Paul Grabein
Ursula Drenck
Paul Grabein

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16. Kapitel.

In ihrem dunklen Zimmer saß Ursula am Fenster, mit fiebernden Pulsen Drencks Rückkehr aus dem Speisesaal erwartend. Sie scheute sich vor dem Licht. Nein, nein, im Dunkel sollte das alles bleiben, was da in ihr wogte.

Wie äußerlich ruhig und beherrscht sie auch vorhin drunten das Musikzimmer verlassen hatte, die Begegnung da eben mit Wigand hatte ihre Seele ja von Grund aus aufgestört. Sie fühlte ja alles um sich herum wanken – der Boden, auf dem sich ihre Existenz seit ihrer Trennung von Wigand damals aufgebaut hatte, war ins Gleiten geraten. Mein Gott, woran sich nur noch halten in diesem Chaos ihrer Empfindungen!

Das, was sie damals auf die Bahn getrieben hatte, wo sie nun jetzt elend zu erliegen drohte, das war eine Täuschung gewesen – ein furchtbarer Irrtum: Nicht aus Gefühllosigkeit, weil er sie kaltherzig aufgab, war Wigand damals davongegangen – nein, gerade weil er sie liebte, weil er dem Anblick der verlorenen Geliebten nicht gewachsen war!

Mein Gott, mein Gott, wenn sie das damals hätte ahnen können! Dann hätte sich ja ihre verzweifelnde Liebe nie von ihm gewandt, dann hätte sie auf ihn gewartet, Jahr für Jahr, getreulich, bis zur Gelegenheit einer Aufklärung – dann hätte sie sich ja auch nie zu dem Schritt ihrer Verzweiflung hinreißen lassen, sich für Drenck zu opfern! Das war ja nur alles damals in dem Gefühl geschehen: Es ist ja nun doch alles verloren!

So geliebt hatte Wigand sie – daß er an ihrem Verlust fürchtete zugrunde zu gehen, und diese Liebe hatte sie in jugendlicher Überschwenglichkeit eines törichten Gefühls frevelnd zurückgestoßen! So geliebt war sie worden, sie, die sie jetzt so bettelarm an Liebe durchs Leben ging! Verloren – verscherzt solch Glück!

Mit brennenden, tränenleeren Augen starrte Ursula hinaus ins Dunkle. Plötzlich schoß ihr ein Gedanke durchs Hirn: jenes Gerede, das hier im Haus ging über Wigand, von seiner unglücklichen Liebe – es war also doch wahr! Sie – sie! Er hatte sie nie vergessen, er liebte sie heute noch!

Mit wild pochendem Herzen sprang sie auf.

Noch einmal durchjagten alle Momente der Begegnung zwischen ihnen da drunten ihre Erinnerung: wie er zitternd, flehend vor ihr gestanden, wie es voller Verzweiflung aus ihm geschrien hatte: »Ich kann ja nicht von dir lassen, sei wieder mein!« Und wie er sie an sich gerissen hatte mit seiner über alles hinwegbrausenden Leidenschaft!

Sie schloß die Augen – noch jetzt durchrieselte sie der Schauer.

So liebte er sie, noch jetzt! Wenn sie nur ein Wort sprach, so gab es kein Hindernis, das er nicht niederriß mit seinen starken Händen, um ihr die Freiheit zu verschaffen. Sie fühlte es, sie wußte es.

Und wieder schossen ihr – gegen den eigenen Willen, ihr selbst zum Schrecken – die Gedanken durch den Kopf, jene dunklen Gedanken, die sich vorher da unten, gerade, ehe er kam, zu ihrem Entsetzen ihrer bemächtigt hatten: Wenn sie nur frei würde – jetzt wäre ja die Zukunftsstätte da, an die sie sich hätte retten können! Wenn sie nur wollte.

Und wollte sie es?

Ein Schwindel kam über Ursula. Sie fühlte es aus ihrem tiefsten Innern plötzlich heraufbrodeln mit dunkler, unheimlicher, wachsender Gewalt. Was da jahrelang gelegen hatte für tot, begraben, es begehrte jetzt wieder ans Licht, zu neuem Leben erweckt durch den zündenden Funken der Leidenschaft, die da aus einem anderen Herzen ihr entgegengeloht war. Ja, ja – die Liebe in ihr zu Wigand war nicht tot! Falscher Stolz nur hatte sie grausam eingesargt. Nun aber erhob sie sich aus der Gruft und forderte bleichen Antlitzes drohend ihr Recht!

Ihr Recht? Barmherziger Gott, was wollte sie denn? Diese Liebe hatte ja kein Anrecht mehr an sie! Sie gehörte ja einem anderen, und der würde sie nie, nie hergeben, wenn er merkte, zu welchem Zwecke. Und sie würde nun überhaupt auch nicht mehr den Mut haben, Fred um ihre Freiheit zu bitten. Ja, vor einer Stunde noch, als sie nichts mehr für sich begehrte, da hätte sie wohl offen vor ihren Mann hintreten können und ihm sagen: »Laß unsere Wege sich wieder trennen, daß wir uns nicht weiter miteinander quälen!« Aber jetzt? Und sie konnte ihn doch nicht belügen, ihm verheimlichen, welch Wünschen und Hoffen da plötzlich in ihr auferstanden war?

Nein, niemals! Sie hätte sich selbst nicht mehr achten können. Weg, weg also mit allem Hoffen und Wünschen, zurück in eure Gruft, ihr müßt wirklich tot sein – für immer!

Und doch, und doch! Wie dämonisch grausam: Noch einmal eröffnete sich ihr in ihrem trostlosen Dunkel ein lockendstrahlender Ausblick ins Licht, nur um sich hohnvoll gleich wieder zu verschließen! – Mußte es denn wirklich sein?

Stöhnend, qualzerrissen irrte Ursula in dem dunklen Gemach einher. Daß doch nur Fred endlich käme, daß sie handeln, diesem martervollen Hin und Her ihrer Gedanken ein Ende machen könnte.

Aber was sollte sie ihm sagen? Das alles, was ihr begegnet, was ihre Seele in dieser Stunde durchflutet hatte? Nein, nein – das war sie ihm nicht schuldig, der sich ihrer Seele so entfremdet hatte. Es genügte, wenn sie ihre Pflicht gegen ihn tat, still ihr Begehren niederzwang. Nur sagen wollte sie ihm: »Ja, ja, fort von hier – gleich morgen! Wohin du willst! Alles soll mir recht sein. Nur fort!«

Wo blieb Fred denn nur? Lauschend trat Ursula an die zum Korridor führende Tür ihres Zimmers. Alle anderen waren doch nun schon aus dem Speisesaal wieder heraufgekommen – sie hatte deutlich die Schritte draußen vernommen, die Türen schlagen hören – nur er kam nicht!

Wieder wartete sie fünf Minuten – zehn – dann machte sie Licht und klingelte nach dem Mädchen, das alsbald erschien und Auftrag erhielt, unten nach dem Herrn zu sehen.

Es dauerte nicht lange, so kam die Botin zurück: Herr Leutnant wäre ausgegangen; er hätte bei Tisch seine Absicht geäußert, hinunter nach Montreux zu gehen, um noch ein Glas Bier mit den deutschen Herren in der Tonhalle zu trinken, die dort allabendlich am Stammtisch zusammenkämen.

Ein Schrecken durchfuhr Ursula bei dieser Meldung. Sie wußte nur zu gut, wie das alles zusammenhing: Fred war aus Ärger, aus Zorn über sie – die ihm mittags ja die Gelegenheit zu einer Versöhnung verweigert hatte – fortgegangen. Dazu noch die verzweifelte Stimmung nach Wigands ernster Erklärung heute morgen – kein Zweifel, Fred spielte jetzt wirklich va banque mit seinem Leben. Genießen wollte er unbedenklich, was noch zu genießen war, in froher Zecherrunde sein Elend vergessen, den Zwist mit seinem Weibe – so lange es eben ging, und dann – après nous le déluge!

Von furchtbarer Angst, von heftigen Selbstvorwürfen gepeinigt, rang Ursula die Hände ineinander. Wenn nun etwas passierte – war sie nicht schuld daran? Warum hatte sie ihm heute mittag nicht geöffnet, als er zu ihr wollte, gewiß reuevoll, mit bester Absicht, alles wieder gutzumachen!

Wenn etwas passierte! – Nein, nein! Es durfte nicht geschehen, sie mußte es verhindern, ihm ihre Bereitwilligkeit zur Versöhnung, zur Einwilligung in seine Reisepläne mitteilen – sofort! Noch war es ja Zeit, das Unheil zu verhüten.

Mit fliegenden Händen setzte sich Ursula den Hut auf und zog den Mantel an; unterdessen entwarf sie den Plan ihres Vorhabens. Sie konnte natürlich nicht allein in der Dunkelheit jetzt nach Montreux hinunter und ihren Mann aus dem Restaurant herausholen. Aber Fräulein Zindler kam ihr zu Gefallen sicher mit und der Rittmeister auch. Er war ja so ein liebenswürdiger und feiner Mann von reifer Erfahrung – ihm konnte sie sich anvertrauen, soweit es nötig war, daß ihr Mann infolge eines ihn sehr deprimierenden ärztlichen Urteils fortgegangen sei, sich aufzuheitern, daß dies aber in seinem dringendsten Interesse verhindert werden müsse.

Und Ursula hatte sich nicht getäuscht: Sowohl Fräulein Zindler wie der Rittmeister stellten sich ihr bereitwilligst zur Verfügung. Sofort machten sich dann alle drei auf den Weg durch die nächtlichen Weinberge hindurch, die Straße zum Seeufer hinab einschlagend.

Es war ein ziemlich langer Weg, der Ursulas Ungeduld und furchtgequälte Aufregung noch steigerte. Endlich waren sie aber unten auf der Rouvenaz, der langen Villen- und Hotelstraße längs des Sees, angelangt, nun nur noch wenige Minuten, und sie standen vor der Tonhalle, deren Fenster im ersten Stock hell erleuchtet waren. Gott sei gedankt!

»So, meine Damen!« Der Rittmeister schickte sich an, allein die Treppe hinaufzusteigen. »Wenn Sie nur gütigst hier eine Minute warten wollten, gleich bin ich mit Ihrem Herrn Gemahl wieder unten, gnädige Frau. Wie gesagt – einen Moment nur!« Und schnell eilte er die Stiege hinan.

Voller Spannung harrten die Damen. Die wenigen Sekunden deuchten Ursula qualvolle Stunden. Erst jetzt, wo sie hier unten wartend stand, kam ihr die ganze Situation so recht zum Bewußtsein, woran die Angst sie bisher noch gehindert hatte. Wie entwürdigend diese Szene! Daß sie hier wie eine Arbeiterfrau vor der Schenke stand, die auf den trunksüchtigen Mann wartete, der unbekümmert sich und seine Familie zugrunde trank. Ein heißer Ekel stieg in ihr auf. Wie furchtbar erniedrigte sie doch das Leben, ihre Ehe! Nichts, nichts blieb ihr erspart! Und doch mußte sie schon dankbar sein, wenn es nur gelang, den Unseligen, an den ihr Los nun einmal untrennbar gekettet war, überhaupt nur ohne Schaden wieder herauszubekommen.

Da kamen Tritte die Treppe wieder herab. Waren sie es? Unwillkürlich trat Ursula einen Schritt näher, aber ein furchtbarer Schreck durchzuckte sie. Der Rittmeister kam allein herunter mit ernster, sehr enttäuschter Miene.

»Mein Gott – er will nicht? Er weigert sich?« Geängstigt stieß sie es hervor.

Der Rittmeister schüttelte langsam den Kopf. »Er ist gar nicht oben! Schon wieder weg!«

»Weg?« Fassungslos starrte Ursula ihn an.

»Ja – schon seit einer halben Stunde. Da kam der Assistenzarzt von uns oben – ich sprach ihn eben selbst – auch an den Stammtisch. Seine Gegenwart hat offenbar Herrn Drenck geniert: jedenfalls ist er unmittelbar darauf mit zwei jüngeren Herren, Offizieren aus Berlin, aufgestanden und weiter gegangen. Leider eine wenig geeignete Gesellschaft für Ihren Herren Gemahl, meine gnädigste Frau; denn die beiden jungen Leute, die hier mehr zum Vergnügen weilen, stehen im Rufe, arge Suitiers zu sein, wie mir der Doktor sagte.«

»Mein Gott!« In höchster Qual entrang es sich Ursula. »Und wohin sind sie denn gegangen?«

Der Rittmeister zuckte bedauernd die Schultern.

»Das wußte leider niemand oben. Der eine der Herren hat nur lachend beim Abschied gesagt, sie wollten heute mal einen ›kleinen Betrieb‹ machen. Das verheißt nichts Gutes. Man vermutete am Stammtisch, die drei würden eine Tournee durch alle irgendwie in Betracht kommenden Bars und Weinstuben hier unternommen haben.«

»Aber das kann ja sein Tod sein!« Voller Verzweiflung rang Ursula die Hände. »Herr Rittmeister – lieber Herr Rittmeister! Ich flehe Sie an – helfen Sie mir! Wir müssen ihn suchen – überall!«

»Aber natürlich, meine verehrte gnädigste Frau! Befehlen Sie nur ganz über mich. Und nur nicht den Mut verlieren! Wir werden die Ausreißer schon noch rechtzeitig erwischen,« suchte er die arme Frau zu beruhigen.

»Liebe Einzigste! Wie gut Sie sind!« Mit innigem Dank preßte Ursula im Weiterschreiten den Arm ihrer jungen Begleiterin, die sich zärtlich tröstend an sie geschmiegt hatte. »Wenn ich Sie jetzt nicht hätte! – Das vergess' ich Ihnen nicht!« –

So machten sich denn die drei auf die Suche, aber alles blieb erfolglos. Wohl glückte es ihnen, hier und da die Spur der Gesuchten ausfindig zu machen; aber überall waren sie schon wieder nach kurzem Aufenthalt davongegangen. Inzwischen verrann die Zeit, und Ursula, von Verzweiflung bald übermannt, wurde es immer gewisser, daß das heute zu einer Katastrophe führen müsse. Und doch schleppte sie sich immer wieder weiter.

Da endlich, es war schon stark nach 11 Uhr, gelang es dem Rittmeister das Ende der Spur festzustellen, ganz hinten, in einer kleinen Weinstube, schon in Clarens. Aber furchtbar war der Bescheid, den er hier zu den wartenden Damen herausbrachte. Die drei Herren wären hier erschienen, vor etwa einer Stunde, bereits in sehr animierter Stimmung und hätten auch hier gleich Sekt bestellt – französischen Champagner. Einer von ihnen, nach der Beschreibung des Wirts ohne Zweifel Drenck selbst, hätte die andern bewirtet und sie mit ausgelassenen Scherzen immer mehr zum Trinken angefeuert. »Wer weiß, wie lange es noch geht!« habe er ein paarmal, den vollen Kelch hinunterstürzend, gerufen – ein Spaß, den die andern Herren mit lautem, übermütigem Lachen lärmend quittiert hätten. Da – gerade als die dritte Flasche gekommen war – wäre plötzlich dieser lustige Herr totenblaß geworden, wäre sich mit dem Taschentuch zum Mund gefahren –

»Barmherziger Gott – Blut!« Gellend entrang sich der Schrei Ursulas Brust, und ihre Hand packte des Rittmeisters Arm.

Der Rittmeister nickte mit tiefem Ernst. – Da waren die beiden anderen plötzlich auch ganz still geworden. Eilends hatten sie bezahlt und dann mit dem Herrn, der sich soweit wieder erholt und hartnäckig jede ärztliche Hilfe abgelehnt hatte, das Restaurant verlassen. Wohin, wisse der Wirt zwar nicht bestimmt; er glaube aber verstanden zu haben, daß die beiden anderen Herren den Kranken, der nun erst recht weitergehen wollte – so was tue ihm nichts, das hätte er schon öfter gehabt – nach Hause hätten begleiten wollen.

Einen Augenblick stand Ursula noch wie niedergeschmettert. Also doch zu spät – vergebens ihrer aller Bemühen! Dann aber fuhr sie auf: Nach Haus – nach Haus! Daß sie Gewißheit bekäme, und wäre es auch die allerschlimmste! Der Rittmeister wollte einen Wagen besorgen, um den Damen bei ihrer Ermüdung den anstrengenden Heimweg bergauf zu sparen; aber Ursula litt es keinen Augenblick länger hier unten. Wie sinnlos stürzte sie vorwärts – ihre aufgepeitschten Nerven wußten von keiner Müdigkeit und von ihrer Erregtheit schließlich angesteckt, eilte ihre Begleiterin neben ihr her.

So stürmten die drei in dunkler Nacht heimwärts – wortlos legten sie den langen, langen Weg zurück. Es war kurz vor eins, als sie oben im Sanatorium anlangten.

Nun waren sie vor Drencks Zimmer angelangt. In stillschweigender Vereinbarung blieben Fräulein Zindler und der Rittmeister draußen auf dem Korridor, mit teilnahmsvoller Spannung Ursulas Nachricht abzuwarten, wie es dort drinnen stände. Aber kaum war diese hinter der Tür verschwunden, da gellte ein entsetzlicher Angstschrei an ihr Ohr und machte ihre Herzen erzittern. Im nächsten Augenblick wurde die Tür schon wieder aufgerissen und Ursula stand vor ihnen, ein tödliches Entsetzen in den Zügen:

»Den Arzt! – Den Arzt!«

Sie wollte noch mehr rufen, aber die Stimme versagte ihr, sie wankte, und der Rittmeister mußte hinzuspringen, um sie vor dem Sturz zu schützen. Ein forschender, flüchtiger Blick, den er zugleich ins Innere des offenen Zimmers sandte, zeigte ihm Drencks leblosen Körper auf der Chaiselongue hinten am Fenster. – Ein Schauder überlief ihn.

»Kommen Sie – nicht hier herein!« Schnell sprach er es zu Fräulein Zindler, die hilfreich von der anderen Seite Ursulas schwer in seinen Armen hängende Gestalt stützte. Der Anblick dort war nicht für Frauenaugen. »Wir wollen sie ins Nebenzimmer schaffen.«

So geschah es. Ursula wurde in ihrem Zimmer niedergelegt, und Fräulein Zindler blieb dort zu ihrem Beistand, während der Rittmeister zum Zimmer des Arztes hinunterstürzte.

Wigand war auch noch auf; die Erlebnisse des heutigen Tages hatten keinen Schlaf zu ihm kommen lassen. Von seinen unbarmherzigen Gedanken gequält, schritt er ruhelos in dem Gemach auf und nieder. Wohl stand das eine fest für ihn, unwiderruflich: Ursula stand fortab über seinem Begehren! Aber er fühlte es, es ging über seine Kraft, tagtäglich ihren Anblick zu ertragen. Er durfte sie nicht mehr sehen. Und wenn sie nicht ging – wohlan, so mußte er es!

Aber wenn es auch geschah, würde er Ruhe haben – wirklich Ruhe? Würde nicht immer ihr stilles Leidensbild ihm quälend, vorwurfsvoll vor der Seele stehen?

In tiefster Qual stöhnte Wigand auf. Ach, daß sich Gott doch hier erbarmte, dem Leiden ein Ende setzte, das sie alle zwei störte – den Unseligen abberiefe, der nur noch sich und anderen zur Pein lebte!

Da klopfte es plötzlich an Wigands Tür. Mitten in der Nacht. So heftig und ungeduldig. Rasch öffnete er: Ah, der Rittmeister! Aber, wie sah der Mann aus – ganz verstört!

»Herr Doktor« – atemlos vom Eilen stieß er die Worte hervor – »schnell zu Drenck! Ich fürchte allerdings, zu spät!«

»Was? Tot?«

Der Rittmeister nickte nur mit tiefstem Ernst. Ein Augenblick des Zurückfahrens bei Wigand: war es nicht, als ob seine Gedanken hier in die Ferne gewirkt hätten? Ein unheimliches Wunder! Doch im nächsten Moment schüttelte Wigand dies Gefühl leisen Grauens ab: Unsinn! Ein Zufall, nichts weiter! Und er konnte ihm nur dankbar sein, ersparte er ihm doch so die Anwendung des Zwanges, die sonst wohl nötig gewesen wäre.

»Ich komme – sofort!« Leise rief es Wigand dem Rittmeister zu; nun dachte nur noch der Arzt in ihm. Mechanisch griff er nach allem nötigen, dann folgte er dem Boten hinauf an die Stätte des Unglücks.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?« Der Rittmeister fragte es, an der Schwelle zu Drencks Zimmer, zögernd.

»Vielen Dank – ich untersuche ihn aber lieber allein.«

Der Rittmeister war froh – es wäre ihm auch nicht sonderlich angenehm gewesen! Wie mochte es denn aber der armen Frau gehen? Klang es da nicht wie zwei Stimmen aus dem Nebenzimmer? Leise klopfte er draußen an die Tür, sich Gewißheit zu verschaffen.

Wigand war mit gespanntester Aufmerksamkeit um Drenck beschäftigt. Er hatte dem regungslosen Körper die Brust entkleidet, nun lauschte er mit angehaltenem Atem am Stethoskop, das er auf die Herzgegend gesetzt hatte. War da noch ein Funke bewegender Kraft in dem abgenutzten, schadhaften Mechanismus dieses Leibes?

Sekunden feierlich ernsten, entscheidungsschweren Lauschens, mit geschlossenen Augen – ganz Ohr!

Da plötzlich ein Geräusch, aber nicht aus der Brust des Regungslosen, nein, von der Tür zum Nebenzimmer her, und herein trat mit wankenden Knien, eine Gestalt – die gefalteten Hände flehend vorgestreckt, die Augen in entsetzter, banger Frage in sein Antlitz bohrend – Ursula.

Eine abwehrende Bewegung seiner Rechten, und still stand sie, selbst wie erstarrt und doch mit jedem Nerv vor martervoller Erwartung innerlich zuckend.

Kein leisester Laut in dem Raum – die beiden ebenso still, ohne Atemzug wie der dritte da, dem ihre Sorge galt.

Nun aber eine Bewegung Wigands, dichter noch preßte er sein Ohr an den Schalltrichter, noch einmal vergewisserte er sich – dann richtete er sich langsam auf.

Ursula hatte jede seiner Bewegungen mit tausendfach geschärften Sinnen wahrgenommen, nun klammerten sich ihre Blicke an ihn mit der Angst, der letzten Hoffnung eines Ertrinkenden:

»Er lebt?«

Ein ernstes Nicken.

»Noch lebt er – aber ich fürchte, es geht zu Ende.«

Ein Wanken, abermals drohte die eben erst aus ihrer Ohnmacht Erwachte trostlos zusammenzubrechen; diesmal war es die Hand des Arztes, die sie vorsorglich stützte. Halb ohne Bewußtsein ließ sie es geschehen.

In seinem Arm fühlte Wigand so sekundenlang ihren Leib, den zarten, ihm so heiligen Leib – die ganze, ihm einst so teure, süße Gestalt, und ein heftiges Zittern erschütterte seinen eigenen Körper. Fest biß er die Zähne aufeinander: Hinweg mit all diesen törichten Erinnerungen! Hinweg! Das war vorbei – mußte vorbei sein. Und wenn je sich im letzten Winkel seines Herzens noch ein Wünschen hatte erheben wollen, nun hatte es zu schweigen! Die Frau in seinen Armen war geweiht, geschützt gegen jedes Begehren. Sie gehörte dem Unseligen da, dessen letzte Stunde gekommen war.

»Fassen Sie sich!« In innerster Teilnahme, mit leiser Stimme redete Wigand auf die unglückliche Frau ein, aus deren weitgeöffneten Augen ein Blick irrer Verzweiflung flog. »So furchtbar es Sie auch im Augenblick trifft – bedenken Sie, wie schwer er gelitten hat. Es ist das Beste so, für ihn und Sie!«

»Nein, nein!«

Mit der Kraft der Verzweiflung raffte sich Ursula empor. Seine letzten Worte hatten sie aufgeschreckt wie Posaunengeschmetter. Das waren ja die Worte gewesen, die sie selbst in Gedanken sich zugerufen hatte, heute nachmittag in jener unbewachten Stunde innerlichen Verlorenseins! Nun war es ja Wahrheit geworden, was ihr da in frevelhaftem Gedankenflug, wie eine Vision, erschienen war: Nun lag er ja da, starr – ein Sterbender, wie sie es sich ausgemalt hatte. Wo war aber nun die Stimme in ihrem Innern, die da gesprochen hatte wie jetzt dieser hier: Es ist das Beste so, für ihn und dich!

Nein, nein! Gott im Himmel; so unbarmherzig kannst du ja nicht sein, so grausam nicht strafen! Die Gedankensünde eines einzigen, unseligen Augenblickes! Du mußt ihn mir retten – hier durch die Hand dieses Mannes!

Und flehend, Todesangst im Blick, faltete Ursula vor Wigand die Hände.

»Er darf mir nicht sterben – ich überlebe es nicht. Versuchen Sie es doch nur – Gott wird Ihnen helfen!«

Erschüttert blickte Wigand auf die unselige Frau vor sich. Hier konnte – nach menschlichem Ermessen – alles Gottvertrauen nicht mehr helfen. Aber wenn selbst noch ein Funken Aussicht auf Erhaltung dieses jammervollen Lebens vorhanden wäre – sollte er ihn durch seine Kunst wirklich anfachen? Der wohltätigen Natur bei ihrem milden Erlösungswerk hindernd in den Arm fallen? Nein, es wäre Widersinn gewesen – ein Unrecht gegen den Ärmsten da, dem die Erlösung zu gönnen war, und gegen diese unglückliche Frau, die wahrlich genug gelitten hatte! Wozu ihnen die Qualen in falscher Humanität verlängern?

Nein, nur fest geblieben; der Arzt muß ja bisweilen fühllos sein im Interesse des Patienten selbst.

Ursulas angstgefolterter Blick hatte aus seiner ernsten, entschlossenen Miene ahnungsvoll gelesen, was in seinem Innern vorging: er wollte hier nicht helfen, er wollte nicht! Weil er wähnte, es sei zu ihrem Besten so – weil er für sich selbst hoffte!

Im nächsten Moment lag sie vor ihm auf den Knien, und ein Schrei irrer Verzweiflung gellte an sein Ohr:

»Du mußt ihn retten – du mußt! Oder du vernichtest mich selbst! Jörg, wenn du mich je im Leben einen Funken geliebt hast – gib ihn mir wieder!«

Jähe Blässe überflog Wigands Antlitz: Da klang ihm wieder der vertrauliche Name, das innige »du« aus diesem Munde – aber in der Todesangst, wo sie für den andern flehte! Finster, schmerzhaft verzog sich seine Miene, aber der todesbange Blick der Augen da unten, ihm zu Füßen, zerschnitt ihm das Herz. Er hätte keine ruhige Minute mehr im Leben gehabt, hätte er diesem stummen Flehen widerstanden. Wohlan, so geschehe denn ihr Wille!

»Stehen Sie auf – ich bitte!« Fast rauh klang seine Stimme vor tiefster Bewegung, wie er sich nun niederbeugte, sie emporzuziehen. »Ich werde versuchen, was ich kann. Wenn es Menschenkunst vermag, so rette ich ihn.«

Ein wilder, schluchzender Laut des Dankes brach sich aus ihrer Brust. Dann ließ sie sich, völlig gebrochen, von ihm zu einem Sessel führen, in den sie kraftlos sank.

Ohne Verzug ging Wigand aber an das Rettungswerk. Er flößte Drenck belebende Mittel ein, gab ihm Kampfereinspritzungen, lagerte ihn zweckmäßig und machte dann künstliche Atmungsversuche mit ihm unausgesetzt. Ein schweres, mühevolles Werk, bei dem ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Nur dann und wann eine flüchtige Pause, nicht der Ruhe, sondern nur, um wieder, das Ohr an Drencks Brust gepreßt, zu lauschen, ob der Herzschlag denn noch immer nicht stärker werden wollte.

Noch immer nicht!

Mehr als eine Stunde war schon verronnen in fruchtlosem Kampfe um das entfliehende Leben. Wigands Stirn furchte sich; das Haupt tief auf die Brust gesenkt, starrte er eine Weile nieder auf das fahle Antlitz des Ohnmächtigen. Sollte er das letzte Mittel versuchen, die Injektion mit der Maximaldosis? Aber würde es Drencks geschwächter Körper aushalten?

Ein Geräusch von Ursulas Platz her machte ihn sich aufrichten. Er wußte, daß sie dasaß, unverwandt mit starren Blicken an jeder seiner Bewegungen hängend, matt zum Zusammenbrechen und doch immer wieder aufgepeitscht von Furcht und Hoffnung. – Es mußte sein!

So griff er denn zu dem kleinen Instrument, Spritze und Fläschchen hoch zum Licht erhoben, zog er mit fester Hand Tropfen für Tropfen in das Glasrohr ein bis zum Grenzstrich – so! Nun, in Gottes Namen denn! Er beugte sich zu Drenck nieder, ein kurzer Druck – es war geschehen.

Schwer aufatmend, richtete sich Wigand auf, legte die Spritze langsam in ihr Futteral zurück und beobachtete nun, jeden Nerv gespannt, den Patienten. Zwei, drei Minuten – nichts! Da, jetzt wie ein leises, kaum merkbares Zucken im Gesicht – nun ein Bewegen der Lippen, ein Hauch von Atmen, jetzt schon energischer –

Mit einem Aufschrei war Ursula, die mit weit aufgerissenen Augen, ganz vornüber geneigt, die Finger in die Armlehnen gekrampft, Freds Mienen mit ihren Blicken verschlungen hatte, aufgefahren – nun kniete sie vor seinem Lager, die Linke des Kranken an ihren Mund gepreßt, als könnte sie mit ihren fieberheißen, zuckenden Lippen neues Leben in diesen kalten Körper hauchen.

Wieder ein Anspannen aller Muskeln in Freds Gesicht, und jetzt schlug er langsam die Augen auf.

»Fred!« Erschütternd schrillte der wahnsinnig erregte Schrei Ursulas in Wigands Ohr. »Verzeih mir – verzeih!« Als sollte ihr Angstruf ihn mit zwingender Gewalt ins Leben zurückführen.

Unwillkürlich legte sich Wigands Rechte beschwichtigend, mahnend auf ihre Schulter.

Es war, als habe Ursulas Verzweiflungsschrei wirklich seinen Zweck erreicht – eine heftige Bewegung lief durch Drencks ganzen Körper, die Augen irrten suchend umher, wie wenn sich die Seele aus dem Dunkel noch einmal zurücktasten wollte – nun ein Ruck, der Oberkörper richtete sich mit einer krampfhaften Anstrengung auf – ein Jubel wollte sich aus Ursulas Brust entringen – – dann aber plötzlich ein wildes Hinfahren seiner Hände zum Herzen, ein Ringen nach Atem, ein letztes Aufbäumen der Lebenskraft und dann – ein schweres Zurückfallen des Körpers in die Kissen.

»Fred!« Wieder gellte der Schrei – diesmal aber in Todesangst, und Ursulas Blick – sie war aufgesprungen – sah stier auf Wigand, der sich mit hastiger Bewegung über den Leidenden gebeugt hatte. Seine Gestalt, in der Erregung des Augenblicks achtlos dicht an die der neben ihm Stehenden gepreßt, versperrte ihr den Ausblick auf das Antlitz des Kranken.

Eine Minute – eine qualvolle Ewigkeit – verstrich so, dann richtete sich Wigand langsam auf. Ursulas Blick traf jetzt wieder Freds Gesicht, regungslos, in starrer Ruhe lag es vor ihr, mit geschlossenen Augen – so ganz anders als vorhin in der Ohnmacht: etwas Furchtbares und doch fast Feierliches, Großes ging von diesem Antlitz aus.

Wie ein Blitz zuckte es durch Ursulas Hirn: »Tot?«

Unheimlich schrillte das einzige, hervorgestoßene Wort durch das lautlos stille Gemach.

Wigand senkte nur langsam das tiefernste Gesicht. Dann trat er leise weg – zum Fenster hin, ihr den Rücken kehrend.

Ein seine innerste Seele zerreißendes Aufstöhnen – ein schwerer Fall! Ursula war an Freds Lager niedergebrochen. Das Haupt in den Händen vergraben, kniete sie so, in krampfartigem, leisem Schluchzen nach Luft ringend.

Lange, lange stand Wigand und starrte in das Nachtdunkel hinaus. Ununterbrochen drangen die erschütternden, leisen Wehlaute Ursulas an sein Ohr, deren Seele sich losrang von dem verlorenen Gefährten eines verfehlten Lebens.

Noch einmal mochte sie in Gedanken all das Furchtbare dieses Jahres durchleben, vom ersten vertrauensvollen Hoffen, von edelsinnigem Entsagen und zartem Sorgen an, hindurch von Enttäuschung zu Enttäuschung, bis zum stumpfen hoffnungslosen Sichhinschleppen und zum Absterben alles Feinen und Zarten. Ein lichtloser Leidensweg – wohl ihr, wohl ihm, daß er sein Ende gefunden hatte!

Und von dem dunklen Los der beiden Unglücklichen fort wandte sich Wigands Blick in dieser ernsten Stunde dem eigenen Leben zu. War es nicht ebenso dunkel und hoffnungslos? Verflochten in das Tragische dieser beiden war auch er; freudlos ging auch er seines Wegs dahin – wohin, wozu?

Das gewaltige Ereignis, das da eben mit eherner Wucht in das Leben der beiden einen Einschnitt gemacht, dem einen Erlösung, dem anderen Freiheit, neues Hoffen gebracht hatte – wenn der Schmerz erst überwunden sein würde – was bedeutete es für ihn?

Lange, lange starrte Wigand, in tiefernstes Sinnen verloren, regungslos hinaus in die Nacht, bis dahinter, in der Ferne, das Dunkel sich allmählich in festes Grau löste und nun endlich ein erster rosiger Streif durchbrach. Würde auch ihm noch einmal ein Morgenrot neuer Hoffnung beschieden sein?

Tief aufatmend wandte sich Wigand um. Sein Blick umfing die Gestalt des leidverlorenen jungen Weibes dort an der Bahre. Frei war sie nun wieder – frei von der so lang geschleppten Last, die sie zu erdrücken gedroht hatte, wenn sie sich auch dessen in ihrem Schmerz noch nicht bewußt war.

Schweres Irren in jugendlichem Überschwang hatte ihr und ihm bitterstes Weh gebracht – würde sie es ihm nun vergessen, wo sie erlöst war von dem Schwersten? Vielleicht, daß diese Stunde ihm ihr Verzeihen brachte, daß ihre Hand sich in Freundschaft in die seine legte, ihm wenigstens Frieden und Trost zu bringen.

Langsam, zögernd, schritt Wigand auf Ursula zu. Schmerzversunken hatte sie seine leisen Schritte nicht vernommen, nun aber tönten seine Worte ihr ins Ohr.

»Genug nun, Ursula! Denken Sie auch an sich. Sie dürfen sich Ihrem Schmerz nicht so fassungslos hingeben!« Und bittend legte sich seine Hand sanft auf ihre Schulter.

Aber heftig schüttelte sie seine Rechte ab, und in leidenschaftlicher Abwehr, fast feindselig, stieß sie hervor:

»Lassen Sie mich! Gehen Sie – ich will allein sein – allein!«

Im Innersten betroffen zuckte Wigand zusammen. Aus diesen Worten sprach mehr zu ihm als der besinnungslose Schmerz der ersten Stunden: das war eine Abwehr auch für die Zukunft!

Sie wollte die Gedankenschuld der einen unbewachten Stunde gestern, die ihr der Tote da nicht mehr hatte verzeihen können, büßen mit ihrem ganzen ferneren Leben. Darum stieß sie ihn fort, zu dem sie sich in ihren Gedanken hatte flüchten wollen. Das sollte die Sühne sein.

Wigand ahnte nicht den Beweggrund, aber zu deutlich nur empfand er ihren Entschluß: Sie sollten einander meiden, auch jetzt – für alle Zukunft! Er hatte nichts mehr zu hoffen.

Da schritt er langsam, gesenkten Hauptes aus dem Zimmer.

Ab hier falsche Kapitelnummerierung (18 auf 17 usw. fortlaufend) geändert. Re

 


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