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Edwin regt sich

Am Spätabend war Wilhelm dann endlich gekommen. Auf den Schultern trug er, mit zusammengebundenen Hälsen, zwei feiste Gänse und in der Hand drei geschlachtete Hühner. Schweigend legte er das Geflügel auf den Schanktisch, schenkte sich eine Weiße ein und trank in langen Zügen.

»Ja – dunnerwettsteen, det war 'n Jeschleppe«, sagte er, »Mutta läßt scheen jrießen, Vata ooch, und se saren, die Toofe soll bei se sind, da hätten wa mehr Platz! Jib ma doch noch ne Weiße – mir durschtet zu sehr!«

»Na, det is doch nich allet, du mußt doch azehlen, wie et war. Deene Mutta wird doch nich jleich die Hihna jeschlacht haben und denn biste wieda wechjejangen? Se werden doch bäh und mäh jefracht haben, obste dia jlicklich fiehlst und so weiter.«

»Mutta, ja – Vata nich. Mutta hat 'n bißken jeweent und jesacht, det ick dicker jeworden bin, det ick sie aba zu jrien und ßu keesich aussehe!«

»So, na det kommt von den Kumma, den wa jehabt haben. Aba nu azehl mal janz von vorne und laß nischt aus. War dia denn nich zuerst janz komisch zumute? Haben se denn uff mia nich mechtich jeschumpfen?« wollte Anna wissen.

Und Wilhelm begann nun in seiner umständlichen und langsamen Art zu berichten. »Und weeßte«, setzte er hinzu, »draußen in Schöneberch hat's ooch jespukt – die Selje is umjejangen, Mutta hat se jesehen und Vata ooch!« »Det ha' ick ma ja jedacht«, rief Tante Marie, die bisher nur zugehört hatte, triumphierend dazwischen. »Det muß so um dieselbichte Zeit jewesen sind wie hia, die hatte bloß 'n Abstecha nach hia jemacht, so – wie ick's jleich jesacht hatte!«

»Aba die Hauptsache, Willem, mit die Kindstoofe!« sagte Anna. »Wat soll denn det nu eijentlich werden? Willem, wia könn det doch nich annehmen, et jehört sich doch, det wir inladen – nich sie!«

»Et soll 'n bißken jroßartich werden«, sagte Wilhelm, »weil mit die Hochzeet nich so ville herjemacht worden is, det soll nachjeholt werden! Wat ick beinahe vajessen hätte: Vata hat jute Jeschäfte gemacht, er hat von die Wiesen bei'n Faulen Jraben vakooft.«

»Da hätt ick doch an seine Stelle noch jewartet«, sagte Anna kopfschüttelnd, »det war noch nich der richtje Momang, da hätt er später jewiß det Doppelte rausjeschlaren!«

»Ja, Mutta sagte det ooch, aba er wollte partu nich mehr warten! Ibrigens, Mutta kann janich bejreifen, warum wa det Kind Edwin nennen wollen!«

»Det vasteht Onkel Karrel ooch nich«, sagte Anna, und nun begann sie zu berichten, was sich inzwischen in der »unterirdischen Tante« ereignet hatte. Bis in die späte Nacht hinein berieten sie dann hin und her, was zu tun sei, und das vorläufige Ergebnis war, daß Anna ein neues Kleid haben müsse, ein »jutes Schwarzet«, damit sie sich vor den Schwiegereltern sehen lassen könne.

Und gleich am nächsten Morgen machte sie sich mit Tante Marie auf, um in der Stadt den Stoff zu kaufen. Wilhelm hatte die nötigen Verhaltungsmaßregeln bekommen: »Edwin schläft jetz jrade so scheen, da schieb ick den Stoßwaren hia in die Ecke. Du broochst nischt weita, als ihn die Milchflasche zu jeben, wenn er schreit, aba er schreit nich! Jetz pennt er vier, fimf Stunden jlatt wech. Sehste, er schläft« – sie hob die Gardine und zeigte ihm im Halbdunkel etwas Rotes, Runzliges mit einem Büschel Haare. »Hia is ooch die Flasche, die mußte aba tichtich schockeln, ehste se ihm rinsteckst, und denn nich mit's vakehrte Ende etwa, sondern mit'n Proppen. Und nu paß bloß jut uff, et wär ja furchtbar, wenn det Kind vaunjlickt, et vabrennen jetz alle Tare so ville kleene Kinda, na, adje – in een, zwee Stunden bin ick wieda ßarück!«

Wilhelm, der sich überaus verantwortungsvoll vorkam, nahm die Hühner, setzte sich so, daß ihn der Sonnenschimmer auf den Rücken traf, und begann äußerst gewissenhaft das Geflügel zu rupfen. So war wohl eine halbe Stunde friedlich vergangen, als er mit dem Stuhl rückte. Da begann ein leises Meckern hinter der Wagengardine, das jedoch gleich wieder verstummte. Der Schreck war Wilhelm in die Beine gefahren, das hätte ja eine schöne Geschichte werden können! Schon glaubte er, es sei alles wieder wie vorher, da – er konnte es nicht länger überhören – war es ihm doch, als wenn aus dem Wagen immer eine Art leisen Knallens drang. Es war, als wenn ein großer Goldfisch an der Oberfläche des Wassers nach Luft schnappte. Edwin erstickte doch nicht etwa?

Vorsichtig schlich er näher und hielt das Ohr an die Gardine – richtig, es war Edwin. Schlief er, oder was war mit ihm, warum hatte er diesen rätselhaften Ton nicht vorher von sich gegeben? Da er nicht wagte, ihn anzufassen, blies er ihm vorsichtig auf die Nase. Die Wirkung war überraschend: Das Mäulchen, das vorher wie eine Sparbüchse ausgesehen hatte, klappte plötzlich zu, und die Augen gingen auf.

Wilhelm wollte sich zurückziehen, aber da veränderte sich Edwins rundes, rotes Gesichtchen, und das klägliche Meckern begann wieder.

»Er wird schon wieda uffhören«, dachte Wilhelm, »er is man bloß aschrocken, weil er nich det Jesicht von seene liebe Mutta jesehn hat!« Da aber Edwin beharrlich weiterheulte, nahm er die Milchflasche und wollte sie ihm in den Mund stecken. Aber es war ihm nicht möglich, den weichen Gummipfropfen zwischen die verzogenen Lippen des Kindes zu bringen, und bei der Bemühung floß die Milch ins Bett.

»Ach du lieba Jott, is det ne Schweinerei«, dachte Wilhelm. »Wa'm wisten nich trinken?« fragte er Edwin, der aber durch wütendes Gebrüll antwortete. Vielleicht lag es daran, daß er die Milch vorher nicht geschüttelt hatte. Nun – das war nachzuholen. Und jetzt versuchte er sein Glück aufs neue und wartete einen Augenblick ab, da Edwin zu einem ausgedehnten Schrei ansetzte. Dann schob er ihm den Pfropfen in den Mund und hoffte, daß das Saugen beginne. Statt dessen bekam Edwin den Stickhusten, und zwar in einer Weise, daß Wilhelm das Schlimmste befürchtete. Das beste war wohl, er klopfte ihm den Rücken. Aber als er ihn anfaßte, brüllte Edwin los, als wenn er am Spieße steckte. Da wurde Wilhelm ärgerlich auf seinen Sohn. »Wiste stille sind, du Krabbe«, schrie er ihn an.

Der Säugling verstummte einen Augenblick, sah ihn mißtrauisch an und machte dann fortwährend: »Bahahää!«, während er vorher in den höchsten Tönen gepfiffen hatte. Das bedeutete doch wenigstens eine kleine Besserung.

»Duddudiddidaddaduuh!« ahmte Wilhelm die Muttersprache nach, »will Edwin nich trinken – ei, wat ick hia hab«, und verführerisch schwenkte er die Milchflasche vor des Kleinen Augen. Er machte damit aber wohl nur einen etwas unheimlichen Eindruck auf Edwin, denn der begann plötzlich mit Händen und Beinen zu strampeln, als wäre er auf glühendes Eisen gelegt worden. Wilhelm begann zu singen:

»Uff'n Mühlendamme
Sitzt 'n Mann mit Schwamme,
Der will janich, janich, janich fang'n …«

Edwin wurde auf einen Schlag still, verdrehte ganz seltsam die Augen im Kopf und bekam gleichsam einen vergeistigten Ausdruck: »Ba–a–«, sagte er feierlich und resignierte.

»Ja, janz meene Meenung!« Aber dann schnüffelte Wilhelm plötzlich wie ein Jagdhund umher, eine schreckliche Ahnung überkam ihn, die sich zur Gewißheit steigerte, als er sich über seinen Sohn beugte.

»Mensch – wat haste bloß jemacht?" fragte er Edwin verzweiflungsvoll, aber der antwortete nicht mehr, sondern schien zu erwarten, daß eine Exekution an ihm vollzogen würde. »Ick könnt dia wahaftich mit'n jefrorenen Waschlappen totstechen, so wat sacht man vorher, na, ick laß dia liejen, wo du liechst, und setz mia mit meene Hihna woanders hin. Ick hab die Neese pleng von dia!«

Die Abneigung zwischen Vater und Sohn war offenbar gegenseitig, ja – Edwin schien sogar anzudeuten, daß die Angst und das Entsetzen vor seinem Vater die eigentliche Ursache der Katastrophe sei. Jetzt fühlte er sich entschieden erleichtert und hatte nichts dagegen, daß ihm sein Vater die Milchflasche in den Mund steckte.

Wilhelm trank einen Bittern und überließ sich, während er sich wieder an das Rupfen des Geflügels machte, philosophischen Gedanken, die sich mit der Verbesserung der Naturgesetze im allgemeinen und der Veredelung des Menschen im besonderen beschäftigten.


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