Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIX

Der »Jesetzeskundje«

Als der Kriminalwachtmeister merkte, daß ihm Herr Lemke eine Anzeige machen wollte, nahm er eine ernste, strenge Miene an: »Also, denn schildern Sie den Vorgang ausführlich!«

Dann erzählte Wilhelm, wie er der Frau des Portiers nachgelaufen sei, um sie zur Rede zu stellen, daß er sie – als sie nicht stehen wollte – am Ärmel festgehalten, und wie sie ihm nun sofort mit allen zehn Fingern ins Gesicht gefahren sei und ihn zerkratzt habe. Dann wäre ihr Mann hinausgekommen und hätte ihn von hinten mit dem Ausklopfer über den Kopf geschlagen, bis es gelungen sei, dem Portier den Ausklopfer abzunehmen. »Und dann ha' ick mia natierlich jewehrt«, schloß Wilhelm.

»Haben Sie Zeugen?« fragte der Wachtmeister.

»Die wer'n det schon bezeijen«, sagte Wilhelm.

»Ich frage, ob Sie Zeugen dafür haben, daß Sie nur in Notwehr gehandelt haben?«

»Ick hab ma nich umjekiekt, aba det missen alle jesehn haben, et war ja wie in'n Theata so voll, und der beste Beweis is doch hia der Auskloppa, den ick ihn abjenommen!«

»Der beweist gar nichts, Sie müssen sehen, daß Sie Zeugen beschaffen, die Ihre Darstellung unterstützen. Und dann lassen Sie sich die Beule hinten am Kopf, wo Sie der Mann geschlagen hat, ärztlich bescheinigen. Das Zeugnis wird beigelegt. Jetzt werd' ich das Protokoll aufnehmen. Also nun noch einmal von vorne!«

»Allens janz noch mal von vorne? – Na, denn los«, sagte Wilhelm mit einem tiefen Seufzer.

»Und nun unterschreiben Sie – hier kommt der Name hin!«

»Und wat wird nu?« fragte Wilhelm, der eigentlich erwartet hatte, daß der Wachtmeister den Portier sofort verhaften lassen und ins Gefängnis führen werde.

»Jetzt werd' ich mir den Portier mal kommen lassen, und dann geht die Sache an die Staatsanwaltschaft!«

»Ach du lieba Jott, sonne Umstände wejen die Keilerei«, sagte Wilhelm bedauernd, »wenn ick det bloß vorher jeahnt hätte!«

Und dann war er entlassen und ging zu einem Arzt, der ihm seine Verletzungen für einen Taler bescheinigte und ihm sogar ein Pflaster auflegte. Nachher, als Wilhelm das Attest zur Polizei gebracht, ging er heim – mit sehr gemischten Empfindungen: »Ick hätt den Kerl lieba haun sollen, det ihn die Schwarte knackt; nu kost det allens bloß noch schweret Jeld, wo man sich lieba wat for hätte anschaffen können!«

»Nee, nee, laß man, is sehr jut so«, sagte Anna, als ihr Wilhelm alles erzählt hatte, »hia muß wat Jesetzlichet jeschehen, sonst haben wa keene ruh'je Stunde mehr. Und nu lech dia uffs Sofa und ahol dia, denn du siehst eklich anjejriffen aus!«

Am nächsten Morgen erschien zur ungeheuren Genugtuung Annas ein Polizist im Hause und verschwand in der Wohnung des Portiers.

»Nu wird er jefesselt und abjefiehrt«, sagte Tante Marie, »und die Wohnung werden se denn woll vasiejeln.« Doch – diese Voraussicht erfüllte sich nicht, der Beamte kam nach kurzer Zeit allein wieder zum Vorschein und ging davon, ohne daß man von einem Akt des Gesetzes etwas vernommen hätte. Aber eine halbe Stunde darauf – da erlebte das Haus und die Ackerstraße eine große Sensation: die Portiersfrau, angetan mit Annas Samtmantille und gekrönt mit einem farbenprächtigen Hut, trat in Begleitung ihres Mannes auf den Hof und dann auf die Straße und schlug den Weg nach der Polizeiwache ein.

Als sie zurückkehrten, zeigten beide ein feierliches, verschlossenes Wesen, winkten der Frau Kufahl und nahmen sie mit in ihre Wohnung. Und als Frau Kufahl nachher wieder erschien, zeigte diese dasselbe feierliche, verschlossene Wesen wie die Portiersleute und hatte nur auf alle Fragen ein geheimnisvolles Lächeln.

»Det bedeut nischt Jutes«, sagte Tante Marie, »wenn ma bloß erst wüßte, wat dahintastecken tut!«

Am Nachmittag erfuhren sie es, da kam, jetzt zur ungeheuren Genugtuung der Portiersleute, wieder ein Polizeibeamter, der aber diesmal in der »unterirdischen Tante« verschwand. Und dann machte sich eine Stunde später Wilhelm auf den Weg nach der Wache, und als er zurückkehrte, sagte er:

»Nu haben se jejen mia ooch Strafantrach jestellt wejen Körpavaletzung und Beleidijung. Ick soll die Frau uff ihren Lausekopp jehaun haben, die Kufahl will det beschwörn, aba et is nich wahr, Anna, det kann ick beschwörn, nua an'n Ärmel ha' ick ihr festjehalten!«

Tage und Wochen vergingen, die Aufregung legte sich, es schien alles wieder im Geleise zu sein. Wenigstens kam es zu keinem neuen Zusammenstoß, man ging sich auffällig aus dem Wege, als könnte man sich aneinander verbrennen.

Doch da berichtete Tante Marie eines Morgens kummervoll, daß ihr »die Selje« im Traum erschienen sei und ihr Umschlagetuch wie eine schwarze Flagge geschwenkt habe. »Und allemal, wenn mia die ascheint, denn passiert wat, paßt uff, ick hab's eich vorher jesacht, det hat wat Schlechtet zu bedeiten!«

Richtig, nach den berühmten drei Tagen kam ein Brief an Herrn Gastwirt Wilhelm Lemke, und als der das unheilverkündende Siegel abgemacht und das Schreiben gelesen hatte, sagte er: »So – nu jeht der Tanz los, nächsten Sonnabend is die Vahandlung!«

Onkel Karl, der am Abend in der »unterirdischen Tante« erschien, las das Schreiben sorgfältig und sagte: »Willem, hör uff mia, ick meene et doch jewiß jut mit dia, ick werd dia morjen eenen Rechtskonsulenten schicken, der dia jenau saren wird, wieste dia vor Jericht zu vahalten hast, sonst schlidderst du rin, und die vadammte Bande triumfiert iba dia!«

»Schick'n man her«, sagte Anna, »schaden kann et ja nischt, und bessa is bessa!«

»Ja – et is een sehr jesetzeskundjer Mann, der mit alle Parajrafen jenau Bescheed weeß«, sagte Onkel Karl. »Und denn keene Bange nich, Willem, die Unschuld muß ja siejen, und die Kufahl, wenn se det wirklich beschwört, kommt wejen Meineid ins Zuchthaus, det kann ick dia heite schon saren, denn ick weeß ooch Bescheed, for dumm soll mia keena nehmen!«

Aber der »Jesetzeskundje«, ein altes vertrocknetes Männchen, das nach Alkohol roch, war ganz anderer Ansicht. Als er am nächsten Abend in der »unterirdischen Tante« erschien, legte er eine dicke, schwarze Glanzledertasche auf den Stammtisch, nahm ein Quittungsformular und sagte düster: »Zuerst die Jebühren! – Zwee Tala! Sie sind der Jastwirt Lemke – jeboren wann? – wo? – vaheiratet mit? – wat is Ihr Vata? – lebt Ihre Mutta noch? – wie oft vorbestraft? – – So – und nu merken Se sich mal, wat ick Sie jetz sare, aba merken Se't ooch wirklich: Vor Jericht sieht allet anners aus, a's wie't is – haben Se det vastanden? Zweetens: Vor Jericht jilt nua, wat die Zeijen aussaren – haben Se det kapiert? Scheen, wo sind Ihre Zeijen, und wer sind Ihre Zeijen? Sie können sich dabei setzen, aba vor Jericht missen Se stehn – det is sehr wichtich, merken Se sich det, sonst werden Se wejen Unjebühr bestraft, und den Hut ab, um Jottes willen, Mann, den Hut ab, jetz können Se de Mütze uffbehalten, merken Se sich det, det is sehr wichtich!«

»Ick hab keene Zeijen«, sagte Wilhelm, »ick wollte det allet selbst bezeijen!«

»Mensch – Se haben keene Zeijen?« Der Gesetzeskundige packte seine Glanzledertasche zusammen und griff nach dem Hut, als wollte er gehen.

»Villeicht trinkt der Herr eenen Kümmel«, sagte Anna, die bestürzt zugehört hatte. »Oda villeicht jenehmicht der Herr wat anneres, wia haben ooch Spirituosen und annere Sorten geistje Jetränke.«

Der Gesetzeskundige sah sie streng an, dann sagte er: »Eijentlich jehört sich det ja nich bei sonne ernste Sache, und ick sare Sie det im juten: Trinken Se sich um Jottes willen keene Kurasche an vor die Vahandlung – sonst sind Se jleich unten durch, denn det riecht man. Also, haben Se'n Likör? 'n Jrog wär ma freilich lieba!«

Und als das dampfende Glas vor ihm stand, sagte er, als könne er das gar nicht fassen: »Se haben keene Zeijen? Und wie wollen Se denn wat bezeijen, wo Sie janich derfen – Se sind doch Anjeklachta, Se können azehlen, wat Se wollen, keen Mensch jloobt Ihn'n wat, det is allens Schwindel!«

»Aba die Wahrheet muß doch siejen«, sagte Anna, »die Sonne bringt doch allens an'n Tach, hab ick in die zweete Klasse jelernt!«

»Vor Jericht nich, da jilt nua, wat die Zeijen aussagen. Und Sie haben keene, folchlich werden Sie vaurteilt, und zwar nach Parajraf – warten Se mal!«, er schlug in einem schwärzlich und fettig aussehenden Buche nach, »und zwar nach Parajraf 223 bis 233. Passen Se uff: ›Wer vorsätzlich einen anderen körperlich mißhandelt oder an der Jesundheit beschädigt, wird wejen Körperverletzung mit Jefängnis bis zu drei Jahren bestraft.‹ Warten Se mal: ›Sind mildernde Umstände vorhanden', er suchte eifrig, »det Jeringste, wat Se kriejen können, is een Monat Jefängnis. Also, den haben Se sicha, da is janischt mehr jejen zu machen. Und nu wollen wa mal sehen, ob wa mildernde Umstände rauskriejen. Ihre Frau kann mia noch 'n Jlas Jrog jeben, und denn schildern Se mia mal den Vorjang, aba bleiben Se bei de Wahrheet, setzen Se nischt hinzu, und verschweijen Se nischt, wie't vor Jericht heeßt!«

Und dann begann Wilhelm nochmals die ganze Geschichte zu erzählen.

»Wenn ick ehrlich sind soll«, sagte der Gesetzeskundige, »denn steht Ihre Sache nich jut. Wir wollen mal jetz noch 'n Lokaltermin abhalten, führen Se mia nach den Hausflur, damit ick die Sachlare aus'n Tatort beurteilen kann!«

Als sie hinaus waren, sagte Anna zu der stumm die Hände ringenden Tante Marie: »Wenn Willem int Jefängnis kommt, denn muß die Bande int Zuchthaus!«


 << zurück weiter >>