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Zweiter Teil

Die Sache macht sich!

I

Landsberger Straße 136a

Ein schöner Sommertag mit all dem frohen, geräuschvollen Treiben, das sich dann in Berlin zu entwickeln pflegt. In den ersten Nachmittagsstunden begannen ganze Karawanen durch die Straßen zu ziehen, die Omnibusse, die über das holprige Pflaster rasselten, waren dicht besetzt, die Pferdebahnkutscher mußten fortwährend klingeln, um die Geleise frei zu bekommen, und auf dem Fußsteig wimmelte es von Kinderwagen, die von geputzten Müttern geschoben wurden.

An solchen Tagen, da alle Welt ins Freie, ins Grüne drängte, blieb es in der Gaststube des Lemkeschen Bierlokals ziemlich still. Die wenigen Stammgäste, die sich heute eingefunden, saßen hinten in der großen, dämmrigen Stube, waren vorläufig versorgt, spielten jetzt ihren Skat, und Herr Wilhelm Lemke konnte sich daher unbesorgt einen Stuhl vor den Eingang setzen, um nun auch ein bißchen frische Luft zu schnappen.

Er rauchte dabei seine Zigarre, blickte bald nach links, bald nach rechts die Landsberger Straße hinunter, manchmal auch, wenn der schrille Schrei der Schwalben gar zu laut wurde, hinauf nach dem flimmernden blauen Himmel. Und zu seiner Beruhigung stellte er dann fest, daß noch immer kein Wölkchen zu sehen war und daß also doch kein Gewitter kommen werde, obwohl es wetterkundige Leute schon am frühen Morgen mit aller Bestimmtheit angekündigt hatten.

Wer aus der Nachbarschaft vorüberkam und Herrn Lemke da sitzen sah, grüßte ihn freundlich, und er dankte, durch ein etwas schwerfälliges, wohlwollendes Nicken.

»Der Mann wird zu dick, der sollte sich ein bißchen mehr Bewegung machen«, sagten dann die Leute wohl, wenn sie außer Hörweite waren, und in der Art, wie sie es sagten, lag eine gutmütige Besorgnis, daß Herrn Lemke der reichliche Fettansatz doch schädlich werden könnte. Nun ja, es war ja richtig, Herrn Lemkes Hals war ein bißchen sehr kräftig geworden und ließ sich kaum noch in einen Kragen zwängen, aber sonst genierte ihn sein Fett nicht weiter; die Weste ließ sich ja jederzeit aufknöpfen, und die Beinkleider waren weit und bequem gemacht, daß sich der »dicke Gastwirt«, wie man ihn wohl auch nannte, noch immer ohne jede Besorgnis bücken konnte.

»Na, Herr Lemke, sind Se wieder mal alleene?« Der Zigarrenhändler von der Ecke war zu ihm getreten und schüttelte ihm die Hand.

»Mutta is draußen in Scheeneberch!« sagte Herr Lemke und sah den Nachbar prüfend von oben bis unten an, als gedenke er sich auch solch einen salz- und pfefferfarbigen Anzug machen zu lassen und wolle sich den Schnitt merken.

»Na ja – bei dem Wetter!«

Und damit war die Unterhaltung vorläufig erschöpft, und Herr Krause hatte sich dadurch nur das Recht gesichert, neben Herrn Lemke zu stehen und mit ihm die vorübergehenden Leute zu betrachten.

»Det zieht nu allens nach'n Hain«, sagte der Zigarrenhändler, um das Gespräch wieder in Fluß zu bringen, »det muß doch da schon kribbeln und wibbeln!«

»Nach'n Friedrichshain?« Herr Lemke sah den Nachbarn überlegen an und schüttelte dann den Kopf. – »Nee, da irren Se sich!«

»Na, wo denn sonst hin?«

Herrn Lemke schien es nicht recht lohnend, dem anderen volle Aufklärung zu geben. Aber dann bequemte er sich doch dazu: »Wissen Se, wo die olle Windmihle steht, wo die Patzenhofer-Brauerei is – da sind doch lauter Järten! Na – und denn weiter uffs Feld!«

»Uffs Feld?« fragte Herr Krause zweifelnd.

»Se missen ooch mal sonntachs Ihre Kabuse zumachen«, sagte Herr Lemke, »sich de Stiebeln anziehen und rausjehen. Ick bin erstaunt jewesen, wie sich det da vaändert hat. Da buddeln se und machen se – eener hat mit anjefangt und sich ne richtje Laube jebaut, und nu wollen alle eene haben. Det is da wie in Amerika bei die Farmers, bloß det noch keene Löwen da sind, aba die werden se sich wahscheinlich ooch noch besorjen, se sind ja wie toll und varickt!«

»Is ja nich wahr, Se machen man bloß Spaß, Herr Lemke. Wenn der Schangdarm kommt, missen se doch runta, und denn is doch allens for umsonst jewesen!«

»Aber woso denn, det is doch vapachtet, rejulär vapachtet, da derf jeder machen, wat er will.«

»Na«, sagte Herr Krause und kratzte sich bedenklich hinterm Ohr, »würden Se det tun, Herr Lemke? Ick tät's nich!«

»For jeden is det ooch nich, da muß man die Kräfte ßu haben«, sagte Herr Lemke mit einem abtaxierenden Blick auf den mageren Nachbar, »aba wat meen Onkel Karrel is, der is feste mit bei, der is imma, wo wat los is!«

»So?«

»Ja«, sagte Herr Lemke, bei dem Gedanken an diesen Onkel Karl ganz lebhaft werdend, »der macht allens mit. Frieher hat er sogar mal 'n Jesangvaein jejründet, der hieß ›Blaue Kaffeetiete‹, denn hat er sich uffs Angeln jelecht, aba man bloß Plötzen jefangen, und nu is er uff de Tauben vasessen. Die zichtet er – wissen Se –, et kommt ihm druff an, ne janz varickte Sorte rauszukriejen, wie se keen andrer Mensch hat!«

Und Herr Lemke, der ins Erzählen gekommen war, hatte in seiner Begeisterung gar nicht gemerkt, daß sich die kleine, vertrocknete Gestalt Tante Maries an der Tür gezeigt hatte. Jetzt stieß ihn Herr Krause an: »Se werden jewunken, Herr Lemke!«

»Pscht – Willem, willste nich Kaffee trinken kommen?« fragte Tante Marie nun mit freundlicher Betulichkeit, als sie merkte, daß sie nicht störte.

»Bei die Hitze – nee, Tante, lieberst nich! Willste dia nich aba bei uns setzen und deene Tasse mitbringen? Du kannst doch ville besser Onkel Karrels Zicken azehlen.« »Nee, lieba janich dran denken«, sagte Tante Marie abwehrend, »man kann bloß froh sind, wenn man nischt von ihn hört – det is eener, na!«

Und als sie sich dann auf die Schwelle gesetzt hatte, die Kaffeetasse im Schoß haltend und ab und zu ein Schlückchen nehmend, sagte sie: »Wir hätten 'n bißken sprengen sollen, Willem, et stoobt doch!« Aber im nächsten Augenblick sprang sie auf, riß ihr graues Wolltuch von der Schulter und bedrohte, furchtbare Zischlaute ausstoßend, einen Teckel, der sich der Tür genähert hatte.

»Diese verdammten Teelen«, sagte sie, wie zur Entschuldigung ihres aufgeregten Wesens, »imma an den Oljanda – wie sieht der arme Boom nu schon aus!«

»Da kann man nischt jejen machen«, sagte Herr Krause, »frieher hab ick ma driber ooch so jeärjert, hab allet möchliche jestreit, selbst Schnupptabak – et hat nischt jenutzt, int Jejenteel, et war, als wenn se noch ville toller wirden. Man darf eben nischt vor die Türe stellen!«

»Ibahaupt, Tante, der olle Oljanda, wollen wa den nich zahacken?« sagte Wilhelm. »Der paßte sehr jut, als wa noch in die Ackerstraße wohnten, in die ›unterirdische Tante‹, aba hia vor det Lokal jehört er nich mehr hin!«

»Nich zahacken, det olle Ding is üba zwanzich Jahre alt, meen Mann hat imma so druff jehalten«, sagte Tante wehmütig.

»Denn schenken wir 'n Onkel Karrel«, sagte Herr Lemke, und Tante hielt das für einen Ausweg, obwohl sie dachte, daß Onkel mit seiner Experimentierwut den alten Oleander nur »totmartern« würde.

»Villeicht nimmt ihn ooch Tante Liese – wie dunnemals det scheene Klavier. Jeld haben wa bis heite nich for besehen, und for den Oljander wollen wia ja ooch keens haben!«

»Tante Liese nimmt allens«, sagte Herr Lemke, erweiterte diesen Ausspruch dann aber noch ein wenig: »Nimmt allens, wenn sie't in ihre jute Stube stellen kann und et nischt kost!«

Der Zigarrenhändler fühlte sich geehrt, daß man derartige Familieneigentümlichkeiten ungeniert vor ihm erörterte, und es drängte ihn, anzudeuten, daß er übrigens schon Bescheid wüßte: »Tante Liese«, sagte er, seinem Gesicht einen vergeistigten Ausdruck gebend und sich den Stammbaum vorstellend, »das sind die aus'n Fischerviertel, also die Verwandten mütterlicherseits?«

Herr Lemke schien sich das zu überlegen, dann sagte er erregt: »Nee, woso denn? Aus'n Fischerviertel is richtich, da hab ick se sojar mal besucht. Aber Tante Liese hab ick anjeheiratet durch meene Frau, deren Tante is se, und Onkel Aujust is nu wieder der Onkel von Tante Liese!«

»Der Mann is er von sie, wat machste denn, Willem«, sagte Tante Marie, »du vaheddast ja allens, und die Sache is doch janz eenfach! Seh mal: Onkel Karrel is doch meen Bruder – wahr?«

»Aba von Onkel Karrel hat doch ibahaupt keena jesprochen, und nu wird die Sache erst janz vawickelt«, wehrte Herr Lemke ab, »wat missen wa denn det ooch so jenau ausnanderpolken, wia sind doch hia nich vor Jericht!«

»Bei uns is ooch so«, sagte Herr Krause, »ick hab beispielsweise ne Tante deren Mann ...«

»Nee – azehln Se nich weita – um Jottes willen nich!« Und Herr Lemke stand auf, um der komplizierten Unterhaltung ein Ende zu machen. »Kommen Se, wa jehn jetz rin und trinken ne Weiße!«

»Ick bleib noch 'n bißken«, sagte Tante Marie und setzte sich auf den frei gewordenen Stuhl. »Wenn Liese schreit, hör ick's ja ooch hia!«

»Ach, die Kleene is nich mit nach Schöneberch?«

»I wo, wat soll sich denn Mutter damit schleppen, die hat an Edwin jenuch, zwee kann se doch nich uff eenmal bändjen!«

Die Männer verschwanden im Innern des Lokals, und Tante Marie, die trotz der Hitze hin und wieder erschauerte und dann das graue Wolltuch jedesmal fest um die Schultern zog, überließ sich nun in der hereinbrechenden Dämmerung ihren Träumereien.

Die Fledermäuse begannen zu huschen, der rote Abglanz des Abendhimmels da oben auf den Fensterscheiben der großen Häuser verblaßte, und der Strom derer, die heute mittag hier vorüberzogen, flutete langsam zurück: Soldaten, deren Urlaub abgelaufen, Dienstmädchen, die keinen Hausschlüssel hatten, solide Familienväter, die am Montag früh aus den Federn mußten, Mütter mit ermüdeten, stolpernden und lamentierenden Kindern – na, und da kam ja endlich auch Frau Lemke!


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