Paul Grabein
Ursula Drenck
Paul Grabein

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19. Kapitel.

Mit schnelleren Schritten als am Vormittag stieg Wigand in der sechsten Nachmittagsstunde die Treppen zur Drenckschen Wohnung hinauf. Kaum heute mittag heimgekommen, hatte er Ursulas Depesche erhalten. Er war mehr als erstaunt, im Innersten betroffen gewesen über dies Telegramm. Was hatte das zu bedeuten? Eine Mitteilung von höchster Wichtigkeit wollte sie ihm machen, und dazu der warme, herzliche Ton der eiligen Botschaft! Was konnte das sein?

In Wigands Herz begann eine tiefgehende Unruhe zu wogen – wie sehr er auch grübelte, es ergab sich für ihn aus ihren Worten nur immer der eine Sinn. Aber, mein Gott, das, das konnte nicht sein! Nein, nein – fort mit solchen Torheiten! Er war gerade froh genug, daß er das wenigstens abgetan hatte für immer; nun nur nicht wieder erst daran rühren.

Aber was wollte sie denn von ihm? Vielleicht seinen ärztlichen Rat oder seine Hilfe als Mensch – doch sonderbar, das so plötzlich nach ihrem mehr als kühlen Sichgeben heut am Vormittag! Nun, sei es, was sei – sie sollte nicht vergebens nach ihm verlangt haben. Er wollte hören, was sie ihm zu sagen hatte. So war er denn am Nachmittag wieder hereingefahren und stand nun abermals vor ihrer Tür.

Das hätte er nicht gedacht, daß er hier so schnell zum zweiten Male stehen würde. Er mußte es denken, wie seine Hand nun wieder die Klingel zog. Nun, nur ruhig geblieben, ganz ruhig – ohne lächerliche Erwartungen. Er rief es sich im letzten Augenblick noch einmal zu, ehe sich ihm die Tür dann öffnete.

Wigand fand beim Eintreten in den Salon Ursula allein vor. Schnell kam sie auf ihn zu – schon diese erste Bewegung sah ganz anders aus wie heute vormittag; da hatte sie ihn so gemessen an sich herankommen lassen – und bot ihm freundschaftlich die Hand.

»Ich danke Ihnen herzlichst, daß Sie gekommen sind, und so schnell!« Ihr Ton war ein so warmer, natürlicher, und frei blickte ihn dabei ihr Auge an – war sie sich doch ihres uneigennützigen, guten Vorhabens bewußt. »Bitte« – sie lud ihn zum Sitzen ein – »Tante wird auch gleich kommen, sie läßt sich nur eine Minute noch entschuldigen. Einstweilen müssen Sie mit mir allein fürliebnehmen.«

Ein leises, fast schelmisches Lächeln zog wie ein Hauch sekundenlang um ihre Lippen, ihr Antlitz liebreizend aufhellend. Sie mußte nun doch daran denken, daß hier dieses erste Tete-a-tete zwischen der Tante und ihr natürlich verabredet war.

Mit steigendem Staunen und zugleich einem ihn so wunderbar durchwärmenden Gefühl sah Wigand ihr so verändertes, anmutendes Wesen. Wie sie sich so gab, besonders jetzt aber, wie sie so sekundenlang lächelte, erinnerte sie ihn so lebhaft an ihre Mädchenzeit, an die Zeit süßer Jugendblüte. Dazu der altvertraute Raum – sie beide darin wieder allein – es war doch gut, daß ihn das dunkle Trauergewand und nun auch wieder ihr ernsteres Gesicht daran mahnten, daß es nicht mehr die Ursel von damals war, der er hier gegenübersaß wie einst.

Mit einer leisen Verneigung, er selber ernst bleibend, hatte er auf ihre kleine Schelmerei erwidert; nun ging er zum Hauptpunkt über:

»Sie wünschten mich dringend zu sprechen. Es war nur selbstverständlich, daß ich sofort kam. Und womit kann ich Ihnen nun dienen?«

Er dachte also wirklich, sie bedürfe seiner, er solle ihr einen Dienst erweisen. Gut! Man mußte ihn in dem Glauben lassen, die ganze Sache so hinstellen, als würde er mit der Annahme ihres Vorschlags mehr ihr und ihrer Freundin als sich selbst einen Gefallen tun. Und schnell sprach sie nun in dem Sinne:

»Ein sonderbares Spiel des Zufalls hat es heute gefügt, daß unmittelbar, nachdem Sie fort waren, eine liebe Freundin mich aufsuchte mit einer großen, wichtigen Neuigkeit. Es ist ein Fräulein von Rommertz, mit der ich zwei Jahre zusammen im Schwesternhause ausgebildet worden bin.«

Wigand sah sie überrascht an: »Wie – Sie als Krankenschwester ausgebildet?« Doch Ursula fuhr, dessen nicht achtend, interessiert fort:

»Fräulein von Rommertz trägt sich seit langem schon mit einem großen Plan. Sie ist sehr vermögend und hat zahlreiche gesellschaftliche Beziehungen, darunter solche zu vielen unserer ersten ärztlichen Autoritäten, dazu ihre fast angeborene Vorliebe für den Pflegerinberuf – so ist es wohl ganz natürlich, daß es ihr immer als Ideal, als schönstes Lebensziel vorgeschwebt hat, sich einmal einen Wirkungskreis zu schaffen, wo sie diesen Pflegerinberuf mit vollster Hingabe, zugleich aber auch mit voller Selbständigkeit ausüben könnte. Nun ist meine Freundin durch das Verfügbarwerden eines bisher anderweitig angelegten größeren Kapitals, wie sie mir heute anvertraute, in die Lage versetzt, einen lang gehegten Herzenswunsch endlich auszuführen: Sie will sich nämlich eine Privatklinik für Frauen und Kinder einrichten – der Plan ist schon von ihr in allen Einzelheiten genau erwogen worden. Patienten sind ihr von den befreundeten Ärzten vielfach in Aussicht gestellt, das nötige Pflegerinnenpersonal würde in bester Auswahl zur Stelle sein, die geeigneten Räumlichkeiten wären auch da, kurz: es fehlt ihr nur eins: der behandelnde Arzt. Fräulein von Rommertz könnte ja freilich mit Leichtigkeit einen solchen finden. – Die genannten Ärzte würden ihr eine große Zahl von jüngeren Kollegen empfehlen können – aber meine Freundin hat in dieser Beziehung ganz besondere Wünsche. Sie möchte nur mit einem schon gereifteren, erfahrenen Arzte zusammenarbeiten, einem Herrn von ernstem, ihr durchaus sympathischem Charakter, der außerdem bereits eine langjährige Praxis als leitender Arzt einer Klinik oder eines Sanatoriums mit sich bringt. Nun ist das aber gerade nichts weniger als leicht. Erstens einmal die ihr sympathische Persönlichkeit zu finden und dazu diese gründliche Erfahrung! Herren, die eine solche haben und wirklich tüchtig sind, haben ja meist auch eine feste, aussichtsvolle Position inne, die sie nicht so ohne weiteres aufgeben werden für ein neues Unternehmen, das seine Lebensfähigkeit doch immerhin erst beweisen soll, obwohl, ich betone das nochmals, die Aussichten die allerbesten sind. Es könnten also nur ganz besondere Umstände den geeigneten Mitarbeiter meiner Freundin zuführen.«

Ursula machte eine kurze Pause; nun heftete sie die Blicke voll auf Wigand. »Diese Mitteilungen beschäftigten mich begreiflicherweise sehr lebhaft, und nun kam dann meine Tante gerade heim, und von ihr erfuhr ich jetzt erst, was Sie in letzter Linie bewogen hat, aus der Heimat fortzugehen. Da schoß es mir sofort durch den Kopf: Welch glückliches Zusammentreffen! Sie wären ja ganz die Persönlichkeit, wie meine Freundin sie braucht! Und andererseits, Sie fänden so einen Wirkungskreis, der Sie – nach meiner Meinung – doch gewiß voll befriedigen könnte. Sie brauchten so nicht den doch ungewissen, folgenschweren Schritt in die Fremde zu tun – Sie blieben der Heimat erhalten! – Sehen Sie, das war sofort mein Gedanke, auch Tante Marie stimmte mir gleich aufs lebhafteste bei, nun und so erlaubte ich mir dann, Sie telegraphisch herzubitten. Hoffentlich sind Sie mir nun nicht böse über meine Dringlichkeit?« Sie sah ihn mit einem warm aufleuchtenden, dringlich bittenden Blick an. »Ich würde mich ja so freuen, wenn ich meiner Freundin bei ihrem großen Vorhaben helfen könnte. Ich habe mir sogar schon erlaubt – allerdings etwas voreilig, nicht wahr? – ihr von Ihnen zu sprechen, in der Freude über meinen glücklichen Einfall. Wenn Sie mich nun doch nicht im Stich lassen wollten! – Wäre denn das wirklich nichts für Sie?«

Ihre Miene überschattete sich plötzlich wieder in leiser Angst; denn sie hatte gesehen, wie sein Gesicht im Zuhören nach einem ersten, hellen Aufleuchten immer ernster und ernster wurde. Nun erwiderte er langsam:

»Ich danke Ihnen aufrichtig – wirklich aufrichtig – daß Sie an mich gedacht haben. Und Sie haben recht: Ja, diese Tätigkeit könnte mich wohl sehr locken, aber – es ist nun zu spät, um diesen freundlichen Vorschlag anzunehmen.«

Ursula war zusammengefahren. »Aber warum zu spät? Wegen Ihrer Meldung zur Schutztruppe etwa?«

Es war dies zwar nicht der einzige, nicht der ausschlaggebende Grund, aber Wigand nickte doch zustimmend. Immerhin, mochte sie es so glauben!

»Aber Sie sind ja noch gar nicht angenommen! – Also, wenn Sie sofort hingingen, Ihre Meldung zurückzögen« –

Mit erregter, angstvoller Bitte streckte ihm Ursula unwillkürlich die Hände entgegen.

Ein kurzer Kampf – er konnte ihr doch seine innersten Empfindungen nicht preisgeben – und Wigand beharrte bei seinem Weigern.

»Wenn auch noch nicht offiziell übernommen, so darf ich doch so gut wie sicher auf meine Einstellung in die Schutztruppe rechnen. Ich habe alle möglichen Leute im Kriegsministerium deswegen in Anspruch genommen, mich mehrfach persönlich bemüht – mit einem Wort, es wäre mir höchst peinlich – ich kann eben nicht mehr zurück!«

Entschlossen, um seinem eigenen letzten, leisen Schwanken im Innern ein Ende zu machen, richtete er sich bei dieser Erklärung auf. Aber Ursula gab den Kampf noch nicht verloren; fast flehend bat sie ihn:

»Aber das alles kann doch wirklich nicht in Betracht kommen, wo es sich um Ihre ganze Zukunft, Ihr Lebensglück handelt!«

»Mein Lebensglück?« Es wetterleuchtete düster in seinem Gesicht auf, und sekundenlang brannte sein schmerzerfüllter Blick auf ihren Zügen. Es war, als ob er noch etwas hatte sagen wollen, aber nun zuckte er schweigend die Schultern und blieb stumm. Doch der bittere Ton und diese Gebärde hatten ihr genug gesagt; sie wußte nun, was ihn in Wahrheit hinderte.

Einen Moment rang Ursula, sehr blaß geworden, mit ihrer Scheu; aber sie hatte es sich ja gelobt: sie wollte alte Schuld gutmachen, also fort mit allen kleinlichen Bedenken! Und leise sprach sie:

»Ich verstehe Sie, und glauben Sie mir: Ich verstehe Sie ganz. Denn ich teile Ihr Los – auch ich habe ein verlorenes Glück zu beklagen.« Einen Augenblick schwieg sie, schwer atmend. »Aber darf uns das bestimmen, uns selber aufzugeben, uns irgendwohin in die Brandung treiben zu lassen – aufs Geratewohl? Nein, wir haben die heilige Pflicht gegen uns selbst, uns durchzukämpfen, nach dem Ziel hin, wohin uns unsere Lebensaufgabe weist! Die Ihre fordert es wirklich nicht, daß Sie sich in ein halbabenteuerliches Dasein, in ein Spiel um Gesundheit und Leben stürzen – nun, wo jeder zwingende Grund fehlt, wo sich Ihnen im Gegenteil so schöne Hoffnungen unvermutet erschließen? Ich kann es mir auch nicht denken – ich kann mich nicht so in Ihnen täuschen: Sie sind doch Manns genug, sich nicht von Stimmungen treiben zu lassen. Ihr Wille ist stärker – Sie werden tun, was die Pflicht gegen sich selbst, gegen die, die Ihrer Kunst in der Heimat bedürfen, Ihnen klar vorschreibt! – Habe ich nicht recht?«

Wigand antwortete nicht gleich; fast finster blickte er vor sich hin. Stimmungen, hatte sie gesagt. Stimmungen! Ahnte sie denn nicht, daß es etwas anderes tief Wurzelndes, Gewaltiges war, das ihn forttrieb aus der Heimat, aus ihrer Nähe? Je mehr sie sich ihm jetzt wieder aufschloß in ihrem innersten Wesen, desto verzweifelter schrie es ja in seinem Innern: »Das alles, alles war einst dein, ist dir nun verloren!« – Das war es ja! Er fühlte nicht die Kraft, in ihrer Nähe zu leben, um ewig nur an den unvergeßlichen Verlust erinnert zu werden.

Und doch, wie sie da eben zu ihm sprach! Wie sie sich als seine Leidensgenossin hinstellte an seine Seite, die an demselben unstillbaren Weh litt, wie sie ihm in stummer Kameradschaft die Hand bot, wie sie hochaufgerichtet, stark und hoheitsvoll ihm voranschritt auf dem Leidenswege – wollte er da zurückbleiben, wollte er schwächer sein als sie, die zarte Frau?

Sein Blick suchte den ihren, und ihr Auge hielt ihm mit einem klaren, großen Ausdruck stand: »Bist du mir ebenbürtig, so zaudere nicht länger!« Da schwoll es erhebend, begeisterungsfreudig in ihm auf. Ja, bei Gott! Sie sollte sich nicht in ihm getäuscht haben – er folgte ihr auf dem Wege, den sie ihm wies!

Mit einer aus dem tiefsten Innern kommenden Bewegung streckte er ihr seine Rechte hin:

»Ich danke Ihnen von ganzem Herzen für Ihren Vorschlag und für Ihre Meinung von mir! Ich hoffe, mich Ihrer würdig zu erweisen. Ich nehme Ihr Anerbieten an.«

Impulsiv erwiderte Ursula seinen Händedruck, und froh leuchtete es in ihren Augen auf.

»Ich wußte es ja! – Wie ich mich nun freue, für Sie – und für meine Freundin!«

»Das heißt, wenn ich Fräulein von Rommertz auch wirklich konveniere, die von ihr gesuchte ›sympathische Persönlichkeit‹ bin!« Er lächelte leise, aber doch in einem nun aufsteigenden neuen Bedenken. »Wir machen hier doch eigentlich die Rechnung ohne den Wirt.«

»O, dafür stehe ich!« Ursula versicherte es eifrig, fast schalkhaft. »Meine Freundin urteilt ganz so wie ich. – Aber nun müssen wir doch Tante Marie gleich die frohe Neuigkeit mitteilen. Bitte – nur einen Augenblick! Gleich bin ich mit ihr wieder da.«

Ihm mit strahlendem, freudegerötetem Gesicht noch einmal zuwinkend, eilte sie leichtfüßig aus dem Zimmer. In der Herzensfreude, daß ihr das schwere Werk glücklich gelungen, war sie wieder ganz jugendlich geworden.

Ernst sah Wigand der davoneilenden, noch so mädchenhaften Gestalt nach. Er empfand nur zu deutlich die jugendliche Anmut ihres freudebeschwingten Wesens; aber dies Empfinden sollte fortab keine geheime Zärtlichkeit, kein verzehrendes Sehnen und Verzichten mehr bei ihm wachrufen. Wie eine gute Kameradin, wie eine Schwester wollte er sie fortab nur noch betrachten – wunschlos!

 


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