Paul Grabein
Ursula Drenck
Paul Grabein

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20. Kapitel.

»So! Nun ist's aber genug! Das Fieber ist vollkommen heruntergedrückt, der Puls wieder normal – die Gefahr gänzlich vorüber. Jetzt bedarf's Ihrer Hilfe nicht mehr. Die Patientin wird ein paar Stunden festen Schlaf haben. Nun, und für alle Fälle werde ich die Schwester du jour noch anweisen, öfters mal nach ihr zu sehen. Kommen Sie – Sie haben die Ruhe wahrhaftig nötig nach diesen letzten, schweren Nächten!«

Wigand wollte Ursula mit sanfter Gewalt aus dem Zimmer führen, dessen Bewohnerin in der Tat, den Kopf tief in die Kissen gedrückt, nunmehr im Schlummer lag. Ursula stand noch am Bett, mit unhörbaren Griffen die Tücher und Binden wegräumend, die sie zu kalten Umschlägen für die Patientin benutzt hatte.

Seit acht Tagen vertrat Ursula die Freundin in ihren Funktionen als Oberin in der Klinik, da Fräulein von Rommertz eine dringende Reise in Familienangelegenheiten hatte antreten müssen. Ursula hatte gern die Gelegenheit benutzt, wieder einmal ihre Kenntnisse als Pflegerin zu betätigen, die sie während des ganzen, nun bald beendeten Trauerjahres ja ganz hatte einrosten lassen. Mit hohem Eifer hatte sie sich aller Geschäfte der abwesenden Oberin angenommen; daneben hatte sie aber auch noch, trotz aller Mahnungen Wigands, persönlich eine Pflege übernommen.

Es war allerdings ein ganz besonderer Fall, der ihr herzlich naheging. In der Klinik befand sich nämlich eine junge Frau mit zwei reizenden, kleinen Kinderchen, die an Diphtherie erkrankt gewesen waren. Nun waren sie fast wieder ganz hergestellt, da war aber plötzlich die Mutter selbst, die in rührender Aufopferung nicht von ihrem Krankenlager gewichen war, auch noch erkrankt, und zwar leider ungewöhnlich ernst. Ein paar Tage hatte die arme junge Frau in schwerer Gefahr geschwebt, bis heute nacht endlich die Krise eingetreten war und nun sich alles wieder zum Guten kehren würde. Ursula hatte es sich nicht nehmen lassen, persönlich diese Patientin zu pflegen, die sie um der reizenden Kleinen willen selber sehr liebgewonnen hatte. Mit bewundernswerter Hingabe hatte sie ihre Zeit und Sorge zwischen Kindern und Mutter geteilt; den ganzen Tag war sie um diese oder jene, die Nächte aber brachte sie ganz am Bett der schwer fiebernden Mutter zu.

Es waren in der Tat so ganz unerhörte Strapazen gewesen, denen sich Ursula freiwillig unterzogen hatte, und Wigands Mahnung zur Schonung ihrer Kräfte war nur zu sehr berechtigt. Doch sie konnte sich auch jetzt noch nicht entschließen, ihr zu folgen.

»Bitte, lassen Sie mich doch hier bleiben!« bat sie leise Wigand. »Habe ich so lange hier alles allein besorgt, wird es die paar Stunden ja auch noch gehen. Sie wissen ja doch, wie sehr ich nun mal an meiner lieben Patientin hier hänge! – Ich verspreche Ihnen ja auch, mich niederzulegen.« Sie wies, ihn beschwichtigend, zur Chaiselongue hin. »Ganz gewiß, ich werde schon schlafen – nur zur Hand sein möcht' ich, für alle Fälle!«

Wigand gab nur ungern nach. »Das wird doch kein vernünftiger Schlaf« – er schüttelte den Kopf – »das kenn' ich schon. Aber – wenn Sie denn durchaus wollen! Doch Sie müssen sich sofort legen – gleich, sonst glaub' ich's Ihnen nicht!«

»Nun, wenn Sie es wirklich beruhigt!« Ein leises Lächeln flog über Ursulas blasses, aber glückliches Gesicht – sie war ja so froh, daß ihnen der Kampf mit dem hartnäckigen Fieber nun doch geglückt war! – und sie trat gehorsam zur Chaiselongue, schlug die Schlafdecke um ihren Körper und legte sich so wirklich nieder. Es geschah ganz unbefangen, wie etwas Selbstverständliches – hatte sie doch in den Lehrjahren im Schwesternhause sich daran gewöhnt, in den Ärzten nur Kameraden, Berufsgenossen zu sehen, vor denen eine gesellschaftliche Gêne einfach lächerlich war. Und mit Wigand hatte sie jetzt schon acht lange, arbeitsschwere Tage so Schulter an Schulter gestanden.

»Recht so!« lobte er und nickte ihr freundlich zu. »Sie müssen sich mir erhalten. Was sollte ich wohl anfangen, wenn Sie mir nun auch noch zusammenklappen wollten?« Fräulein von Rommertz mußte voraussichtlich noch eine volle Woche fortbleiben. »Und wir haben uns doch so schön eingearbeitet – nicht? Es ist wirklich erstaunlich, wie spielend schnell Sie sich hier hineingefunden haben! Ich muß Ihnen ganz offen sagen: Ich arbeite viel lieber mit Ihnen, als mit Fräulein von Rommertz. Sie ahnen ja förmlich schon immer, was ich will.«

Eine feine Röte war in Ursulas Antlitz gestiegen, eine Röte des Stolzes, des Glücks über sein Lob. Sie nahm seine Worte ganz so auf, wie sie gemeint waren, als eine nur vom Arzt der Oberin ausgesprochene Anerkennung, bei der alles Persönliche ausgeschaltet war. Während Wigand so sprach, war er zum Fenster gegangen, die Vorhänge dichter gegen das hereindämmernde Morgenlicht zu schließen, und nun trat er an die Chaiselongue. Vorsorglich breitete er die Decke höher über ihre Schultern, und nun reichte er ihr noch ein weiches Kissen zu, das im Sessel gelegen hatte.

»Bitte, Sie liegen ja so hart mit dem Kopf.«

»Vielen Dank!« Ursula flüsterte es leise. Diesmal vermied sie es, ihn anzusehen, sondern kehrte den Kopf auf dem Kissen rasch ab, nach der Wand zu. In dieser Fürsorge für ihre Person – so schien es ihr – lag jetzt mehr, fast eine geheime Zärtlichkeit.

»Recht gute Ruhe denn!« Im Fortgehen wünschte er es ihr, in der Dämmerung noch einmal zu ihr hinblickend. Nun tat sich leise die Tür hinter ihm zu.

Ursula schloß die Augen. Mit einem wohlig-süßen Gefühl schmiegte sie sich in die weiche Decke, die er so vorsorglich um sie gebreitet hatte. Ach, wie tat das wohl, mit den abgematteten Gliedern so aufgelöst zu ruhen, im frohen Bewußtsein, sich diese Ruhe ehrlich verdient zu haben! Nun recht, recht schön schlafen – einen tiefen, erquickenden Schlummer ein paar Stunden lang, um nachher wieder frisch aufzuspringen zu neuer, froher Pflichterfüllung!

Aber der Schlaf kam nicht. Wohl war sie körperlich so matt, aber die Gedanken waren noch so wach. Das zog unaufhörlich an ihr vorüber – all die Eindrücke dieser acht Tage, die sie nun in der Klinik hier weilte, täglich, fast stündlich an Wigands Seite – die letzten drei Nächte nahezu ununterbrochen allein mit ihm in dem schweigenden, schlummernden Hause. Sie beide allein wach, beseelt von derselben Sorge und demselben Bestreben, in treuer, guter Kameradschaft hart kämpfend mit der heimtückischen Krankheit, die drohend ihre Fänge nach der blühenden jungen Frau und Mutter da ausgestreckt hatte.

Wie schön das gewesen war, dieses treue Zusammenhalten, dieses stumme Sichverstehen und Handinhandarbeiten! Ein Blick hatte oft nur für sie genügt, sich zu verständigen. Wie stolz war sie darauf gewesen, wenn sie so seine Wünsche schnell erraten und ihm die nötige Handreichung schon gemacht hatte, ehe er noch ein Wort gesagt hatte.

Und nun hatte sie ihn in dieser Zeit erst so recht kennen gelernt! In seiner ernsten, selbstsicheren Ruhe, die etwas so Tröstliches in sich barg. Man gewann mit dem Augenblick, wo er nur ins Zimmer trat, gleich ein solches Vertrauen: Nun ist der Helfer da, nun wird bald alles besser werden. Und seine gütige, herzliche Art! Die Patientinnen schwärmten alle für ihn; jede hatte das Gefühl, daß er ihrem Falle ein ganz besonderes Interesse entgegentrüge. Wirklich, er war der geborene Arzt. Es mußte ordentlich eine Freude sein, sich von ihm behandeln zu lassen. Es war ihr ja selbst lächerlich, aber wenn sie so an vorhin dachte, wie er so zart für sie gesorgt hatte – sie könnte sich wahrhaftig wünschen, selbst einmal krank zu sein, um recht lange dieser seiner Sorge teilhaftig zu werden! –

Wie beneidenswert war doch eigentlich Beate von Rommertz, daß sie so immer mit ihm zusammen sein durfte! Fast ein Vierteljahr hatte die Freundin nun schon mit ihm die Klinik. Wenn sie doch immer an ihrer Stelle sein könnte, so wie jetzt die zwei Wochen der Vertretung! Ein leiser Seufzer hob Ursulas Brust. Das wäre freilich etwas anderes, das sie unendlich viel glücklicher machen würde als das Arbeiten mit wildfremden, ihr vielleicht ganz unsympathischen Ärzten im Diakonissenhaus, wo sie ja nun in kürzester Frist eintreten sollte! –

Wieder seufzte Ursula, diesmal aber schwer und bang. Zum ersten Male sah sie das Leben, das ihr bevorstand, in seiner unverhüllten, traurig-ernsten Gestalt, und ein leises, geheimes Grauen schlich an ihr hoch.

 


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