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V

»Lemkes sel. Witwe«

Tante Marie hatte dem Paar den Keller überlassen und war »hintenhin« gezogen, »uff'n Hof paterr«, wie die junge Frau Lemke sagte. »Se wollte partu nich anders – laß ihr, uns kann's recht sind!«

Durch eine bunte Glasfenstertür kam man vom Hausflur auf diesen Hof, einen überraschend großen Platz mit Katzenkopfpflaster und einem Brunnen, dessen Abflußrohr ein schrecklicher Drachenkopf war. Und zur Überraschung aller, die von der Straße auf den Hof traten, befand sich dahinter noch ein Garten mit Bäumen und einer grüngestrichenen Laube.

Dort sah man an den Nachmittagen Tante Marie sitzen und Kaffee trinken. In wunderlicher Eilfertigkeit strickte sie an einem langen wollenen Strumpf, während die Augen über die »Vossische« glitten und die Annoncen durchsuchten. Denn das war das einzige, was Tante Marie interessierte, aus diesen Ankündigungen konnte sie sich die schönsten und merkwürdigsten Geschichten zusammensetzen. Gestört dabei wurde sie nur, wenn der Lärm auf dem Hofe zu groß wurde, denn dort, beim Hackklotz, tummelten sich mit Jauchzen und Lachen die Kinder der anderen Mieter, spielten Versteck oder zählten im Chor:

»Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben,
Komm, wir wollen Kejel schieben,
Kejel um, Kejel um,
Böttcher, Böttcher, bum, bum, bum.
Böttchers Frau, die olle Jrete,
Saß auf einem Baum und nähte,
Fiel herab, fiel herab,
Und das linke Bein war ab.
Kam der Doktor Zappelmann,
Klebt das Bein mit Spucke an,
Saß es fest, saß es fest,
Jing nie wieder – ab.«

Und dann stob die Schar auseinander, raste die Treppe hinauf und hinunter, machte die Hunde in der Nachbarschaft rebellisch und scheuchte die Katzen in die Kellerlöcher. Wenn es dann wieder still geworden, hörte Tante Marie auch wieder aus den Nebenhöfen die langgezogenen Leierkastenlieder:

»Des Königs Ruf ist an sein Volk ergangen – –«

»Ach Jott, ja«, brummelte sie dann vor sich hin, »wo is det allet hin – die Zeit is vajangen, nu sitz ick hia, wer weeß wie lange, ob ick iberhaupt den zweeten Strump noch fertichkrieje? Det kann janz plötzlich ibern Menschen kommen. Und ick träume jetz imma so schlecht – so'n konfuset Zeich, wo man janich weeß, wat's bedeitet.« Und mit Schaudern erinnerte sie sich an die »Erscheinung«, die sie neulich gehabt. »Mitten in de Nacht wach ick uff«, hatte sie dann am anderen Morgen erzählt, »wach ick also uff, denke nanu, wat is denn hia los, wat wachste denn uff? Bin janz klar in'n Kopp, janz munta, wie nach ner juten, starken Tasse Kaffee. Ick richte mir also uff ins Bette –«

»Azehl doch 'n bißken rascher, Tante«, hatte sie Anna unterbrochen, »du spannst ma ja uff de Folta, also du bist uffjewacht, und wat war nu?«

»Ja – wennste mia so untabrechst«, hatte Tante Marie etwas ärgerlich gesagt, »valier ick natürlich 's Ende. Nu kann ick wieda janz von vorn anfangen!« Und nach einer Pause: »– – – wach ick also uff – –«

»Bist janz munta ...«, versuchte Anna einzuhelfen, da die Alte stockte. Aber Tante Marie war – nun wirklich ganz böse – aufgestanden: »Dann azehl du man weita, du weeßt et ja bessa als ick!«

»Na sach ma bloß det eene noch«, hatte Anna gebettelt, »war't der Deibel oder nich?«

»Nee, der Deibel war't nich«, hatte Tante Marie gereizt geantwortet, »der kommt höchstens bei dia. Et war aber'n Jeist – 'n Jeschpenst!«

»Dunnerwettsteen«, hatte Anna gerufen, »dem hätt ick's aba besorcht! Hastet nich jleich mit'n Schrubba uff'n Deetz jehaun, det's injeknickt is?«

»Meechen, mach dia nich unjlicklich«, hatte Tante Marie gesagt, »wir haben den Jeist keene Ruhe nich jelassen – det is's. Seitdem der Kella die ›unterird'sche Tante‹ heeßt, jeht's hia um, so ville is jewiß. Und darum hab ick's ooch nich mehr da unten ausjehalten und war froh, det ick an die Obawelt kam. Aba nu looft's mia nach, mia hat der Jeist uff die Pike jekricht, paßt mal uff, ick hab's eich vorher gesacht, eenes scheenen Morjens wach ich uff und bin dot!«

»Na – Tante«, hatte Anna tröstend gesagt, »ick werd jut uffpassen, vielleicht fang ick den Jespensterich, ei – weih – aba denn! Denn tropp ick'n heeßen Sijelack uff de Beene und setz ihn nachher in Spiritus!«

»Meechen, Meechen – sei nich ßu keß, so wat rächt sich!«

Aber Anna hatte nicht hingehört, sie blickte ihren Mann an, der mit großen Augen in die dunkle Ecke stierte.

»Willem«, rief sie erschrocken. »Willem, wat haste denn, komm zu dir, wat kiekste denn da in'n Winkel?«

»Ick weeß, wat's jewesen is«, sagte er und sah sich scheu um. »Tante, is det Jeschpunst ne Frau jewesen – mit'n Umschlaretuch?«

»Ja – ja – ja –«, stammelte Tante Marie, »woher weeßte det?«

»Denn is's –«, sagte Wilhelm feierlich, »denn is's Lemkes selje Witwe jewesen!«

»Ja, ja, ja«, jammerte Tante Marie und rang die Hände.

»Et is meene Jroßmutta, Vatan seine Mutta«, sagte Wilhelm, »und det war ne sehr fromme Frau, als se noch lebte!«

»Jetz scheint se aba unsolide ßu sind – so alleene nachts rumzuloofen is janz unschicklich. Die soll ruhich in ihren Sarch liejenbleeben, wir werden ihr ooch mal bejießen kommen. Lieba scheintot in'n Massenjrab, als so nachts bloß mit'n dinnet Umschlaretuch meene Verwandten besuchen. Und nu hören wa mit den Quatsch uff, denn wenn ick erst anfange, mia ßu jraulen, denn wird's eenfach firchterlich.«

»Siehste, siehste, siehste«, sagte Tante Marie, »nu biste ooch anjestochen – – –«

»Ja, ich werd ooch jleich de Jeschpenstersprache reden und allet dreimal saren. Kiekste, kiekste, kiekste – da sitzt die Olle in die Ecke und fängt sich wat.«

Tante Marie kreischte laut auf, und Wilhelm hielt sich die Augen zu. »Mach keene Dummheiten nich, Anna«, warnte er, »Lemkes selje Witwe nimmt det krumm!«

»Wa'm sagsten imma so und nicht janz eenfach Jroßmutta, wie annere vaninftje Menschen?«

»Wir haben ihr imma so jenannt, Vata ooch.«

»Det is eben keen natierliches Vahältnis jewesen, da'm is die olle Madam ooch so unnatierlich jeworden«, sagte Anna. »Ihr Lemkes habt ja alle 'n Knacks wech, entweder habt ihr die Dummheet mit Löffel jefressen, oder ihr seid vajeisticht! Sonst hätte dir deen Vata und deene Mutta nich so loofen lassen – haben se een eenzjes Mal wat von sich hören lassen?«

»Du bist doch aba nu ooch ne Lemken«, sagte Tante Marie.

»Na, denn kann et ja sind, wenn ick ooch selich jeworden bin, det ick die Witwe bejejne, denn werd ick ihr den Standpunkt mal janz jehörich klarmachen!«

Tagelang nach dieser Unterhaltung war die Harmonie gestört gewesen, aber dann kam man allmählich wieder ins Geleise. Es gab tagsüber so viel zu tun, daß man abends »wie zaschlagen« ins Bett sank und gleich einschlief. »Lemkes selje Witwe hat dann det Pree«, pflegte Anna zu sagen, »meenswejen kann se hier rumklabastern, so ville se will. Wenn se ab und zu mal 'n Rollmops freßt, schad det nischt. Lieba wärt't ma ja, wenn se den Uffwasch besorchte, da kennt se sich wirklich nitzlich machen.«

Aber das Geschirr wurde nicht abgewaschen. Auf Wilhelm wirkte das einigermaßen beruhigend. Tante Marie aber meinte: »Wo wird denn 'n Jeschpenst abwaschen – haste det schon jemals jehört? Von so'n Jeistertella und mit sonne Jeisterjabel wird ick ooch nischt essen wollen.«

Seitdem Tante jeden Sonntag so regelmäßig die Kirche besuchte, war Lemkes sel. Witwe wieder abgezogen. Aber das behielt die Alte für sich, um nicht verspottet zu werden. Nur zu Wilhelm äußerte sie sich einmal gelegentlich: »Villeicht hat det Jeschpunst ooch bloß mal 'n kleenen Abstecha machen wollen, um ßu sehn, wie's dir jeht!«

»Beschrei et man bloß nich, Tante, ick jloobe ja ooch, det sie wech is, und sare ooch nich mehr Jeschpunst, det nimmt se ibel, sach lieba Lemkes selje Witwe, det is höflicher!«


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