Paul Grabein
Ursula Drenck
Paul Grabein

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15. Kapitel.

Zum erstenmal, seitdem Wigand das Sanatorium »Au Châtelard« leitete, war es heute vorgekommen, daß er die Nachmittagssprechstunde und Behandlung nicht persönlich wahrnahm, sondern seinen Assistenten damit betraute. Er sei doch wirklich reichlich abgespannt, hatte er dem jungen Kollegen gesagt, und müsse sich mal wieder die Lungen frisch aufpumpen. Er wolle heute nachmittag daher ein paar Stunden in den Bergen herumlaufen.

Das hatte Wigand denn auch getan, und langsamen Schrittes kam er jetzt in der Dämmerung zurück. In zehn Minuten würde er wieder daheim sein, aber den wirklichen Zweck seines Herumstreifens hatte er nicht erreicht. Nicht die körperliche Abspannung war es ja gewesen, die ihn aus dem Hause getrieben hatte, nein – seine Ruhe wollte er wiedergewinnen, die er verloren hatte heute morgen bei jener Begegnung mit Drencks – Ruhe und Gewißheit! Wenn das beides freilich sich vereinen ließ!

In jenem Augenblick des Abschieds, wo Ursulas Hand ihn berührt hatte – wieder berührt zum ersten Male seit langen Jahren, seit jenen Tagen des Unheils und der Trennung! – in jenem Augenblick, wo seine Rechte mit einem entsetzten Zucken zurückgefahren war, da hatte es auch durch seine Seele gezuckt: Die plötzliche Erkenntnis, daß all der Haß, die Verachtung, die er gegen Ursula zu empfinden glaubte, nur eine Selbsttäuschung gewesen war, daß er im tiefsten Grunde seiner Seele Ursula noch immer liebte – trotz allem, ja nun, wo sie ihm verloren war, nur noch leidenschaftlicher, noch inniger. Trat sie ihm doch jetzt in einer ganz neuen Eigenschaft entgegen: als die leidende, unverstandene Frau, die mit rührender Geduld die Launen eines kranken Mannes ertrug, der den Schatz nicht zu würdigen wußte, den er an ihr besaß, der den süßen Reiz ihrer leidverklärten Anmut längst nicht mehr empfand.

Und nun, wo Wigand, losgelöst von dem verblendenden Vorurteil seiner Haßempfindung, Ursulas Ehe betrachtete, nun war ihm – gerade unter dem starken Eindruck des heutigen Erlebnisses – plötzlich auch noch ein anderes Erkennen aufgeschossen, vorläufig zwar mehr noch ein Ahnen, ein Vermuten, aber eine innere Stimme rief es ihm zu: »Du irrst nicht! Es ist so, wie du ahnst – sie hat ja gar nicht aus Liebe, wie du, verblendeter, bisher in finsterem Zorn gewähnt, den andern genommen! Aus Verzweiflung ist es geschehen, aus Reue, um schwere Schuld zu sühnen durch ein Leben voll Aufopferung.«

Immer tiefer hatte dieser Gedanke seine Wurzeln in Wigands Seele geschlagen. Ja, ja, so war es, so mußte es sein! So erklärte sich ja alles, alles – daß sie sich über das Gerede der Leute damals hinwegsetzte, daß sie, ohne zu klagen, jetzt ihr furchtbares Los an Drencks Seite heldenhaft trug.

Und er hatte sie in seinen Gedanken verräterischer Untreue gegen ihn bezichtigt – ja nicht bloß mit Gedanken, nein, mit grausamen, kalten Worten – da gestern abend, unten im Saal! Ihr schon so wundes Herz hatte er mitleidslos noch mehr gepeinigt! Ah! Ein wilder Zorn über sich selbst war in Wigand entbrannt, und in ungestümem Dahinstürmen bergauf hatte er den Kampf mit sich selbst auszutoben gesucht.

Aber immer wieder und wieder war ihm ihr Bild erschienen, das der schmerzverklärten Madonna und hatte seine Seele in wilden Aufruhr gebracht. Wenn es so war, wie er ahnte, wenn sie nur in einer Stunde reuevoller Verzweiflung den verhängnisvollen Schritt an Drencks Seite getan – sollte es denn wirklich ihr unwiderrufliches Schicksal sein, ihr junges, blühendes Leben dahinwelken zu sehen neben einem Verlorenen, dem sie mit allen ihren Opfern nichts nutzte? Gerade heute die Szene mit Drenck hatte ihm ja so klar gezeigt, wie wenig sie diesem helfen konnte, wie unwillig er nur ihre angstvolle Sorge hinnahm.

Wozu aber dann dieses zwecklose Selbstaufopfern weiter treiben? Das war ja doch einfach Widersinn – Frevel an sich selbst. Aber freilich, er kannte ja die Frauen zur Genüge. Gerade die edelsten, vom Schlage Ursulas verbluten ja lieber im stillen, als daß sie den ihnen wie abstoßender Egoismus erscheinenden Akt der Selbstbefreiung vornehmen. Doch, wenn dem so war – war es da nicht einfach Nächstenpflicht, für sie zu handeln, die zu stolz und vornehm dachte, um sich der einmal freiwillig übernommenen Pflicht zu entziehen, wenn sie diese auch zu Boden zu werfen drohte?

Ursula retten, sie befreien von dem vernichtenden Schicksal – nicht für sich, bei Gott nicht! Seine Liebe begehrte nichts mehr für sich, sein Herz war durch jahrelanges Leiden zu grausam zertreten, um noch einmal hoffnungsgrün aufzublühen – aber sie retten für sich selbst, vielleicht für ein späteres Glück, der Gedanke hatte Wigand nicht mehr losgelassen. Aber wie – wie?

Vergeblich hatte sich Wigand darüber den Kopf zermartert, alle ihm kommenden Einfälle stets wieder als unausführbar verwerfend, und auch jetzt, wo er dem Hause wieder zuschritt, war die Frage noch immer ungelöst.

Tiefe Dämmerung hatte inzwischen Garten und Haus eingesponnen. Lautlos und menschenleer waren die Wege in den Anlagen, die Wigand nur langsam, gesenkten Hauptes durchschritt; die Insassen des Sanatoriums befanden sich bereits ja alle im Speisesaal zum Diner versammelt, das nach englischer Tischzeit genommen wurde. Man würde ihn heute dort vergeblich erwarten, aber gleichviel. Auch er war nur ein Mensch und wollte einmal sich selbst gehören. Außerdem, er mochte jetzt nicht an Essen und Trinken denken; auf sein Zimmer wollte er gehen – weiter denken, zu Ende denken, was jetzt sein ganzes Wesen beherrschte. Es mußte sich ein Weg finden, ihr Hilfe zu bringen – vorausgesetzt, daß alles so war, wie er mutmaßte. Hierüber mußte er sich natürlich zuvor noch Gewißheit verschaffen, gleichviel, wie und wenn er ihr selbst die Antwort abringen sollte.

In festem Entschluß unwillkürlich sich straffer aufrichtend, schritt Wigand jetzt gerade am Musikzimmer vorbei, das hier zu ebener Erde, auch vom Garten erreichbar, lag. Da hörte er im Vorübergehen leise Klänge an sein Ohr schlagen. Achtlos wollte er erst weiter, aber dann stutzte er unwillkürlich doch einen Augenblick. Das Zimmer war, wie er durch die Fenster sah, ganz dunkel; wer mochte also darin spielen, und gerade jetzt, wo doch alle Pensionäre im Speisesaal waren? Mit einem gewissen Interesse horchte er nun doch, stehen bleibend, auf.

Es waren abgerissene, verlorene Klänge, die aus dem Zimmer drangen, wie wenn jemand am Flügel, halb in Gedanken, phantasierte, aber nun – halt! Ertönte jetzt nicht plötzlich auch ein leises Singen?

Angespannt lauschte Wigand: Ja, wahrhaftig! Und täuschte er sich nicht, eine Frauenstimme von sympathischem, traurigem Klang. Horch! Nun schwoll der Ton an, die Melodie mutete ihn bekannt an – wo hatte er doch dies Lied schon gehört? Erinnerungsbilder flogen plötzlich durch seine Seele, in langer, langer Reihe, und halt! Da war es: Ursula! Als Braut damals hatte sie dies Lied gesungen.

Noch einmal horchte Wigand hin: Nein, er täuschte sich nicht! Es war jener Sang, ihr Sang und überhaupt – wie er nun so mit geschärften Sinnen lauschte – die Stimme! Mein Gott, sollte sie wirklich –

Ehe er es noch zu Ende gedacht, hatte Wigands Hand schon leise die Klinke niedergedrückt – mit unhörbarem Schritt war er in den friesbelegten Vorraum getreten, den eine Portiere von dem Musikzimmer selbst trennte. Nun stand er dicht hinter dem Vorhang und hörte mit angehaltenem Atem, mit pochendem Herzen den Gesang drinnen an: Wirklich, es war Ursula, die hier einsam im Dunkel am Flügel saß, und mit leiser, tief zu Herzen gehender Stimme sang sie das traurige Lied, das sich ihr aus leidvollem Herzen auf die Lippen gedrängt hatte.

Immer leiser, tränenschwerer ward die Stimme, aus der ein hoffnungsloser Schmerz klagte, nun erstarb sie ganz; ein paar wehmütig verhallende Schlußakkorde griffen die Hände noch, mechanisch über die Tasten fahrend, dann ward es still, ganz lautlos in dem dunklen Raum – nun aber plötzlich ein herzzerbrechendes Aufschluchzen und ein heftiges, dumpfes Geräusch, wie wenn die Sängerin, von ihrem Leid überwältigt, sich jählings nach vorn über das Instrument geworfen hätte, das Gesicht in den verschränkten Armen verbergend.

So war es geschehen. Mit dem Liede war das Bewußtsein ihres verfehlten Lebens, ihres namenlosen Unglücks so niederschmetternd wie noch nie in Ursula geworden. War sie doch auch wirklich nun an einem Punkte angelangt, wo sie nicht mehr aus und ein wußte. Was sollte denn nun werden, nach dem, was ihr heute von ihrem Mann gesagt worden war? Sie fühlte nicht mehr die Kraft, weiter an seiner Seite zu leben mit dem Bewußtsein, daß ja doch alles umsonst war, daß ihr Opfer ihm nichts galt, daß er sie mit heimlichem Groll als die Urheberin seines Unglücks betrachtete, die ihm jetzt nur noch eine Last war, eine verhaßte Wärterin und Wächterin, die ihm auch das letzte bißchen Freude noch wehren wollte, das er vom Leben erraffen wollte!

Ja, ja, fort von ihm! Aber wohin? Sie hatte ja niemand auf der Welt, zu dem sie sich hätte flüchten können. Die einzigen, ihr Vater und Tante Marie, kamen ja nicht in Betracht. Der Major, immer verbitterter geworden durch das so wenig befriedigende Schicksal der Tochter, hätte ihr, wenn sie zu ihm geeilt wäre, mit hartem Ton gesagt: »Geh zurück zu deinem Manne, an den dich Pflicht und Treuschwur bindet! Ich habe dir damals genug von diesem übereilten Schritt abgeraten, aber du wolltest ja mit aller Gewalt nicht anders! Nun trage auch, was du dir selbst angerichtet hast, wie das für jeden anständigen Menschen Ehrensache ist.« – Der eigene Vater hätte sie ja nicht verstanden, wo sollte sie da in der Welt auf Verständnis rechnen?

Aber was dann? Was sollte denn nun werden?

Immer wieder und wieder, diesen ganzen unseligen Tag lang hatte sie es sich gefragt, auf ihrem Zimmer eingeschlossen. Gegen Mittag hatte Drenck einmal angeklopft, aber auf ihr Schweigen sich mit einem ärgerlichen Ausruf wieder entfernt. Unbeweglich hatte Ursula so fast den ganzen Tag auf ihrem Bett gelegen, auf das sie sich im ersten Ausbruch ihrer Verzweiflung geworfen hatte, zuletzt, nachdem das Toben des wühlenden Schmerzes einer Todesmattigkeit gewichen war, in fast völliger Apathie.

Erst als die Dämmerung ins Zimmer geschlichen kam, als ihr die Klänge des Gongs anzeigten, daß nun alle anderen zum Diner in den Speisesaal gingen, hatte sie sich erhoben, ihr Gesicht gewaschen und war dann ins Freie geflohen, hinaus in den dämmerigen Garten.

Lange hatte sie gestanden und hinausgeschaut über den See, wo weit hinten das letzte Sonnenlicht in glitzerndem Widerschein in dem dunklen Spiegel erlosch; das tat so wohl, einmal nichts zu denken, auch die Seele so dämmern zu lassen wie die Natur ringsum. Wie eine mildtröstende Mutterhand – eine Hand, deren Wohltat sie im Leben ja nie kennen gelernt hatte – hatte es sich weich auf ihr Herz gelegt, daß alles Leid leis drin einschlief. Dann war sie, sie wußte selbst nicht wie, hier in das Musikzimmer eingetreten, und am Flügel hatte sie, in gedämpftem Phantasieren, weiter geträumt. Bis da plötzlich das Lied gekommen war und nun mit einem Male wieder all das Leid in ihrer Seele brannte. Nun war sie auch wieder da, die furchtbare, sinnverwirrende Frage ohne Antwort:

Was nun? Was nun?!

Verzweiflung übermannte Ursula, sie war zu müde, noch weiter zu grübeln; in ihrer mattgehetzten Seele stieg nur ein Wunsch noch auf: Möchte doch ein Ende kommen! – Ende? Mit einem Male stand ein Bild vor ihrer Seele: Sie sah Fred auf seinem Bette liegen, bleich und starr, mit geschlossenen Augen – tot! Ein Blutsturz hatte seinem Leben ein Ende gemacht. Wie oft hatte sie dies Bild, wenn es sich ihr in Stunden der Angst vor die Seele drängen wollte, nicht mit stummem Entsetzensschrei, aufspringend von sich abgewehrt – Gott im Himmel, nur das nicht!

Und nun? Wie kam es, daß sie plötzlich so unbeweglich, mit eisiger Ruhe auf dieses Bild starren konnte, ja, daß dabei eine Stimme in ihrem Innersten leise raunte: »Es wäre das beste so, für ihn und dich!« – Wie kam es?

O, sie wußte es nur zu gut! Mit glühenden Lettern brannte da drinnen in ihrem Herzen die Antwort: Seit heute morgen, seit dieser unseligen Stunde, wo Fred ihr mit grausam kalten Worten das Herz zerschnitten, da war alles aus – kalt und starr war alles in ihr geworden, selber todesstarr – was sollte sie da den Tod fürchten für ihn?

Lautlos, wie gebannt von dem Gedanken, verharrte Ursula: Ja, das wäre das beste! Dann wäre Ruhe, für ihn und sie!

Da, horch! Was raschelte da hinter ihr – was kam da?

Von einem eisigen Schauer des Entsetzens überlaufen, sprang Ursula vom Flügel auf. Im selben Augenblick kam sie auch von ihrer Vision wieder zu sich: Weg, weg mit diesem Bilde des Schreckens! Das war ja nicht ihr Ernst! Nein – nur ein dämonisches Spiel ihrer Gedanken.

Mit beiden Händen strich sich Ursula, sich selbst zu befreien von dem Spuk, über die glühende Stirn, da sah sie plötzlich aus dem Dunkel dicht vor ihr eine Gestalt sich lösen, deren Annäherung der dichte Läufer ihr verborgen hatte.

Ein leiser Schrei des Entsetzens kam von ihren Lippen – also doch, ein Mensch!

Im selben Augenblick stand aber auch schon der Eindringling vor ihr, und eine zitternde, tiefe Mannesstimme tönte aus dem Dunkel heraus:

»Erschrecken Sie nicht – um Gottes willen! Ich bin es – ich!«

Wigands Stimme! Er – hier bei ihr in dieser Einsamkeit – Dunkelheit – was wollte er?

Sie sprach es nicht aus, aber er fühlte aus ihrem angstvollen Schweigen die Frage heraus, und stockend sprach er:

»Ich kam zufällig hier vorüber und hörte Ihr Spiel. Dann trat ich ein – und dann – dann – Ich kann Sie nicht so verzweifelt sehen, ich kann nicht! – Fliehen Sie doch nicht vor mir!« Flehend tat er ihr einen Schritt nach, die unwillkürlich bei seinen erregungszitternden Worten zurückgewichen war. »Ich komme ja als Ihr Freund – nur als Ihr Freund! – Helfen will ich Ihnen!«

»Mir kann keiner mehr helfen.« Trostlos kamen die Worte von ihren zitternden Lippen. »Am wenigsten Sie.«

Und sie wollte sich zum Gehen wenden, aber da stand er vor ihr.

»Gerade ich – der ich mich schuldbeladen fühlte Ihnen gegenüber; lassen Sie mich sühnen, was ich gefehlt, lassen Sie mich helfend, schützend an Ihre Seite treten.«

»Dazu ist es nun zu spät!« Eine unendliche Bitterkeit sprach aus ihrer hoffnungslosen Stimme. »Das hätte eher geschehen sollen. Aber wo waren Sie damals, als alles über mir zusammenbrach? Allein überließen Sie mich meinem Schicksal! Sie gingen davon – entzogen sich jeder Verantwortung!«

Furchtbar traf ihn die Anklage, die sie da mit leidenschaftlich erhobener, schmerzerschütterter Stimme gegen ihn richtete.

»Wie – das wähnten Sie? Das wäre der Grund gewesen?« Ein Laut bitterer Überraschung entfuhr ihm. Sekundenlang rang er mit seinem emporbrechenden Empfinden; nun aber flutete es über ihn und sie dahin.

»Ursula!« Sie zuckte bis ins Innerste zusammen. »Wollen Sie wissen, warum ich damals fortging?« So nahe trat er zu ihr, daß seine bebende, jetzt leidenschaftlich anschwellende Stimme dicht vor ihrem Ohr tönte. »Weil ich Ihren Verlust nicht ertragen konnte, weil Sie mir das Herz zertreten hatten mit Ihrem Abschied, weil ich Sie liebte – liebte zum Zugrundegehen!«

Regungslos, wie betäubt unter dem so plötzlich über sie hereinbrechenden Anprall seiner Leidenschaft stand Ursula. Er aber fuhr fort:

»Doch das ist ja nun vorbei, mein Leben ist vernichtet. Aber Ihres soll es nicht sein – Ihres nicht!« Leidenschaftlich stieß er es hervor. »Ich lasse es nicht zu! Nur eins sagen Sie mir, daß ich das Recht habe, zu handeln: Ursula – lieben Sie Drenck?«

Auf fuhr Ursula aus ihrer Betäubung: Gott im Himmel, was sollte das alles? Wie durfte er diese Frage an sie richten? Und eilends wandte sie sich zur Flucht. Er aber ergriff, zum Letzten entschlossen, ihre Arme und hielt sie zurück.

»Antworten Sie mir, Ursula, die einzige Frage wenigstens – Sie sind es mir, sind es Ihrer Ehre schuldig: Liebten Sie Drenck schon damals, als das alles kam, als Sie – noch mein waren?«

»Das konnten Sie glauben?« Wie ein Aufschrei entrang es sich Ursulas Brust.

»Also nein? – Nein!« Fast jubelnd, in wilder, leidenschaftlicher Freude stieß es Wigand hervor. »Dann weiß ich alles: Ein Selbstopfer war Ihre Ehe – ein Sühneopfer!«

Seine entflammten Blicke verzehrten ihr süßes, blasses Gesicht, so dicht vor ihm. In der flüchtigen Sekunde, wo er die angstvoll Widerstrebende so zurückhielt, jagten sich seine Gedanken wie Blitze:

Wie lieb, wie schön war sie! Sein eigen war das alles einst gewesen – und das sollte ihm nun auf ewig verloren sein! Nur um einer einzigen, unseligen Stunde leidenschaftlichen Vergessens willen, für die sie beide in langen Leidensjahren unsäglich schwer gebüßt hatten. – Nein, nein! Er konnte es nicht verwinden. Dieser Augenblick zeigte es ihm deutlich: Nie würde er sie vergessen können! Verbluten würde er sich an ihrem Verlust; und warum mußte es denn sein? Jenem anderen war sie nichts, ja, nur eine lästige Fessel – sie hatte ihn nie geliebt, nur aus Mitleid ihn genommen – was hinderte sie also, ihre Bande zu sprengen, frei zu werden – wieder sein zu werden, sein, dem sie gehörte mit dem heiligen Recht erster Liebe!

Und näher beugte er das Antlitz zu ihr, die entsetzt rang, sich aus seiner Hand zu befreien. Ihr Widerstand, das Anringen ihrer zarten Glieder gegen seinen zwingenden Griff raubte ihm den Rest der Besinnung, lohend schlugen die Gluten seiner leidenschaftlichen Liebe über ihm zusammen.

»Ursula!« Sein heißer Atem schlug ihr ins Gesicht. »Deine Ehe ist ein furchtbarer Irrtum – ein Akt der Verzweiflung, der alle zugrunde richtet: ihn, dich und mich! Mach ein Ende damit, mach dich frei! – Ursula! Ich liebe dich ja bis zur Raserei – ich kann nicht ohne dich leben! Sei wieder mein – ich vergehe nach dir!«

Die im leidenschaftsbebenden Flüsterhauch hervorgestoßenen Worte, der heiße Hauch seines Mundes in ihrem Gesicht, die ganze furchtbare Macht seines Liebesaufruhrs, den sie, rettungslos in seinem klammernden Griff, schauernd spürte, drohten ihr selbst die Besinnung zu rauben. Es kam über sie wie damals als Braut, vor Drencks Ankunft, wo er sie wie ein Rasender an sich gerissen und mit seinen Liebkosungen fast erstickt hatte – kam über sie wie ein süßer, lähmender Bann, der jede Widerstandskraft aufzulösen drohte. In tödlicher Angst und doch in einem Gefühl beseligender, heraufziehender Ohnmacht begann ihr ganzer Leib zu zittern und zu erschlaffen.

Wie Wigand dies stumme, süße Sichhingeben fühlte, riß er sie mit einem Laut wilden Jubels an sich – er verstand ihre stumme Antwort – und seine Lippen wollten sich auf ihren Mund pressen, wieder Besitz von ihr zu ergreifen.

Doch da, im letzten Augenblick, zuckte noch einmal die Besinnung hell bei ihr auf:

Barmherziger Gott – was wollte sie dulden! Sie war ja Drencks Frau! – War sie so pflichtvergessen und schwach, daß sie dieser Versuchung nicht widerstehen konnte?

Mit einem verzweifelten Stoß machte sie sich frei von ihm:

»Zurück! Kein Wort weiter! Vergessen Sie nicht, was Sie der Frau eines anderen schuldig sind!«

Fassungslos starrte Wigand sie einen Augenblick an: Das konnte doch ihr Ernst nicht sein – nein, es durfte nicht! Und flehend sprach er:

»Verzeihen Sie, wenn meine Leidenschaftlichkeit Sie verletzte! Ich will Ihrem leisesten Wink gehorchen! Aber Ursula« – seine Hände streckten sich zitternd nach ihr hin – »stoßen Sie mich nicht zum zweiten Male in Verzweiflung zurück – opfern Sie sich nicht aus falschem Edelmut – lassen Sie mich hoffen!«

Einen Augenblick, einen bang lastenden, voll schicksalsschwerer Entscheidung, schwieg sie; dann klang tonlos ihre Antwort aus dem Dunkel:

»Es gibt für uns kein Hoffen mehr. Wir müssen tragen, was wir uns selbst auferlegt haben.«

Zerschmetternd fielen die Worte in seine neu hoffende Seele.

»Aber warum?« schrie er verzweifelt auf. »Was zwingt uns?«

»Die Pflicht.«

Herb und unbarmherzig klang es in sein Ohr. Da schwieg auch er, und nur in einem dumpfen Stöhnen rang sich seine Seele von ihrem verlorenen Hoffen los. Aber langsam wandte sich ihr Fuß zum Gehen. Die Portieren rauschten leise hinter ihr zusammen, die Tür fiel ins Schloß – er war wieder allein.

Müde ließ er sich da auf den Sessel an dem Flügel fallen, auf dem sie gesessen hatte.

So war denn also nichts für ihn mehr zu hoffen. Das törichte Aufflackern seines Sehnens, das er so lange mit eiserner Hand niedergezwungen hatte, es war erstickt worden im ersten Auflodern. Nun ging es also weiter im alten sich hinschleppenden Trott des Kärnergauls, wie es all die Jahre gegangen war.

Nun mochte es schon sein! Er war es ja nun schon gewohnt geworden. Aber, daß er ihr nicht helfen konnte – nicht helfen sollte! In ausbrechendem verzweifelten Ingrimm ballte sich noch einmal seine Hand krampfhaft zusammen. Alles hätte er ja für sie getan – alles, auch wenn er nichts für sich damit hätte erringen können; nur, daß er sie, die Süße, Geliebte nicht mehr leiden sah um seinetwillen! Und wenn er Drenck hätte zwingen sollen, sie freizugeben – zum zweiten Male die Pistole in der Hand! Ihm galt es gleich! – Aber sie wehrte ja seine Hand ab, die ihr die erdrückende Last vom Nacken nehmen wollte – sie wollte weiter ausharren und dulden. Es war ja ihre Pflicht.

Und um das verehrungsvolle Bild, das er von der stillen, geliebten Dulderin in seinem Herzen trug, wob sich in dieser Stunde ein Heiligenschein.

Mit festem Entschluß erhob er sich nach langem, traurigernstem Sinnen von seinem Platze: Er wollte lernen von ihrer hoheitsvollen Größe – schweigend zu entsagen, ohne Bitterkeit und Groll. Ja, eine Heilige sollte sie ihm fortab in Wahrheit sein, unerreichbar für sein Wünschen und Begehren.

Mit diesem Gedanken ging er von der Stätte schweren Kampfes hinweg.

 


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