia ooch!«

»Bitte schön!« sagte Onkel Karl.

»Wenn wia dia nich jehabt hätten ...«, schluchzte Frau Lemke, »wer weeß, wie denn allet aussähe!«

»Ick sah nehmlich die Schultasche schwimmen«, erläuterte Onkel Karl die Situation den Umstehenden.

»Ja, det haste fein jemacht, Karrel«, sagte Herr Lemke, der vor Bewegung kaum ein Wort hervorbringen konnte. »Nu wissen wia erst, wat wia an dia haben!«

Onkel Karl wehrte sanft ab: »Nich so ville uff eenmal, Willem, du weeßt, denn krieje ick den Knoten in'n Hals. Ick habe ja doch bloß meene Flicht und Schuldichkeet jetan, wahr, meene Herrschaften?« Und er streckte die Hände aus und ließ sie sich drücken.

»Liesken, jib Onkeln 'n Kuß, er hat dia deen Bruda wiedajebracht«, ermunterte Herr Lemke das Töchterchen.

»Laß man, Liesken, mit deene kleene Sabbaschnauze, det schenk ick dia, wia machen uns alle beede nischt draus. Die Dankbarkeit wird erst später kommen, wennste die volle Insicht jekricht hast. Und nu, meene Herrschaften, wollen wia uns wieda jruppieren.«

Frau Lemke hatte dann Edwin ins Haus gebracht, die Gäste kehrten an die Tische zu ihrem Weißbier zurück, und die Aufregung legte sich allmählich. Onkel Karl, um den sich ein engerer Kreis von Bewunderern gebildet hatte, gab nun eine ganz ausführliche Schilderung des ereignisreichen Tages. Frau Lemke, die hinzukam, unterbrach ihn aber und sagte mit sanftem Vorwurf:

»Det arme Kind is janz hin und fantasiert schon, det wird ne beese Nacht werden!«

»Ick wußte ja, det wat nachkommen wirde«, sagte Onkel Karl wehmütig und resigniert, »nich bei Edwin, aberst bei mia. Ick hatte mia die Uffjabe jestellt, ihn tot oda labundich herzuschaffen, und wenn ick'n halbtot herjeschafft hab, is mia die Uffjabe jlänzend jelungen. Aba ick ärjere mia nich, i bewahre, so blau! Bloß jut, det ick die zehn Tala habe – jetz wirde ick se ja nich mehr kriejen!«

Er stand auf, schlenkerte mit der Hand, sah nach dem Himmel und sagte plötzlich: »Wennste willst, jeb ick dia det Jeld ooch wieda zarick – et jenücht mia, det ick vor mia selbst jerecht dastehe.«

»Wer red denn von det Jeld, mach doch keene Jeschichten«, sagte Herr Lemke, »Mutta meent det ja nich so, Karrel!«

Aber er war beleidigt, und mit belegter Stimme sagte er: »Jute Nacht, meene Herrschaften, anjenehme Ruhe!« – und entfernte sich, trotzdem man ihn zurückzuhalten versuchte.

In seinem kleinen, kajütenähnlichen Stübchen stopfte er sich dann eine Pfeife, zog sich die Sachen vom Leibe und suchte sein Feldbett auf. Dort lag er, qualmte, daß ein anderer in dem Rauch erstickt wäre, und dachte darüber nach, wie er der Welt seine Selbstlosigkeit beweisen könnte. Die Ovationen, die ihm heute zuteil geworden, hatten außerdem den Wunsch nach einer Wiederholung in ihm erweckt – es war so angenehm, gefeiert zu werden. Seinetwegen hätte Edwin morgen schon wieder verschwinden können, er würde ihn mit Vergnügen eingefangen haben.

Am nächsten Morgen wurde ihm dann eine Anerkennung zuteil, die ihn mit der Welt wieder aussöhnte. »Onkel Karrel«, sagte Frau Lemke, »uff so'n Entschuldjungszettel kann man det janich allens ruffkriejen. Du mußt mit Edwin nach die Schule jehen und den Lehra det allet ausenanderpolken, det er det Kind nich vakeilt. Denn seh ma', wia könnten ja janz eenfach schreiben: wejen Bauchschmerzen, aba nu is doch Vata jestern in die jroße Uffrejung bein Rektor jeloofen, und der weeß doch nu, det Edwin jeschwänzt hat!«

»Laß mia man machen, Anna«, sagte Onkel Karl, »ick werd's schon deichseln!«

»Mach dia aba recht proppa, Karrel, det der Lehra keen schlechten Bejriff von uns kricht!«

»Na ja – ick seh ja so vakommen aus; wenn man erst wieda Winta wär, det ick meene Pelzmitze uffsetzen könnte, mit die repräsentiere ick doch noch wat, da kommt der scheenste Zylinda nich jejen an«, sagte Onkel Karl voll Genugtuung.

Und dann ging er – eine halbe Stunde später –, Edwin an der Hand führend, am Kanal entlang nach der Schule. »Wenn wia an die Stelle kommen, woste dia jestern jelagert hast, zeichste se mia!« Das tat dann Edwin auch, und Onkel sagte: »Ick werd uff alle Fälle ne Kerbe in den Boom hia schneiden, man kann nie nich wissen!«

Als dann das große rote Gebäude in Sicht kam, nahm Onkel ein sehr feierliches Benehmen an. Auch Edwin ermahnte er dazu und gab ihm einen Knuff in den Rücken: »Halt dia jrade, Junge, brauchst keene Bange nich zu haben, wenn ick bei bin!«

Sie stiegen, angestaunt von den Schulkindern, die steinernen Treppen hinauf und warteten vor der Klassentür, hinter der es wie in einem Bienenkorb summte.

»Ick krieje sonne furchtbaren Leibschneiden«, sagte Edwin weinerlich.

»Det mußte dia vakneifen lernen«, sagte Onkel Karl, »ick hab ooch Bauchschmerzen, aba merkste mia wat an? Welchet is denn nu deen Lehra?«

»Der da mit den Bart«, sagte Edwin, auf eine Gruppe von Herren zeigend, die am Flurfenster standen und sich unterhielten.

»Wie heeßt er – Neumann? Na, denn watte mal«, sagte Onkel Karl, ging ein paar Schritte auf die Herren zu, winkte geheimnisvoll mit der Hand und machte: »Pssst, Pssst, Sie – Ha Neimann, kommen Se doch mal 'n Oogenblick her!« Und durch eine verheißungsvolle Miene deutete er dem Lehrer an, daß es Herr Neumann nicht bereuen werde, wenn er dieser Einladung Folge leistete.

Doch – die Herren da am Flurfenster schienen es für ratsamer zu halten, Onkel Karls befremdliche Existenz zu ignorieren, und sie hätten es gewiß auch gern getan, wenn es sich nur hätte machen lassen. Aber Onkel Karl, der Herrn Neumann wegen der Brille für zu kurzsichtig hielt, gebärdete sich durch sein Armschwenken so auffällig, daß man mit Recht erwarten konnte, er werde in der nächsten Minute radschlagen.

Und so kam, wenn auch mit nötiger Vorsicht, der Lehrer näher – und da Onkel Karl mit gekrümmtem Zeigefinger noch immer winkte – ganz nahe heran. »Nehmlich – ick bin 'n Vawandta von den Kleenen da ...«, sagte Onkel Karl, sich zu des Lehrers Ohr beugend und dann mit einem Zurückschnellen des Kopfes auf Edwin zeigend.

»So ...?« Der Lehrer schien durch ein paar rasche Blicke die Ähnlichkeit zu prüfen.

»Et is keene vorhanden«, sagte Onkel Karl, »nehmlich, Edwin is 'n Siebenmonatskind. Und Se wissen ja – Ha Neimann«, setzte Onkel Karl vertraulich hinzu, »denn kommt die eejentliche Rasse erst später zum Durchbruch. Sie werden det ja aus die Naturjeschichte wissen – denken Sie bloß mal an die Kaulquabben, und det werden doch denn nachher janz rejuläre Padden.« Und nachdem Onkel Karl durch diese Beweisführung seine Verwandtschaft und die Berechtigung seines Auftretens nachgewiesen hatte, hielt er sich mit Einleitungen nicht länger auf. »Se derfen den Kleenen nich dreschen, desterwejen bin ick mitjekommen – Se kriejen's nehmlich sonst mit mia zu tun ...«, sagte er.

»Erlauben Sie mal –«, wollte der Lehrer unterbrechen, aber Onkel Karl schüttelte den Kopf und legte Herrn Neumann gewichtig die Hand auf den Arm: »Sehen Se mal, ick bin ne sanftmietje Natur, aba wenn man eenen Lewen seen Junget vakeilen will, denn wird, wat sozusagen der olle Lewe is, ooch witend. Det werden Sie ja aus die Naturjeschichte wissen, wahr? Also – tippen Sie den Kleenen ooch nua so mit den Zeijefinga an«, Onkel Karl fuhr sanft über Herrn Neumanns Ärmel, »denn sind Sie morjen frih Appelmus!«

Der Lehrer war so verblüfft, daß er kein Wort herausbrachte, und als er dann auffahren wollte, ließ ihn Onkel Karl nicht mehr zu Worte kommen: »Wenn Sie aba recht freindlich zu den Kleenen sind, denn lade ick Sie hiermit in – Se wissen schon – bei Lemkens ans Scheeneberjer Ufa. Denn werd ick Ihn'n ooch allet janz ausfiehrlich azehlen – jetz ha' ick nehmlich keene Zeit nich mehr!«

Und sich zu Edwin wendend und ihn heranwinkend, setzte Onkel Karl hinzu: »Kannst dreiste mitjehen – er derf dia nischt mehr tun!«


 << zurück weiter >>