Paul Grabein
Ursula Drenck
Paul Grabein

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3. Kapitel.

Durch die dürre Kiefernforst holperte auf hartgefrorenem, tiefspurigem Sandwege der Wagen hin. Still lag im kalten Grau des frühen Wintermorgens der spärliche Wald da, verhängt von einem nebligen Dunst; nur hin und wieder brach krächzend eine Krähe vom Waldrand am Wege auf, mit schwerem Flatterflug nach dem braunen Acker drüben streichend.

Schweigend und ernst saßen auch die drei Insassen des Wagens, Doktor Wigand mit einem älteren Kollegen, der die Instrumententasche bei sich führte, und seinem Sekundanten, einem befreundeten Assessor.

Alle drei Herren waren mit ihrer Zigarre beschäftigt, nur hin und wieder wechselten sie ein kurzes Wort. So früh am Morgen war man nicht zur Unterhaltung aufgelegt, am wenigsten auf einer solchen Fahrt. Zwar die Bedingungen waren an sich nicht so schlimme – bloß zweimaliger Kugelwechsel und 15 Schritt Barriere – aber trotzdem: man konnte ja nie wissen.

Wigand blickte, mechanisch seine Zigarre rauchend, gedankenverloren vor sich hin. Widerstreitende Empfindungen beseelten ihn. Nicht etwa, daß er das Rencontre von vorgestern bereute – o nein! Noch war ja sein Zorn nicht verflogen, und er brannte vor Begier auf den Augenblick, wo er dem andern endlich mit der Waffe in der Hand gegenübertreten sollte. Aber Ursulas Bild drängte sich zwischen diese Rachegedanken und entzweite ihm seine Empfindungen.

Sie hatte natürlich keine Ahnung von dem, was neulich vorgefallen war und heute vor sich gehen sollte. Auf dem Ball hatte Jörg zwar notgedrungen noch ein paar Stunden in ihrer und ihrer Familie Gesellschaft aushalten müssen, sogar im Beisein des Gegners. Er hatte es sogar schweigend ertragen müssen – um nicht einen Skandal vor den Augen der Familie herbeizuführen – daß Fred noch ein paarmal Ursula zum Tanz engagiert hatte, wie ihm zum stummen Hohn. Er hatte es ertragen, tröstete ihn doch der geheime Gedanke an die Stunde der Abrechnung!

Ursula war schließlich über seine Ruhe, mit der er ihr herausforderndes Benehmen ertrug, verwundert gewesen, dann schämte sie sich. Mit heimlichen Annäherungsversuchen wollte sie ihn wieder versöhnen, sie versagte dem Vetter schließlich weitere Tänze, tanzte überhaupt nicht mehr und suchte mit wachsendem Schuld- und Reuegefühl sich nur Jörg zu widmen. Aber er tat, als ob er ihre geheimen Bitten nicht verstände und als sie ihn endlich mit flehenden Augen offen bat, doch einmal mit ihr zu tanzen oder wenigstens doch mit ihr ein wenig zu promenieren – da erklärte er, daß es überhaupt wohl Zeit sei, endlich aufzubrechen.

So waren sie ohne Aussprache fortgegangen von dem Feste. Schweigend hatte er ihr gegenüber in dem dunklen Wagen mit ihrem Vater und der Tante gesessen, und vor der Haustür hatte er sich nur mit einem flüchtigen Händedruck von ihr getrennt. Am gestrigen Tage war er aber überhaupt nicht zu Ursula gegangen; mit einigen Rohrpostzeilen hatte er sein Ausbleiben mit gehäufter Berufsarbeit entschuldigt. Er wollte ihr vor dem Austrag der Affäre eben nicht mehr begegnen. Sie sollte inzwischen in bangem Zweifel sein, was er dächte und tun würde. Hoffentlich würde diese Lektion ein für allemal genügen, ihren Trotz ihm gegenüber zu brechen.

Bis heute morgen war Wigand ganz fest in diesem Empfinden gewesen. Nun aber – seltsam! – sprach eine zweite, mildere Stimme in ihm, immer lauter und eindringlicher. Kam es von der grauen Melancholie dieses trüben Wintermorgens, lag es an seinem persönlichen Befinden – er fühlte sich nach den seelischen Erregungen der letzten Tage heute reichlich abgespannt – jedenfalls ein weicheres Regen war da und ließ sich nicht mehr abweisen.

Immerfort stand ihm in dieser Stunde Ursels Bild vor Augen, demütig, reuevoll, mit jenem geheimen Flehen im Blick wie bei ihrem letzten Beisammensein. Und es brannte ihm plötzlich heiß auf der Seele, daß er so hart gewesen, daß er ohne ein leises Zeichen von Liebe, ohne jedes Abschiedswort von ihr gegangen war.

Wenn nun ein unglücklicher Zufall – Pah, weg mit solchem düsteren Gedanken! Auf die Distanz und nur zweimaliger Kugelwechsel! Aber – lächerlich – die alberne Vorstellung kehrte immer wieder zurück. Immer wieder klang ihm dieses abscheuliche »Wenn nun aber doch!« im Ohr. Und dann? Wenn er vielleicht so für immer von ihr gegangen war, wenn sie ihn nicht mehr lebend wiedersehen sollte, verzweiflungsvoll an seiner Bahre knien würde, an der Bahre des Geliebten, der sich im Groll, ohne ein Wort des Verzeihens und der Liebe von ihr gewandt hatte?

Es stieg plötzlich siedeheiß in Wigand auf, und eine qualvolle Unruhe zuckte in seinem Körper. Gott sei Dank, daß sie eben am Rendezvous angelangt waren. An der Wegekreuzung bei der Signalfichte hielt schon der andere Wagen. Schnell stiegen die Herren aus und legten den Rest des Weges, fünf Minuten waldeinwärts, zu Fuß zurück.

Auf der verabredeten Stelle, nahe einem jetzt unbenutzten Militärschießstand, standen bereits die Herren der Gegenpartei: Alfred Drenck mit zwei Kameraden und seinem Arzt. Eine kurze, sehr formelle Vorstellung, und schnell gingen die Sekundanten mit dem Unparteiischen an die kurzen Vorbereitungen.

Wigand blieb am Rande der Lichtung neben dem Kollegen, der dort sein »Lazarett etablieren« wollte, wie er scherzte. Mit einer gewissen stumpfen Gleichgültigkeit – er schaltete absichtlich jedes tiefere Empfinden aus – blickte Jörg den drei Herren zu, wie sie die Distanz abschritten. Sein Auge streifte unwillkürlich auch einmal den Gegner; er stand drüben mit seinen Freunden anscheinend sorglos plaudernd, die Zigarette im Munde, die Hände nachlässig in den Mufftaschen des eleganten Pelzes. Jetzt klang sogar sein helles, etwas herausforderndes Lachen herüber. Sonderbar! Es erregte Wigand nicht. Er betrachtete mit einem Male den andern so ruhig, so leidenschaftslos, als ob sie nie Feinde gewesen wären. Ja, es kam ihm plötzlich fast lächerlich vor, daß sie sich in der nächsten Minute die eiserne Mündung auf die Brust richten sollten. Sich schießen – töten – war es nicht eigentlich eine Verrücktheit, eine widerliche Brutalität für zwei Kulturmenschen?

Wigand ärgerte sich selbst über diese völlige Gleichgültigkeit; er wünschte, daß jetzt wieder jene wilde Kampfstimmung über ihn kommen möchte wie vorgestern auf dem Ball – aber so etwas ließ sich nicht künstlich erzeugen. So wandte er denn seine Blicke auf den Doktor neben ihm, der jetzt die blinkenden Sonden, Pinzetten, Watte und Bandagen auf einem frisch gewaschenen Leinwandtuch auf dem Waldboden ausbreitete. Mechanisch folgte Jörgs Blick seinen Bewegungen. Der plötzlich aufsteigende süßliche, widerwärtige Geruch von Jodoform und Karbol löste mit einem Male verblaßte Erinnerungsbilder in ihm aus: aus der Studentenzeit, wo er manchmal auf der Mensur gestanden hatte. Ja damals! Das war anders gewesen – ein frisch-fröhlicher Strauß mit schneidigem Draufgehen! Aber hier – dieses heimtückische Glücksspiel mit der Kugel, wo der gemeinste Schuft und Feigling einen Herkules abtun konnte? Ein wenig nobles Geschäft! Da konnte keine Kampffreude über den Mann kommen.

Sein Auge richtete sich unwillkürlich wieder auf die drei da drüben. Sie waren dabei, die Pistolen zu laden. Ein Ruck durchfuhr ihn. Nun war's gleich so weit, nur vielleicht eine flüchtige Minute noch. Und wieder durchfuhr's sein Hirn: vielleicht die letzte.

Ursula! – Mit einem Male stand ihr süß-banges Antlitz wieder vor seiner Seele, und ein heißes, aufbrandendes Weh durchflutete seine Brust. Wie namenlos er sie liebte – dieser Augenblick lehrte es ihn. Nein – er konnte nicht so von ihr gehen! Und rasch riß er seine Brusttasche heraus, auf eine Visitenkarte warf er einige wenige Worte, aber ein Vermächtnis seiner unsagbar tiefen Liebe.

So, nun war er wieder ruhig – nun mochte kommen, was da wollte. Und schon begann das ernste Spiel.

»Meine Herren – bitte, auf Ihre Plätze!«

Lässig warf Alfred Drenck seine Zigarette weg, zog den Pelz aus und folgte der Aufforderung des Unparteiischen. Gleichzeitig nahm Wigand seine Stellung ein, gleich dem Gegner im zeremoniellen Gehrock. Fest ballte sich seine Hand um den Kolben der Pistole, die der Sekundant ihm reichte.

»Meine Herren, es ist meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Sie im Begriff stehen, eine strafbare Handlung zu begehen. Ich fordere Sie daher noch einmal auf, sich zu versöhnen – zum ersten – zum zweiten – zum dritten!«

Zum erstenmal blickten sich jetzt in dieser Sekunde die Gegner ins Auge – beide fest, mit kalten Mienen, einen Zug hochgespannter Energie um die Mundwinkel. Es erfolgte keine Antwort von ihnen.

Der Unparteiische hatte dies natürlich auch nicht anders erwartet; es war ja nur eine leere Form gewesen, der er genügen mußte.

»Der Versöhnungsversuch ist erfolglos gewesen. – Auf die Mensur: eins – zwei – drei!«

Mechanisch hoben die Gegner ihre Waffen.

»Eins« – der Drücker ging Wigand wie von selbst los, ein heller, peitschender Knall, eine kleine Rauchwolke vor seinen Augen, die Rechte mit der Waffe senkte sich mechanisch, und währenddessen ein nervenspannendes Warten auf den Schuß des Gegners – aber er erfolgte nicht. Was war das?

Durch den sich verteilenden Rauch drang Wigands Blick: Da drüben taumelte Alfred Drenck eben in die Arme seines herzuspringenden Sekundanten.

Mein Gott! – –

Wie gebannt blieb Wigand stehen und starrte auf die Gruppe da drüben: Jetzt war der Arzt da; sie legten den Verwundeten auf die Erde, und da – ein Husten, Röcheln! – da rieselte ein heller, kleiner Blutstrom aus dem Munde Drencks, dessen Antlitz plötzlich wachsbleich geworden war – die Besinnung hatte ihn verlassen.

Barmherziger Himmel! Ein Lungenschuß – ein tödlicher!?

Wigand wollten die Knie zusammenbrechen. »Nein, nein – nur das nicht?« schrie es gellend in ihm auf. »Das hab' ich ja nicht gewollt!«

Mit ein paar Sprüngen war er bei dem Todwunden, als ob er helfen, retten müßte.

»Herr Kollege« – Wigands Stimme zitterte, und fiebrig glänzten seine Augen aus dem fahlen Antlitz. »Die – die Lunge, nicht wahr?« Ein geheimes, letztes Hoffen dabei, er möchte sich geirrt haben.

Der andere nickte aber nur stumm, ohne von seinem Samariterwerk aufzusehen.

»Schwer – hoffnungslos?«

»Ich fürchte.«

Wie ein zerschmetternder Schlag fuhr es in Wigands Seele. Der Assessor trat bei ihm und nahm seinen Arm.

»Fassen Sie sich, Wigand,« mahnte er leise. »Vielleicht wird's doch nicht so schlimm.«

Aber Jörg hörte die Worte nicht. Immerfort starrte er nur auf das starre, fahle Antlitz da, aus dem plötzlich das jugendrote Blühen, das sorglose Lachen so fürchterlich gewichen, das mit einem Male so kalt und streng aussah wie das eines Sterbenden. »Ich hab's ja nicht gewollt!« Immer wieder nur hörte er das Wort aus seinem Innern schreien, wie eine Abbitte an den Unglücklichen da, der ihn doch nicht mehr hören konnte. Ihm war's, als müsse er hinstürzen und seine Hand packen, daß er doch noch einmal wenigstens die Augen auftat und ihm einen Blick der Vergebung schenkte.

Wigands Füße taten schon einen Schritt vorwärts, aber da fühlte er sich mit Gewalt beiseite gezogen.

»Kommen Sie; Sie können hier doch nicht helfen,« und wie willenlos ließ sich Wigand von seinem Begleiter hinwegführen.

 


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