Paul Grabein
Ursula Drenck
Paul Grabein

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

17. Kapitel.

So war es denn also entschieden. Wie Wigand eben von dem Obersten, dem Dezernenten im Kriegsministerium, erfahren hatte, würde seine Meldung als Arzt zur Schutztruppe in Deutsch-Südwestafrika wohl berücksichtigt werden. Es seien Anmeldungen nicht gerade im Übermaß vorhanden, und man würde mit Rücksicht auf seine längere Praxis ihm wohl den Vorzug geben, um so mehr, als sein Dienstalter im Reserveverhältnis bald die wünschenswerte Beförderung zum Stabsarzt gestatte.

Da war denn ja sein Wunsch erfüllt: Sein Leben hatte wieder ein festes Ziel, einen ernsten Zweck erhalten, nach dem er sich so lange innerlich gesehnt hatte! Mit stiller Genugtuung sagte es sich Wigand, während er nun – das Ministerium verlassend – die Leipziger Straße entlang schritt, im dichten Gewühl der Passanten langsam dahingehend und seinen Gedanken nachhängend.

Lange Jahre, seitdem damals das Unglück über ihn gekommen war, hatte sein Leben etwas so Unstetes, Provisorisches gehabt. Seine Wirksamkeit in den Sanatorien hatte mit ihrer Anspannung wohl das Gute gehabt, ihn abzulenken von jenen Empfindungen, ja, ihn gar nicht recht zur Besinnung kommen zu lassen, aber sie hatte ihn nie befriedigen können. Den Sommer hier, den Winter da, je, wie die Saison es mit sich brachte – da konnte man nirgends feste Wurzeln schlagen, nirgends ernste Interessen gewinnen. Wie in einem Taubenschlag flogen die Menschen ein und aus in diesen Anstalten; ein ewiges Kommen und Gehen, tagtäglich neue Gesichter – es war eben ein Wanderleben, in das er auch mit hineingezogen war, ein unruhvolles flüchtiges Leben, das einer bodenständigen Natur wie der seinen nicht genügen konnte.

Wohl hatte Wigand, auch nach jenen Ereignissen im »Châtelard«, noch einige Jahre hindurch Stellungen als Anstaltsarzt bekleidet, aber nur zu dem Zweck, noch eine bestimmte Summe sich zurücklegen zu können, mit der er dann die Gründung einer eigenen Praxis noch einmal versuchen wollte.

Vor Jahresfrist war er so weit gewesen, und nun war die Frage an ihn herangetreten: Wo sich niederlassen? Eine geheime Sehnsucht, ein stilles Heimweh drängte ihn schon lange nach seiner Vaterstadt, nach Berlin. Über sieben Jahre war er nun von dort abwesend, eben seit der Katastrophe damals; diese ganze lange Zeit hatte er als ein Heimatloser, zumeist im Auslande gelebt – nun verlangte die Heimat wieder ihr Recht. Es zog ihn hin zu seinen Freunden und Gefährten aus der Studienzeit, die fast alle dort geblieben waren; er sehnte sich ja aus tiefstem Herzen nach vertrauten Menschen nach der völligen seelischen Vereinsamung all der Jahre.

Aber diesem Sehnen hatte sich ein Bedenken entgegengestellt – eines von schwerstem Gewicht: Würde ihn nicht in Berlin zu vieles erinnern an vergangenes Glück? Würde ihn nicht dieses Aufrühren alten, nur mühsam gestillten Schmerzes um die Ruhe betrügen, die er sich so ersehnte? Vor allem aber – die Furcht, dort Ursula jederzeit begegnen zu können! Denn es war ja nur zu selbstverständlich, daß sie nach ihres Mannes Tode zu ihrem Vater nach Berlin zurückgekehrt sein würde. Er hatte sie damals im »Châtelard« nach jener letzten Begegnung an Drencks Sterbebett nicht mehr gesehen; vier Tage später war sie, nach erfolgter Beerdigung, abgereist, und er hatte nicht geforscht, wohin. Es wäre ja auch für ihn ganz gleich gewesen – ihre Wege sollten sich ja nie wieder kreuzen!

Dieser Grund hatte denn auch schließlich Wigand bestimmt, nicht nach Berlin selbst überzusiedeln, sondern nach einem neu aufstrebenden Villen-Vorort im Norden der Stadt. Von hier aus hatte er die Möglichkeit, einen Verkehr mit seinen Freunden zu pflegen, ohne doch tagtäglich Gefahr zu laufen, Ursula zu begegnen oder sonstwie an alte Zeiten schmerzlich erinnert zu werden.

So war denn Wigand an jenen Ort gezogen; aber die Hoffnungen, die er auf diese Übersiedlung gesetzt hatte, hatten ihn schwer enttäuscht. Der Umgang mit den alten Bekannten hatte ihm nicht die ersehnte Befriedigung gebracht. Ein Teil von ihnen, der größere, war ihm inzwischen stark entfremdet worden. Man hatte andere Interessen, andere Freunde gewonnen, geheiratet, die Familie nahm einen neben dem Beruf ganz in Anspruch. Wo er aber herzlich aufgenommen wurde, da war es Wigand gar bald zu schmerzlich, Zeuge eines beseligenden Glücks zu sein, um das er grausam betrogen worden war – nun wie ein armer Landfahrender mit brennenden Augen durch das Gitter eines herrlichen Parks zu starren, hinter dem er ein freudestrahlendes, glückseliges Leben sich abspielen sah. So hatte er sich denn allmählich ganz wieder zurückgezogen und bitter in nur noch tiefere Einsamkeit vergraben.

Dazu kam noch ein zweites, nicht minder schlimmes Fehlschlagen: die Wahl des Ortes war eine sehr unglückliche gewesen. Eine waghalsige Spekulation hatte die Villenkolonie wie mit einem Zauberschlag inmitten dürrer Kiefernheide entstehen lassen, prächtige Anlagen geschaffen und durch eine kostspielige Propaganda eine Zeitlang den Namen des Ortes in aller Leute Mund gebracht. Aber dann kam der große Rückschlag. Das schnelle Emporwachsen, mit dem auch Wigand gerechnet hatte, blieb aus, kurzum: jede Möglichkeit für ihn schwand schließlich, hier seine Existenz fristen zu können.

Die Lage war bitter ernst für Wigand. Die Summe, die er sich im Laufe der Zeit erspart hatte, war durch die Niederlassung und die Unterhaltungskosten eines fast umsonst abgewarteten Jahres sehr stark angegriffen worden. Hier konnte er nicht bleiben – also wieder weiterziehen, noch einmal von vorn anfangen?

Nein! Er mochte nicht mehr. Er hatte die Lust dazu verloren, wieder ein paar Jahre von neuem jenes unstete Wanderleben zu führen, um sich abermals die nötigen Mittel zu einem Versuch zu beschaffen, der dann vielleicht wieder mißlang! Er war nun auch in Jahren, wo er nicht mehr den Anfänger spielen mochte. Also daran war nicht mehr zu denken! Was aber dann?

In dieser ernsten Lage war Wigand darauf gekommen, in den aktiven Militärdienst überzutreten – er war Arzt der Reserve – allerdings nicht, um hier im faulen Frieden wundgegriffene Rekrutenhände zu kurieren. Aber da draußen in Deutsch-Südwestafrika gärte ja der Aufstand, gab es einen blutigen Krieg – da war reelle Beschäftigung für einen Mann wie ihn! Und hatte das sein Ende, so konnte er als Regierungsarzt oder Stationschef dort in einem der Aufstandsdistrikte bleiben; da würde es auch jahrelang noch schwere Arbeit geben. Doch die sollte ihm willkommen sein!

Das waren die Gründe gewesen, die Wigand zu seinem Plan bewogen hatten, und nun sollte er also Tatsache werden, vielleicht wenige Tage noch, und er kehrte der alten Heimat für immer den Rücken. Wer wußte, ob er sie dann je wiedersah! Manch einen raffte ja jetzt die Kugel oder das Fieber da drunten fort. Also vielleicht ein Abschied für immer!

In Wigands ernstes Sinnen stahl sich plötzlich ein weiches, wehmütiges Regen. Er schritt gerade über den Leipziger Platz, und von seinen alten, ehrwürdigen Linden her wehte ihn der süße, erinnerungslösende Duft der Blüten an. Wie manchmal war er hier im hoffnungsgrünen Lenz vorbeigegangen, der selbst über die Riesenstadt einen linden Hauch von Poesie zieht, in früheren, besseren Tagen – in Tagen, wo auch sein Herz noch in Hoffnungsgrün stand – Arm in Arm mit der Braut!

Ursula! Da stand ihr Bild wieder vor seiner Seele, nicht das der bleichen, gequälten Frau, nein, ihr süßes Jugendbild mit all seiner strahlenden Frische, mit dem duftigen Hauch der ersten Blüte! – Ein heißes Weh quoll ihm da wieder aus vernarbter Herzenswunde. Daß dieses Lenzeshoffen so hatte trügen können!

Aber vorbei, vorbei! In seiner hart gewordenen Mannesseele war kein Raum mehr für sentimentales Schwelgen in Erinnerungen. Nur eines verlangte ihn: einen letzten Blick, zum Abschied von der Heimat, wollte er werfen auf jene Stätte, die einst sein Glück gesehen hatte – dann war auch das vorüber, und er gehörte ganz der Zukunft.

Wigand gab diesem Verlangen nach; warum sollte er sich das auch versagen? So bog er denn weiterhin von der Potsdamer Straße rechts ab und wandte sich jenem Viertel des Westens zu, wo er einst gewohnt, und wo auch Drencks Haus gelegen war. Nun war er in der Straße – da, hier die Ecke! – Hier hatte sie ihn so manchmal erwartet und sich mit leuchtenden Augen weich in seinen Arm gehängt – und dort, da drüben war das Haus!

Unwillkürlich verlangsamte Wigand seine Schritte und schaute im Herankommen hinüber: noch ganz wie damals, derselbe hellgraue Anstrich, die Fassade, die Erker! Da, der dort im zweiten Stock, das war Drencks Salon gewesen – wie oft hatte sie da nicht ungeduldig nach ihm ausgespäht, im schlichten Hauskleid mit dem duftigen Schürzchen, und nun bei seiner Annäherung hell aufstrahlend ihm zugewinkt!

Wie ihm das alles noch vor Augen stand – als ob es gestern gewesen wäre. Mit den Blicken liebkosend über den vertrauten Zeugen ihm so teurer, unvergeßlicher Stunden gleitend, war Wigand an dem Hause vorübergeschritten. Nun zögerte sein Fuß. Sollte er weitergehen – war es nun nicht genug des Abschieds? Aber einem dunklen Zwange gehorchend, überschritt er plötzlich die Straße und kehrte dann um. Nur noch einmal, ganz dicht wollte er vorübergehen – dann sollte es genug sein.

Sehr langsam, ein banges Wehmutsgefühl im Herzen, schritt Wigand an dem Hause entlang; seine Finger streiften einen Augenblick unwillkürlich die Wand: So leb denn wohl, du stummer Zeuge der Vergangenheit!

Nun war er an der Haustür angelangt, und sein Blick flog hinein, durch die Glasscheiben, in den dämmernden Treppenflur. Wie oft war er da erwartungsfroh hinaufgesprungen! Wie oft war Ursulas Fuß diese Stufen hinaufgestiegen! – Wo mochte sie jetzt weilen – ob Drencks überhaupt noch in dem Hause wohnten?

Sein fragender Blick drang im langsamen, zögernden Weitergehen in die Portierloge, vor deren geöffneter Tür die Pförtnersfrau stand – ein ganz fremdes Gesicht – mit dem Putzen des Klingelgriffs beschäftigt. Die mußte es wissen – eine kurze Frage konnte ihm Gewißheit geben. Und ehe er noch recht wußte, was er tat, war er schon stehen geblieben und hatte mit leichtem Gruß die Worte an die Frau gerichtet:

»Entschuldigen Sie, bitte – wohnt Herr Major Drenck hier noch im Hause?«

Mit verwundertem Blick sah ihn die Frau an, mit ihrer Arbeit innehaltend:

»Der ist ja schon bald ein Jahr tot!«

»Tot?« Ganz bestürzt entfuhr es ihm.

»Jawohl!« sie nickte bestätigend. »Aber die Damen wohnen noch oben – die alte Frau Drenck und die junge Witwe. Die alte ist ausgegangen, vor 'ner kleinen halben Stunde, aber die junge Frau Drenck treffen Sie noch oben.«

Sie schien anzunehmen, daß der Herr oben einen Besuch abstatten wollte.

Einen Augenblick stand Wigand bewegungslos. Der alte Major nun auch tot! Es ging ihm doch nahe; er hatte sehr an ihm gehangen. Die arme, arme Ursula – daß sie nun auch der Schlag noch betroffen hatte!

»So – bitte schön!« Die Portierfrau hatte ihm dienstbeflissen bereits die Haustür geöffnet.

War es nicht wie ein Wink? Sollte er nicht hinaufgehen – sie war ja allein – und Abschied nehmen von ihr, für immer? Ein einziges Mal ihr in Ruhe und Ernst noch gegenübertreten, sie um Verzeihung bitten für alles Leid, das er mit und ohne seine Schuld über sie gebracht hatte, ein einziges Mal ihre Hand noch ergreifen zum Zeichen, daß sie ihm alles vergab – daß sie ohne Groll voneinander schieden?

Übermächtig wurde plötzlich das Verlangen in Wigand, und im nächsten Augenblick war er schon in den Hausflur eingetreten – nun stieg er die Treppen zum zweiten Stock empor.

Ein seltsames Gefühl beschlich ihn nun aber doch, als er mit pochendem Herzen vor ihrer Türe stand. Wie würde sie ihn empfangen – würde sie ihn überhaupt annehmen?

Gleichviel, er versuchte es eben! Und schon zog seine Rechte entschlossen am Griff der Klingel.

Hell schallte es durch das schweigende Haus. Einige Augenblicke blieb alles noch still drinnen in der Wohnung, dann ging eine Tür, Schritte kamen, rasselnd wurde die Sicherheitskette entfernt, und nun zeigte sich das Mädchen, nicht mehr wie einst das alte Faktotum des Hauses – sie mochte längst ausgedient haben – sondern ein junges Ding, das etwas neugierig auf den unbekannten Besucher sah.

»Bitte – wollen Sie mich der gnädigen Frau melden.« Wigand reichte seine Karte hinein.

»Ja, ich weiß nicht« – offenbar empfing Ursula nur ausnahmsweise Besuche. »Wenn Sie bitte einen Augenblick warten wollten«; sie ließ wenigstens den distinguiert aussehenden Besucher im Zylinder und vornehmen Gehrockanzug unter dem Überzieher ins Entree treten.

Tief Atem holend, stand Wigand in dem Vorraum und sog geschlossenen Auges die Luft dieses Raumes ein – den charakteristischen Hauch dieser Wohnung – und mit diesem wohlbekannten Duft, der ihm so unzertrennlich war von Ursulas Person, zogen tausend alte Erinnerungen wogend durch seine Seele.

Das zurückkehrende Mädchen entriß ihn seinen Träumen:

»Die gnädige Frau lassen bitten.«

Schnell hatte Wigand seinen Mantel abgelegt, und nun trat er in den ihm so wohl bekannten Salon. Ursula erwartete ihn bereits. Im schwarzen Trauerkleid erschien ihre schlanke, noch immer mädchenhafte Gestalt noch feiner als sonst und die zarte Farbe des Gesichts fast bleich. Wohl hatte Wigands unerwartete Meldung sie aufs höchste überrascht, betroffen gemacht, aber es hatte sich kein Erschrecken wie einst in dieses Empfinden gemischt. All das, was sie einst so leidenschaftlich erregt in Leid und Erbitterung, es war ja nun längst still, ganz still geworden. Jeder Groll war entschwunden mit dem Hoffen und Wünschen, dem Bangen und Fürchten – sie konnte nun auch Wigand völlig ruhig gegenüber treten. Aber immerhin – was konnte er von ihr wollen? Nach dem, wie sie sich damals getrennt hatten – im Châtelard – hätte sie nicht geglaubt, daß sich ihre Wege im Leben noch einmal begegnen würden.

Die stumme Frage sprach deutlich aus Ursulas ernsten Blicken, die sie ruhig und fest auf den Eingetretenen richtete, der sich nun tief vor ihr verneigte.

»Verzeihen Sie – Sie werden aufs höchste überrascht sein, mich hier zu sehen.« Etwas gedämpft, aber auch völlig ruhig klang seine Stimme; die erste Befangenheit schwand ihm im ernsten Bewußtsein dessen, was er wollte. »Ein unwiderstehliches Bedürfnis trieb mich her, Ihnen ein letztes Wort, ein Lebewohl zu sagen, ehe ich Deutschland – vielleicht auf immer – verlasse. Aber vor allem – ich hörte soeben unten davon – Sie haben einen neuen unersetzlichen Verlust zu beklagen – wollen Sie mir erlauben, Ihnen zu sagen, daß ich im tiefsten Herzen davon erschüttert bin, daß ich Ihnen nachempfinden kann, was Ihnen der Verlust Ihres Herrn Vaters bedeutet, eines Mannes, den ich stets aus wärmstem Herzen verehrt habe!«

Eine leise Bewegung flog durch Ursulas Körper, und ihre Augen senkten sich; doch dann erwiderte sie mit halblauter Stimme, nicht unfreundlich, doch mit einer gewissen Zurückhaltung in ihrem festen, ruhigen Ton:

»Ich danke Ihnen aufrichtig für Ihre Worte; ich weiß, daß Sie meinen lieben Vater geschätzt haben, wie er es verdiente. – Aber bitte, wollen Sie sich nicht setzen?« Sie nahm selbst Platz. »Sie sagten, Sie wollten Deutschland für immer verlassen? Darf ich fragen, wohin Sie gehen?«

Ihre so gänzlich innerlich unberührte Art sich zu geben, dieser so sehr abgekühlte feine Gesellschaftston, als ob er ihr nie anders als oberflächlich im Salon begegnet wäre, ließen eine leise Bitterkeit in ihm aufsteigen. So hatte er sich das nicht gedacht. Nun würde er ja gar nicht über die Lippen bringen, was ihm eben da unten das Herz so weich gemacht hatte. Er schämte sich seiner sentimentalen Regung, ärgerte sich darüber! Am liebsten wäre er gleich wieder gegangen, aber die gesellschaftliche Form ließ es ja nicht zu. So ließ er sich denn für ein paar Augenblicke nieder und beantwortete ihre Frage:

»Nach Deutsch-Südwestafrika. Ich habe mich als Arzt zur Schutztruppe gemeldet.«

»Nach Südwestafrika?« Ein leises Staunen sprach aus ihrer Stimme. »Aber da wütet ja jetzt der Aufstand!«

»Das eben bestimmte mich. Ich brauche eine ernste Tätigkeit dieser Art – daß ich weiß, wozu ich noch da bin.«

Sie antwortete nicht gleich, aber ihr Blick streifte ihn für einen Moment mit fragendem, ernstem Ausdruck.

»Sie sind also europamüde? Ihre bisherige Wirksamkeit hat Sie nicht befriedigen können?« Sie legte sich seine Worte absichtlich so aus. »Und, Sie wollen dauernd da unten bleiben?«

»Ja – es hält mich nichts mehr hier zurück.« Fest klangen ihr die Worte entgegen, fast hart; sie sollte nicht glauben, daß sein Erscheinen hier etwa auf etwas anderes abziele. »Ich gedenke mein Leben dort zu beschließen. Und dies ist der Grund« – er mußte nun endlich zum Schluß kommen, der ihm nunmehr höchst peinlichen Situation ein Ende machen; aber kurz, ganz kurz sollte es geschehen! – »warum ich mir erlaubte, Sie noch einmal aufzusuchen. Ich möchte mit der Vergangenheit glatt abrechnen, keinen Rest in das neue Leben mit hinübernehmen – keine unbeglichene Schuld!«

Wigands Blick suchte jetzt mit ernster, dringender Bitte die Augen Ursulas, die sie bei seinen letzten Worten von ihm abgewandt hatte.

»Ja, keine unbeglichene Schuld! – Ich weiß es wohl – nur zu gut! – was ich einst in jugendlicher Leidenschaftlichkeit an Ihnen verfehlt habe, was ich in furchtbarem Mißgeschick dem Unseligen angetan habe, der nun erlöst ruht von allen seinen Leiden – ich habe Ihr Leben zu einem verfehlten, verlorenen gemacht!« Seine erhobene Stimme begann leise zu zittern, all seinem Willen zum Trotz. »Das alles weiß ich nur zu gut. In acht Jahren hat mich dieses Bewußtsein nicht eine Minute losgelassen, es hat mich gepeinigt und zu Boden gedrückt, alle Freude, jedes Hoffen in mir getötet! – – Ich denke, ich habe damit gesühnt, was ich einst gefehlt habe – ich habe zerstörtes Lebensglück mit dem eigenen bezahlt!« Leise und müde wurde seine Stimme. »Und das gibt mir den Mut, heute vor Sie hinzutreten« – Wigand erhob sich und trat einen Schritt näher auf sie zu – »Sie zu bitten: Verzeihen Sie mir, was ich Ihnen angetan habe – damit ich wenigstens mit dem Trost von hier fortgehen kann: dir folgt kein Groll, kein Haß – deine Schuld ist dir vergeben!«

Die Hände bittend zu ihr hingestreckt, stand er dicht vor ihr, die sich bei seinen Schlußworten auch hastig erhoben hatte. In erregtem Atmen hob sich Ursulas Brust. Was beschwor er da nicht alles wieder herauf an altem, bitterstem Herzeleid! Aber gleichwohl – er hatte recht: Er hatte seine Schuld gesühnt, soweit ein Mensch sühnen kann – er hatte ein Recht auf ihre Verzeihung! Und sie reichte ihm die Hand hin, die Augen mit traurigem Ernst auf ihn richtend.

»Ich vergebe Ihnen – ich habe Ihnen schon lange nicht mehr gegrollt. Die Jahre haben mich einsehen gelehrt, daß es ja nicht Ihr Wille war, der das alles so kommen ließ. Sie folgten dem unseligen Zwang Ihrer Natur so gut wie wir andern – wie Fred und ich. Ja, ich nicht minder trage schwere Schuld. Die Wahrheit erfordert, daß ich es Ihnen bekenne, rückhaltlos wie Sie selber, in dieser Stunde. Verzeihen Sie nun auch mir – ich bitte Sie darum.«

In tiefer Erschütterung preßte Wigand ihre Rechte einige Augenblicke wortlos. Dann sprach er leise, die Blicke tief in die ihren senkend:

»Es könnte anders aussehen heute, wenn wir dieses ernste Verstehen früher geübt hätten.«

Mit einer ruhigen, aber bestimmten Bewegung entzog ihm Ursula die Hand.

»Was hilft es, sich das jetzt zu sagen? Was geschehen ist, ist nicht mehr zu ändern.«

»Selbstverständlich.« Straffer richtete Wigand sich auf; sie sollte nicht glauben, daß es noch nötig sei, etwa törichte Wünsche bei ihm zu ersticken. Er griff nach seinem Hute. »Nachdem Sie mir meinen letzten Wunsch in der Heimat so gütig erfüllt haben, erlauben Sie mir nun noch, Ihnen Lebewohl zu sagen.«

Er verneigte sich leise.

»Wann reisen Sie?« Noch einmal reichte sie ihm jetzt leicht die Hand hin.

»Voraussichtlich schon in den nächsten Tagen.«

»So wünsche ich Ihnen aufrichtig Glück im neuen Beruf, im fernen Lande. Möchten Sie in der Fremde das alles finden, was Ihnen die Heimat leider versagt hat.«

Eine aus dem Herzen kommende Wärme lag jetzt in ihrer Stimme, und ihn traf ein Blick, der noch mehr sagte als ihre Worte – ein ergreifendes Zusammendrängen all ihrer Empfindungen in diesem Moment des Abschieds. Ihm war, als klänge ihm plötzlich eine unendlich traurige Melodie im Ohr, die er auch einst von ihr gehört hatte: »Wenn sich zwei Herzen scheiden, die sich dereinst geliebt!«

Gesenkten Hauptes, die Augen geschlossen, wollte er ihre Rechte an seine Lippen führen; aber seine Hand, die ihre Finger leicht umschlossen hielt, begann trotz aller seiner Selbstbeherrschung zu zittern. Da drückte sie mit einer leise abwehrenden Bewegung seine Hand nieder – ein Zeichen, daß sie den Kuß nicht wünschte.

Wieder gefaßt, richtete sich Wigand auf; sein Blick war sehr matt, aber ganz ruhig.

»Ich danke Ihnen für Ihre Wünsche. Ich hoffe zuversichtlich, daß Ihnen selbst das Leben in Zukunft sich freundlich zeigen möge, und so – leben Sie wohl!«

Noch eine kurze, straffe Verneigung, und schnell schritt Wigand zum Ausgang. Unbeweglich schaute Ursula dem Abgewandten nach. Jetzt hatte er die Türklinke gefaßt. Schien ihr es nur so, oder zauderte seine Hand wirklich wie in letztem Hoffen noch auf ein Wort von ihr? – Aber das Wort kam nicht, und im nächsten Augenblick hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen.

Ein dumpfes Angstgefühl stieg heiß in Ursula auf. Das also war ihr Abschied gewesen – für immer! Ihr war, als sollte sie ihm nachrufen, daß er noch einmal umkehre, aber der Ruf blieb ihr im Halse stecken.

Schwach hörte sie dann draußen die Entreetür sich schließen: Nun war er wirklich fort.

Mit einem tiefen Seufzer wandte sie sich ab. Was hätte es auch genützt, wenn sie ihn noch einmal zurückgerufen hätte? Was hätte sie ihm sagen sollen? Sie hatten ja einander nichts mehr zu sagen. – Nein, nein, es war schon besser so gewesen!

Aber dennoch ging sie, wie mechanisch, hin zum Erker und blickte durch das Fenster hinab zur Straße – ihm nach. Wie einst als Braut, schoß es ihr durch den Kopf. Und doch wie anders!

Schnell entschwand seine Gestalt drunten ihren Blicken; aber wie gebannt blieb sie noch lange stehen, in trauriges Sinnen verloren. Das war nun das Ende!

 


 << zurück weiter >>