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XXI

Die Verhandlung

»Und nun, Angeklagter Lemke, erzählen Sie mal so kurz wie möglich, was sich am dreizehnten September in dem Hausflur ereignet hat!«

Wilhelm erwachte wie aus einer Betäubung. Es kam ihm plötzlich zum Bewußtsein, daß man bereits mitten in der Verhandlung war, daß er schon, allerdings wie im Traumzustande, eine ganze Reihe Fragen beantwortet hatte, fast dieselben Fragen, die neulich der Gesetzeskundige an ihn gerichtet. Und jetzt sollte er also wieder einmal die Geschichte erzählen, die er nun schon so oft erzählt.

Ganz geläufig, als wenn er ein Gedicht aufsagte, brachte er sie hervor und vergaß selbst an der richtigen Stelle nicht die Unschuldsbeteuerungen, die er hier und dort stets eingeschoben hatte. Als er sich dann aber triumphierend umblickte und noch einige Schlaglichter aufsetzen wollte, fuhr ihn der Herr, der ihm bisher ganz freundlich erschienen, plötzlich an: »Ist genug – fertig. Sie können sich setzen!«

»Und jetzt schildern Sie den Vorgang«, wandte er sich dann an den Portier, der während Wilhelms Vortrag fortwährend den Kopf geschüttelt und mit den Händen geschlenkert hatte.

»Also – et is allens janz anners jewesen, Ha Präsident!« begann der und schluckte, wobei er die Augen eindrückte, um anzudeuten, daß er sich die Szene ganz genau vergegenwärtige. »Also ick hatte jrade Tepp'che jekloppt und wischte mia den Schweeß ab ...«

»Fassen Sie sich kürzer«, fuhr ihn der freundliche, alte Herr an.

»Kürza kann ick mia nich fassen«, sagte der Portier resigniert, »det jehört allens dazu, sonst is ja die janze Jeschichte nich verständlich. Also ick hatte mia jrade den Schweeß abjewischt, da hör ick uff eenmal 'n Jeheil wie von die Injaner. ›Anton – Anton‹, schreit jemand, a's wenn er an'n Spieß steckt, und ick denke jrade: ›Nanu, die Stimme haste doch schon mal jeheert, die kommt dia doch so merkwirdich bekannt vor!‹ Und wie ick noch drieber nachdenke, loofen meene Beene schon janz von alleene ...«

»Also – ich werde Sie jetzt fragen«, fuhr der alte, freundliche Herr, der eben noch so getan, als wolle er ein Mittagsschläfchen machen, dem Portier plötzlich dazwischen: »Sie haben also den Ausklopfer genommen, sind in den Hausflur gelaufen und sahen – nun, was sahen Sie da?«

»Et war kummervoll, Ha Präsident«, sagte der Portier, überwältigt von der Erinnerung. »Er hatte meene Olle unta und schlenkerte ihr, die Neese hatte sie schon im Jenick sitzen, und die Oogen hingen so zu'n Kopp raus, wie so'n Knopp, der man bloß noch an eenen Faden bammelt!«

»Und da haben Sie mit dem Ausklopfer auf den Angeklagten Lemke eingeschlagen?«

»Janz int Jejenteel, ick hab janz freindlich ßu ihn jesacht: ›Aba, Ha Lemke, wat machen Se denn da, meene Olle wird ja brejenklieterich werden.‹ Da hat er ihr hinjeschmissen wie so'n Sticke Wischlappen, is mit die Beene druff rumjetrampelt, denn hat er mia den Auskloppa wechjerissen, hat mia damit uff'n Kopp jedrescht, und denn is er uff die Frau Kufahl losjejangen und hat ihr 'n Zopp abjerissen und in die Tasche jestochen!«

In maßlosem Erstaunen hatte Wilhelm den Portier angeblickt, jetzt hob er, wie einst in der Schule, den Finger und sagte treuherzig: »Ha Präsident, ick will totfallen und um sind, wenn ooch nua een eenzjes Wort von diese Räubajeschichte wahr is – nee, det hab ick wahaftjen Jott nich jetan, denn wird ick mia ja ßu Tode schämen, ick vajreif mia an keene Frau, nur an'n Ärmel hab ick ihr jeschittelt!«

»Stille!« rief der alte, freundliche Herr mit einer Stimme, daß die Fensterscheiben klirrten, und sich an den Gerichtsdiener wendend, donnerte er: »Führen Sie die Zeugin Anna Luise Kufahl, geborene Zeisig, herein!« Draußen auf dem Korridor hörte man den Gerichtsdiener den Namen rufen, dann trat Frau Kufahl herein, sah sich mit einem zagen Lächeln um und blickte, Kraft und Stärke suchend, die Portiersfrau an, die regungslos mit eingezogenem Halse bisher auf einer der Bänke gesessen hatte. Auch von Frau Kufahl wollte der freundliche, alte Herr, der nun wieder eine gütige, liebevolle Stimme hatte, allerlei wissen, und auf einmal wurde es ganz feierlich – alle hatten sich von ihren Sitzen erhoben, und Frau Kufahl sprach nach, was ihr der alte Herr da vorsagte.

Wilhelm war plötzlich leicht und froh ums Herz geworden, es kam ihm vor, als sei Frau Kufahl, nachdem sie die Eidesformel aufgesagt, noch einmal eingesegnet worden. Jetzt mußte die Wahrheit ans Tageslicht kommen, denn Frau Kufahl durfte ja weder etwas hinzusetzen noch etwas verschweigen, sonst drohte ihr schwere Zuchthausstrafe.

»Also, was haben Sie gesehen, Zeugin?«

Frau Kufahl, die bisher einen recht gebildeten und netten Eindruck gemacht hatte, sah den alten Herrn eine Zeitlang starr an, dann hob sie plötzlich den Kopf, drehte ihn nach allen Seiten und betrachtete eingehend die Zimmerdecke, als sei sie durch den Eid dazu verpflichtet worden.

»Also – Zeugin«, ermunterte der alte Herr, »Sie waren dabei, als am dreizehnten September der Angeklagte Lemke mit dem ...«

»Ick jloobe, et war doch der vierzehnte September jewesen«, sagte Frau Kufahl weinerlich.

Der alte Herr blickte in die Akten, schüttelte den Kopf und sagte: »Nein, es war der dreizehnte!«

»Aba unse Minna hat doch jrade Jeburtstach jehabt«, sagte Frau Kufahl.

»Also, das Datum steht fest, da ist gar kein Zweifel möglich«, sagte der alte Herr, und seine Stimme begann zu grollen. »Was haben Sie also an jenem Tage gesehen?«

»Er hat ihr jeschlaren«, sagte Frau Kufahl und blickte plötzlich wieder nach der Decke, als fürchte sie, daß sie ihr auf den Kopf fallen könnte. »Wer hat wen geschlagen – erzählen Sie doch vernünftig, es tut Ihnen doch niemand etwas, Sie waren doch dabei, als der Angeklagte Lemke in den Hausflur kam?«

»Ja!«

»Na – und was war da?« Der alte Herr sprach plötzlich in einem Ton, als habe er ein ganz kleines Kind vor sich.

»Ick wollte an dem Tare jrade Hascheh machen, denn ick hatte sonne scheene Lunge jekooft, aba ick hatte keenen Troppen Essich za Hause, und da mußte ick noch mal runter«, sagte Frau Kufahl, und der alte Herr nickte, als begriffe er das vollkommen.

»Na, und da is's denn so jekommen!«

»Wie?«

»Na – ick hab welchen jeholt!«

»Was haben Sie geholt?«

»Na – Essich – ick sach' doch immafort schon!«

»Schön – na und dann?«

Frau Kufahl begann sich plötzlich zu erinnern. »Wie wir beede so zusamm' sprechen, denn ick hatte ihr ja jetroffen ...«

»Wen?«

Frau Kufahl sah den alten Herrn wegen dieser Unterbrechung etwas unwillig an und schien ihn für ein bißchen schwachsinnig zu halten:

»Na ihr – die Portjehfrau. Also wie wa so stehn und uns untahalten, kommt Ha Lemke wie so'n Losjelassener aus die ›untaird'sche Tante‹ jestürzt, scheicht uns beede in den Flur, kricht die Portjehfrau ins Jenicke, haut ihr uff'n Deetz, det se jleich janz windschief aussieht, fuchtelt mia mit de Faust um de Neese rum, und als denn der Portjeh zukam, war man bloß noch een eenzjer Kuddelmuddel!«

»Hat Ihnen der Angeklagte Lemke einen Zopf abgerissen?«

»'n Zopp? Nee – det nich! Der is von janz alleene uffjejangen, der jeht imma uff, wenn ick mia aschrecke und keenen Hut uffhabe!«

Mit großen, entsetzten Augen starrte Wilhelm noch immer Frau Kufahl an. Was sie jetzt auf die weiteren Fragen noch antwortete – daß der Portier mit dem Ausklopfer zuerst geschlagen, daß sich Wilhelm eigentlich nur gewehrt –, konnte ja alles wahr und richtig sein, aber das andere war falsch: Er hatte die Portiersfrau nur am Ärmel geschüttelt, ihr weiter nichts getan. Das mußte Frau Kufahl wissen, sie aber hatte ausgesagt, daß er die Portiersfrau auf den Kopf geschlagen, das war eine Lüge, und dafür kam sie ins Zuchthaus. Und es verschwamm ihm alles vor den Augen, er hörte kaum noch, was um ihn herum vorging, bis sich einer der schwarzen Herren, der – wie Wilhelm meinte – eine »kleene Leichenträjermitze« auf dem Kopf hatte, erhob und zu sprechen begann. Der würde jetzt veranlassen, daß Frau Kufahl wegen Meineides ins Zuchthaus kam.

»Durch die Aussage der einwandfreien Zeugin Kufahl ...«

Alles andere der Rede schwirrte an Wilhelms Ohren vorüber, sein ganzes Denken klammerte sich nur an das Wort »einwandfrei«, bis er plötzlich erschrocken zusammenfuhr. Was hatte der »Leichenträjermitzenmann« da eben gesagt, »er beantrage, daß der Restaurateur Wilhelm Lemke wegen Körperverletzung zehn Taler Strafe zahlen sollte, während der erste Angeklagte, der wiederholt vorbestraft sei, wegen Körperverletzung mittels eines gefährlichen Werkzeuges zu drei Monaten Gefängnis verurteilt werden solle«?

Und da erhoben sich alle Herren hinter dem grünen Tisch, nur der »Leichenträjermann« blieb höchst zufrieden sitzen, und verschwanden in einem Nebenzimmer. Obwohl die Saaltür nach dem Korridor geöffnet wurde, Leute herausgingen oder hereinkamen, so daß es schien, als sei nun alles aus, blieb Wilhelm doch auf seinem Platz, da ja auch der Portier und Frau Kufahl blieben.

»Die Sache muß sich ja uffklären«, dachte Wilhelm, »ick for nischt und wieda nischt zehn Taler, der da«, und er schielte verstohlen nach dem Portier, »jleich uff drei Monate ins Kittchen, und die beeden Karnalljen da – die Kufahl und det annere Klatschmaul – kriejen janischt!«

Und auf einmal erschienen die schwarzgekleideten Herren wieder im Saal, setzten sich, und Wilhelm sagte sich: »So, nu kommt die Revision!« Der alte, freundliche Herr redete etwas, so rasch, daß man es kaum verstehen konnte. Nur Bruchstücke: »... in Anbetracht der seit langem bestehenden Feindschaft zwischen den Parteien ...« Dann auf einmal ganz deutlich: »... wird der Angeklagte Wilhelm Lemke zu einem Taler und der erste Angeklagte trotz seiner erheblichen Vorstrafen nur zu zehn Taler Strafe oder zehn Tagen Gefängnis verurteilt.«

Wilhelm hatte unwillkürlich nach dem Portemonnaie gefaßt, »um die Jeschichte jleich glattzumachen«, aber der Gerichtsdiener dachte gar nicht ans Einkassieren.


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