Paul Grabein
Ursula Drenck
Paul Grabein

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13. Kapitel.

»Ist es wahr, Herr Berger, daß Sie wirklich in der Liegehalle immer so ein verrücktes Spiel treiben – mit Ihrer Temperatur?«

»Aber sicher, gnädigstes Fräulein,« lachte der junge Mensch Fräulein Zindler an. »Das ›Fieberspiel‹ – schneidigster Sport der Saison! Ein wahrhaft exklusives Jeu, das sich nicht jeder leisten kann. Wer von uns an seinem Thermometer die höchste Temperatur aufweisen kann, erhält den Einsatz aller anderen Herren – Minimum 5 Frank! Habe schon drei Tage hintereinander gewonnen – Heidendusel, nicht?«

Mit heimlichem Grauen blickte Ursula Drenck auf den Spötter, der mit ihnen am Tisch saß. Ein so blutjunger Mensch und dieser fast zynische Sarkasmus, der mit dem tödlichen Leiden spielte – der junge Berger gehörte zu den schwer leidenden Patienten des Hauses – entsetzlich! Was mochte diese arme Seele mit sich durchgekämpft haben, ehe sie zu dieser stoischen Auffassung gekommen war, die mit dem Leben bereits abgeschlossen hatte.

Auch Drenck wurde unbehaglich bei dieser Unterhaltung; er vermied nach Möglichkeit überhaupt das Zusammenkommen mit Leidensgefährten, besonders solchen Schwerkranken, die ihm immer wie ein trübseliges Zukunftsbild seiner selbst erschienen. Dazu war er doch auch wahrhaftig nicht hier in den Saal heruntergekommen! Er erhob sich daher und wandte sich an seine Frau:

»Ich will doch mal sehen, ob wir nicht eine Partie Whist zusammenbekommen. Der Rittmeister und der Geheimrat bohrten mich vorhin schon an – also auf Wiedersehen nachher, meine Herrschaften.«

Froh, auf diese Weise seinen Rückzug decken zu können, empfahl sich Drenck und verschwand im Nebenraum. Die Unterhaltung im Saal war überhaupt nicht sehr nach seinem Geschmack: Dilettantenkonzert und ‑rezitationen – nicht sein Fall! Hoffentlich ließ sich irgendwo da nebenan eine gemütliche Herrenecke etablieren, wo ein kleines Spielchen, gewürzt mit pikanten Bonmots, einem besser die Zeit vertrieb.

Die drei am Tisch blieben so sich selbst überlassen. Ursula nahm indessen kaum teil an der Unterhaltung, die Fräulein Zindler und der junge Berger mit einer etwas nervösen Lebendigkeit führten. Sie blickte, ihren Gedanken nachhängend, in den Saal hinein. – Wigand war es, den ihre Blicke dort verfolgten. Als leitender Arzt führte ihn seine Repräsentantenpflicht heute abend von Gruppe zu Gruppe; er mußte so, wollte er nicht auffallen, bald auch hier für eine Weile an den Tisch kommen.

Mit geheimer Unruhe sah Ursula den qualvollen Moment seines Erscheinens immer näher heranrücken. Und nun hatte sie Drenck auch noch allein ihrem Schicksal überlassen!

Da – jetzt war Wigand schon am Nebentisch, wo er, freudig begrüßt, für ein Weilchen Platz nahm. Es zuckte Ursula in allen Nerven, aufzuspringen und fortzustürzen. Aber wohin? Zu ihrem Mann an den Spieltisch, zwischen all die Herren, konnte sie sich nicht flüchten, und sonst kannte sie ja niemand von der Gesellschaft. Außerdem wäre Fräulein Zindler ein abermaliges Davonlaufen vor Wigand sicherlich aufgefallen und hätte zu einem Gerede im Hause Anlaß geben können. Sie mußte also auf ihrem Platze ausharren.

»Jetzt kommt er!« Selig raunte es Fräulein Zindler ihrer Vertrauten zu.

In der Tat, soeben verabschiedete sich Wigand drüben – noch im Stehen ein paar freundliche Worte zu der alten Dame neben ihm, dann eine Verbeugung, und nun kam er auf ihren Tisch zu. Seine Miene war ernst, aber vollkommen ruhig, als er sich jetzt zum Gruße vor den beiden Damen verneigte; er fühlte sich der einmal unvermeidlichen Situation seinerseits offenbar gewachsen. Diese überlegene Sicherheit reizte Ursula Drenck insgeheim heftig, da sie nur allzusehr die eigene Aufgeregtheit empfand. Ihr Gruß fiel daher noch frostiger aus, als er beabsichtigt war. Aber Wigand schien es völlig zu übersehen.

»Nun, wie unterhalten Sie sich, meine Herrschaften?« fragte er, sich höflich zu den beiden Damen hinneigend.

»O, danke! Ausgezeichnet!« rief Fräulein Zindler und lachte glücklich den verehrten Arzt an. »Es ist zu reizend von Ihnen, Herr Doktor, daß Sie auch noch an unsere Unterhaltung denken. Sie haben doch eigentlich schon gerade genug sonst mit uns zu tun.«

»Nun, wenn es wirklich Mühe wäre, solch freundliche Anerkennung läßt sie gern ertragen!«

Ursula glaubte zu fühlen, daß aus diesen Worten etwas wie ein versteckter Vorwurf gegen sie klang. Außerdem, noch immer stand Wigand bei ihnen; ihr, der verheirateten Frau, wäre es zugekommen, ihn zum Platznehmen einzuladen, aber sie schwieg und preßte die Lippen fest aufeinander in trotzigem Entschluß. Mochten die Leute hier von ihr denken, was sie wollten – sie würde ihn nicht auffordern, bei ihr zu verweilen.

Wigand empfand das alles nur zu gut, die Situation drohte höchst peinlich zu werden, da kam ihm der junge Berger zu Hilfe. Höflich sprang er auf:

»Aber Sie stehen ja noch immer, Herr Doktor – wollen Sie uns nicht die Ehre geben?« und er rückte ihm Drencks leeren Stuhl hin. »Gnädigste Frau gestatten doch? Ihr Herr Gemahl wird fürs erste ja wohl doch nicht zurückkommen?«

»O – ich möchte durchaus nicht inkommodieren« – zögerte Wigand; aber Frau Ursula konnte nun einfach nicht mehr anders:

»Bitte sehr – der Platz ist ganz frei,« antwortete sie, mehr zu Berger als Wigand hin, und dieser ließ sich so mit einer leichten Verneigung des Dankes auf dem Stuhl neben ihr nieder.

Die nächsten Augenblicke verharrte Ursula schweigend, die Hände krampfhaft im Schoß verschlungen und die Augen starr vor sich hin in den Saal gerichtet. Inzwischen waren die drei anderen in eine scherzende Konversation eingetreten, deren heiteren Ton auch Wigand trotz seiner ernsten Stimmung mit anschlug; es war ja schließlich das beste Mittel, sich durch diese peinvolle Situation wenigstens äußerlich glatt hindurchzuhelfen. Dieser leichte Ton gellte aber schrill in Ursulas Seele hinein; wund, wie sie war, tat er ihr heftig weh. Daß Wigand – er, der all das namenlose Unheil über sie gebracht hatte – so fühllos an ihrer Seite scherzen konnte, o, sie haßte ihn glühend, schon um dieser Brutalität willen. Ihre Hände unterm Tisch ballten sich grimmig zur Faust: Der Kaltherzige, der Schändliche!

Dann aber schlug die Unterhaltung plötzlich eine andere Richtung ein. Es hatte dieser Tage einen kleinen Skandal im Sanatorium gegeben: Jene exaltierte Engländerin, von der Fräulein Zindler neulich erzählt hatte, hatte einen bösartigen Klatsch angezettelt, in ihrer Eifersucht auf Wigand diesen mit einer anderen Patientin verdächtigt, und das Ende vom Liede war gewesen, daß der Direktor des Hauses auf Wigands Ersuchen jener Engländerin höflich die Tür gewiesen hatte. Darauf war jetzt Fräulein Zindler in leicht begreiflichem Interesse zu sprechen gekommen.

»Sagen Sie, Herr Doktor, sind Sie nun nicht eigentlich furchtbar wütend auf diese Person, könnten Sie sie nicht rasend hassen, daß sie Ihnen solchen Dank erwiesen für all die Güte, die Sie ihr gerade stets bezeigt haben?«

»Hassen? Nein, liebes Fräulein Zindler.« Mit ruhigem Lächeln erwiderte es Wigand. »Solche Gefühlsemotionen gewöhnt einem das Leben allmählich ab.« Ein Unterton schmerzlicher Resignation klang aus seinen Worten, der Ursula auflauschen machte. Sollte sich jetzt plötzlich etwas ihr verraten, das jenes quälende Rätsel seines Wesens löste?

»Wenn ich mich in einem Menschen, von dem ich etwas gehalten habe, dem ich mein Bestes gegeben habe, getäuscht sehe, so gibt es zweierlei für mich: entweder er ist ein armseliger Narr, so gehe ich stillschweigend über ihn zur Tagesordnung; hat aber Falschheit ein unwürdiges Spiel mit mir getrieben,« seine Stimme hob sich plötzlich, fast drohend, und ein Blitz der Augen streifte wie im Zufall sekundenlang Ursulas Antlitz, »so habe ich dafür nur – kalte Verachtung!«

Wie ein pfeifender Hieb traf Ursula das heftig herausgestoßene Wort, und jeder Blutstropfen wich in diesem Moment aus ihren Wangen.

Nun hatte sie die Antwort auf ihr geheimes Forschen: Eine alberne Fabelei war das Gerede von der unglücklichen Liebe, die jener da angeblich nicht habe verwinden können! Der fragte gerade viel nach solchen Gefühlsduseleien! Ein brutaler Stoß, ein Abschütteln – fertig war er mit solch einer Affäre. Und kalte Verachtung obenein! Verachtung – ihr, die er feige im Stich gelassen, über die er unsagbaren Jammer gebracht hatte – sollte sie wirklich still dazu schweigen, diesen brutalen Egoismus sich auch noch ruhig brüsten lassen? Nein, das vermochte sie nicht, und plötzlich ergriff sie das Wort:

»Es verachtet sich sehr schnell, Herr Doktor – es fragt sich nur, mit welchem Recht!« Voll sah sie Wigand ins Gesicht, die Mienen ganz ruhig, nur mit einem kaum bemerkbaren Vibrieren der Stimme, das vielleicht allein sein geschärftes Ohr heraushörte, und mit einem geheimen Aufleuchten der Augen.

Überrascht sahen Fräulein Zindler und Herr Berger auf die bisher so schweigsame Gesellschafterin, die nun mit einem Male dem Doktor so scharf in die Parade fuhr. Dieser aber blieb ganz gelassen.

»Wie meinen Sie das, meine gnädige Frau?« klang ruhig und doch bewußt herausfordernd seine Gegenfrage; auch sein Blick heftete sich jetzt fest in den ihren.

»Im vorliegenden Falle so, daß die betreffende Dame als eine arme Leidende vielleicht eher Mitleid als Verachtung verdient – im allgemeinen, daß man, ehe man verurteilt, erst recht genau prüfen soll – vor allem sich selbst. Verachten ist mitunter ein sehr bequemes Auskunftsmittel, um sich von eigener Schuld loszusprechen!«

»Dem kann ich nur voll beipflichten,« fest entgegnete es Wigand. »Sie dürfen im übrigen aber ganz beruhigt sein, gnädige Frau. Die betreffende Dame ist, wenn auch gewiß leidend, doch voll verantwortlich für ihre Handlungen. Sie müssen mir als Arzt schon ein maßgebendes Urteil darüber gestatten.« Mit leiser Ironie verbeugte er sich leicht zu Ursula hin. »Und was Ihre Forderungen in ihrer Allgemeinheit anlangt, meine gnädige Frau, so seien Sie überzeugt, ich habe noch nie in meinem Leben ohne hinreichenden Grund verurteilt – niemals! Wen meine Verachtung traf – der hat sie verdient. Wenn Sie mich kennen würden, meine gnädige Frau,« furchtbar klangen die kaltgrausamen Worte in Ursulas Ohr, »so würden Sie auch wissen, daß es nicht meine Art ist, eigene Schuld an anderen zu büßen. Wo ich gefehlt habe, da suche ich aufs ernsteste wieder gutzumachen. Mitunter freilich wird einem die Möglichkeit dazu auf harte Art abgeschnitten« – ein eherner Blick traf sie – »dann ist man ja wohl aber nicht gut verantwortlich zu machen, nicht wahr, meine gnädige Frau? Sehen Sie, das ist so meine Auffassung von der Sache. – Aber Pardon, meine Herrschaften, daß ich hier über Moraltheorien doziere,« wandte er sich lächelnd, in wieder leichterem Ton an die anderen. »Ich habe, wie es scheint, wirklich meinen Beruf verfehlt! – Übrigens Ihnen, mein Prinz, könnte eine kleine Moralpauke wirklich nichts schaden,« scherzhaft drohte er zu dem jungen Berger hinüber. »Was waren denn das heut wieder für Exzesse?«

»Exzesse – ich?« Berger heuchelte die Unschuld eines harmlosen Babys.

»Wollen Sie auch noch leugnen? Sie sind ja ein ganz raffinierter Verbrecher! Wie war's denn mit dem Sektfrühschoppen drunten in der ›Tonhalle‹?«

»Ach so! Mein Gott, das eine Glas! Daran hab' ich schon gar nicht mehr gedacht.«

»Nun, nach dem Bericht des Kollegen Thiéry ist's nicht bei dem einen geblieben, mein Verehrtester.«

»Hat also der Doktor wirklich gepetzt? So 'ne Niedertracht!« entrüstete sich der ertappte Sünder.

»Ja, ja – wir haben hier einen wohlorganisierten Überwachungsdienst für unsichere Kontonisten!« scherzte Wigand und erhob sich. »Also seien Sie hübsch folgsam. Gott sei Dank, daß wir aber nicht lauter solche böse Sünder haben wie Sie, sondern auch brave Patienten, die uns Freude machen.« Er nickte lächelnd zu Fräulein Zindler hinüber, die mit schwärmerischen Augen, über das Lob strahlend, zu ihm aufblickte. »Die Damen sind überhaupt viel besser – da hat man doch auch Erfolge! Passen Sie auf, Fräulein Zindler, bald können wir Sie nach Hause schicken – kerngesund.« Herzlich schüttelte er ihr zum Abschied die Hand, ebenso sich auch von dem jungen Berger verabschiedend. Dann machte er Ursula eine formelle Verneigung und ging weiter, seinen Repräsentantenpflichten nachzukommen.

* * *

Ein paar Stunden waren hingegangen; eine heitere, fast animierte Stimmung hatte sich der meisten Teilnehmer an der Abendunterhaltung bemächtigt. Nur Ursula war in ernster, fast düsterer Stimmung geblieben. Alle liebenswürdigen Versuche Fräulein Zindlers, sie aufzuheitern, waren vergeblich geblieben.

»Herzlichen Dank, Kleinchen! Sie meinen es so rührend gut.« Dankbar hatte Ursula ihre Rechte gedrückt. »Aber geben Sie sich keine Mühe mit mir – es wird heute doch nichts mehr. Ich hab' so meine Tage, wo meine Nerven völlig versagen – da hilft alles nichts. Lassen Sie sich nur nicht in Ihrer guten Laune stören. Ich muß übrigens auch endlich einmal nach meinem Mann sehen. Für ihn ist es nicht gut, zu lange zu bleiben. – Also auf Wiedersehen, Kleinchen!«

Ursula verließ ihren Platz und begann wirklich in den Nebenräumen nach Drenck zu suchen. Endlich entdeckte sie ihn ganz hinten, in einer gemütlichen Nische des Billardzimmers mit mehreren Herren am Tisch beim Kartenspiel.

Drenck war so vertieft in sein Spiel, daß er ihre Annäherung gar nicht bemerkte; erst nun, wo sie ihn leise anrief, sah er auf. Ursula hatte im Herantreten wahrgenommen, daß die Herren jeder ein Häufchen Geld, darunter auch Goldstücke, vor sich liegen hatten; anstatt des harmlosen Whists hatten sie also ein Hasardspiel gewählt. Voller Besorgnis sah dann auch Ursula, wie Freds Wangen vom Spiel erregt glühten, ein weiterer Blick zeigte ihr eine größere Anzahl Weinflaschen auf einem Nebentischchen – sicherlich hatte auch ihr Mann davon schon mehr als ein oder zwei Glas getrunken.

Von plötzlicher Angst getrieben, trat sie schnell auf die Spieler zu – sie kannte die Herren flüchtig – als Hausgenossen – und ihre Worte, die scherzhaft klingen sollten, verrieten die geheime Aufregung.

»Also hier muß man dich finden, Freundchen! Das ist ja ein reizendes Buen Retiro! Aber nun ist's genug, meine Herren, geben Sie mir den treulosen Gatten wieder, den Sie mir lange genug entzogen haben.«

»Ah, die gnädigste Frau; charmant!« Ritterlich sprang der Rittmeister sofort auf, und auch die anderen beiden Herren warfen die Karten auf den Tisch, um die dazukommende Dame zu begrüßen. Aber das war nicht nach Drencks Geschmack. Er hatte in der letzten Viertelstunde anhaltend Pech gehabt, und nun, wo er zum ersten Male eine große Karte hatte, kam natürlich seine Frau und verdarb ihm alles.

Ärgerlich warf er die Karten auf den Tisch, und mit unverhohlenem Unmut rief er seiner Frau zu:

»Mein Gott, ich hatte dir doch gesagt, daß ich ein Spielchen machen wollte; nun hast du mir glücklich den großen Schlag verpfuscht!«

Eine feine Röte stieg in Ursulas Gesicht; sie schämte sich des Gatten vor den anderen Herren, hatte sie doch nur zu gut den verwunderten Blick aufgefangen, den der Rittmeister eben zu ihm hinübersandte.

»Verzeih, Schatz! Das konnte ich ja natürlich nicht ahnen.« Sie sprach es mit fast ängstlicher Weichheit des Tons, nur um ihn nicht noch mehr zu reizen. »Aber ich habe wirklich über zwei Stunden dort allein gesessen.«

»Na so ein Missetäter!« scherzte der alte Geheimrat, jovial Drenck mit dem Zeigefinger drohend.

»Mein Gott, du warst doch in angenehmer Gesellschaft!« warf dieser noch immer grollend ein.

»Wir hören selbstverständlich sofort auf,« versicherte galant der Rittmeister und zog einladend einen Stuhl heran. »Wollen uns gnädigste Frau nicht die Ehre erweisen?«

»Aufhören? Nein, Herrschaften, davon steht nichts geschrieben! Ich will meine Revanche haben!«

Mit Nachdruck und einer drohenden Schärfe im Ton warf es Drenck hin. Ursula kannte diesen Ton nur zu gut: So sprach er immer, wenn er etwas getrunken hatte, und jetzt gehörte ja schon wenig dazu, ihn aus seiner Selbstbeherrschung zu bringen. Mit einer heftigen Bewegung lehnte sie daher die Einladung des Rittmeisters ab; sie wollte sich nicht vielleicht noch einer öffentlichen Beleidigung durch ihren Gatten aussetzen, der sie eben mit einem so bösen, funkelnden Blick angesehen hatte.

»Vielen Dank, aber ich will doch die Herren nicht stören – vielleicht später, zu gelegener Zeit,« und eilends entfernte sie sich wieder.

Mit einem todunglücklichen Gefühl schritt Ursula dahin. In ihrer entsetzlichen Vereinsamung zwischen all den fremden Leuten hier, hatte sie sich zu dem Gatten, dem einzigen, den sie noch als Zufluchtsort wußte, retten wollen – und das war der Empfang gewesen! Ach, sie hätte sich verkriechen mögen, irgend in einen dunklen Winkel und weinen, weinen! Mein Gott, wie unsäglich verlassen war sie doch!

Schon wollte sie sich hinausstehlen aus der Gesellschaft, vor all den neugierig kalt spähenden Blicken, hin auf ihr stilles Zimmer und sich dort einriegeln, aber da fiel ihr mit einem Male wieder ein: Drenck! Sie durfte ihn ja nicht da unten allein lassen – am wenigsten in der Stimmung, in der er sich jetzt gerade befand.

Aber wie ihn vor Unheil bewahren? Ihr Warnen fruchtete ja nichts, reizte ihn nur viel mehr. Ja, wenn sie hier nur einen Menschen gekannt hätte, dessen Hilfe sie hätte in Anspruch nehmen können – einen Menschen von Energie und Autorität! Aber sie hatte ja niemand, niemand.

In ihrer Herzensangst ließ Ursula die Blicke von der Saaltür aus, wo sie stand, durch den großen Raum mechanisch schweifen, als ob ihr vielleicht doch da ein rettender Engel erscheinen könnte; doch vergeblich blieb ihr Suchen. Verzweiflung wollte sie allmählich beschleichen – inzwischen verrann ja Minute auf Minute, Fred trank vielleicht in seinem Ärger jetzt erst gerade darauf los, und das schwerste Unheil zog so über ihnen beiden herauf – da fiel Ursulas Blick plötzlich auf einen Herrn, der gerade in dem Gang der Veranda, wo sie stand, auf sie zugeschritten kam: Wigand.

Ursulas erste unwillkürliche Regung war die, ihm schnell auszuweichen, aber im selben Augenblick durchzuckte sie ein Gedanke, ihr selbst unverständlich und doch zwingend, unabweislich: Er mußte ihr helfen, Fred zu bewahren – er, der Arzt des Hauses mit dem Gewicht seiner Autorität! Und wenn auch zu gleicher Zeit ihr Stolz sich dagegen aufbäumte, die Angst dieser Stunde zwang alles andere nieder. Sie sah eben jetzt nicht den Menschen, sondern nur den Arzt in ihm, vor dem ja so oft jede Scheu notgedrungen sich legen muß.

So trat sie denn mit einigen hastigen Schritten, damit sie ihn noch hier draußen auf dem menschenleeren Gange sprechen konnte, auf Wigand zu. Diese unerwartete, plötzliche Annäherung machte ihn so bestürzt, daß er sich jäh verfärbte: Was wollte sie von ihm? Er hörte sein Herz heftig schlagen, wie sie nun das Wort, hastig und doch stockend sprechend, an ihn richtete:

»Verzeihen Sie« – das lächerlich formelle ›Herr Doktor‹ wollte ihr hier, ohne Zwang vor den Zeugen, nicht über die Lippen – »aber ich brauche Ihren ärztlichen Beistand, oder, richtiger gesagt, mein Mann. Sie wissen ja selbst am besten, wie gefährlich für ihn auch der kleinste Exzeß werden kann, und er hat sich hier festgesetzt mit anderen Herren beim Spiel und Wein. Ich habe leider nicht die Macht, ihn fortzubringen« – all ihr Unglück verriet sich in dem bitteren Klang dieser wenigen Worte – »bitte, tun Sie es! Wenn irgend möglich, in scherzhafter Form, im Notfall aber mit voller Energie. Ähnliche Vorfälle haben ihm schon schwersten Schaden gebracht!«

Einen Augenblick hatte Wigand ein Gefühl bitterer Enttäuschung durchzuckt: Narr, der er war! Daß er hätte wähnen können, sie wollte ihn ansprechen, um ein Wort der Aufklärung, der Entschuldigung, ja vielleicht eine Bitte um Verzeihung in unbewachtem Moment an ihn zu richten! Dann aber hatte gleich dies Gefühl einem anderen Platz gemacht. Sie appellierte an den Arzt in ihm, da hatte alle persönliche Empfindlichkeit zu schweigen, und mit ernster Aufmerksamkeit hatte er so ihre Worte angehört, die Blicke fest auf ihre vor geheimer Erregung zitternden Züge heftend. Er sah in ihr jetzt nur die hilfesuchende, bedauernswerte Frau eines Patienten, der sein ärztliches Interesse gebührte.

»Wo sitzt Ihr Herr Gemahl?«

Seine kurzen Worte mit der daraus klingenden festen Entschlossenheit flößten Ursula unwillkürlich ein Gefühl des Trostes ein. Sie hatte sofort die Gewißheit, er war der Mann zu helfen, und zwar unverzüglich.

»Hinten im Billardsaal.«

»Gut! – Gehen Sie, bitte, immer voraus auf Ihr Zimmer; in zehn Minuten haben Sie Ihren Herrn Gemahl spätestens oben.«

Mit einer leichten Verbeugung verabschiedete Wigand sich kurz von ihr und eilte schnell dem bezeichneten Raum zu. Gesenkten Hauptes schritt Ursula Drenck ihrerseits die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf, wie er sie geheißen hatte. Ihr war ganz seltsam zumute. Eigentlich wollte sie sich empört auflehnen über seine knappe, befehlende Art, mit der er auch über sie verfügte; aber, sonderbar, sie konnte nicht. War es nur ihre Abgespanntheit nach all den Erregungen des heutigen Abends? Sie hätte sich jedenfalls über sich selbst ärgern können, daß sie sein Dirigieren so ruhig hinnahm, ja, daß es ihr fast wohltat, mit fester Hand so geleitet zu werden – mit einer Hand, von der man wußte, sie tat das Richtige und brachte es kraftvoll zum guten Ende.

Wigand hatte auf dem Wege zu Drencks Tisch rasch ein paar informierende Worte mit dem Kellner am Büfett gesprochen, nun trat er an den Spieltisch.

»Bon soir, messieurs! Ah, beim Spielchen? Das ist recht! Aber selbstverständlich doch bei einem soliden kleinen Skat oder Whist, Herr Rittmeister, nicht?« Er ließ sich gemütlich auf dem Polster der Nischenbank neben dem Angeredeten nieder. »Na, Sie kennen ja unsere Hausgesetze als alter Stammgast und wissen, daß auf aufregende Hasardspiele die Todesstrafe steht!« scherzte er anscheinend ganz harmlos.

»Aber selbstverständlich, Doktorchen!« bestätigte im Biedermannston der Rittmeister, während er zugleich, aber verstohlen, seinen Komplicen zublinzelte. »Wir haben hier bloß einen kleinen Pfennigskat gemacht.« Rasch ließ er den Geldhaufen vor sich mit den verräterischen Goldfüchsen in seiner Hosentasche verschwinden, während der Geheimrat verständnisvoll ein gleiches tat und schnell das zweite Spiel der Karten möglichst unauffällig wegeskamotierte.

Nur Drenck ließ in trotziger Herausforderung sein Geld auf dem Tische liegen. Höchst egal, was der Doktor da von ihm dachte! Zum Kuckuck, er war doch hier in keiner Korrektionsanstalt und konnte tun und lassen, was ihm behagte! Es paßte ihm überhaupt ganz und gar nicht, daß der Mensch, der Wigand, da jetzt zu ihnen an den Tisch kam und schon wieder das eben erst von neuem in Gang gekommene Spiel störte. Um seinen Ärger hinabzuspülen, griff Drenck zum Glas, es war leer, und wie er die Flasche nahm, gewahrte er, auch sie war ausgetrunken.

»He« – er winkte dem Kellner – »noch eine Flasche Pontet Canet

Diensteifrig eilte der Angerufene herbei, aber mit höflicher Verbeugung bedauerte er:

»Bitte sehr um Entschuldigung, Herr Leutnant, aber ich darf nichts mehr bringen.«

»Wie?« Herrisch schnarrte Drenck mit aufgerissenen Augen den Mann an – der alte Offizier wurde wach in ihm: »Sind Sie des Deubels, Mensch? Was soll das heißen?«

»Bedaure unendlich, Herr Leutnant, aber nach zehn Uhr darf ich nach der Hausordnung alkoholische Getränke nicht mehr verabreichen – strengste Anweisung, Herr Leutnant.«

»I, da soll ja doch gleich« – Heftig schlug Drenck mit der flachen Hand auf den Tisch.

»Ja, ja, Herr Drenck, der Mann hat recht!« bestätigte schnell der Rittmeister, eben heimlich durch ein Zeichen des Doktors verständigt. »Im übrigen: wir haben auch wirklich genug gebechert. Es wird Zeit, die Sitzung aufzuheben.«

»Fällt mir ja gar nicht ein!« erboste sich Drenck immer mehr. »Ich pfeife auf diese blödsinnige Hausordnung! Woll'n doch mal sehen, ob ich nicht noch was zu trinken kriege! Hallo, mein Lieber,« herrschte er den Kellner an, »schicken Sie mir sofort mal den Direktor her!«

»Bedaure vielmals – der Herr Direktor zieht sich um zehn Uhr in seine Privaträume zurück und ist dann nicht mehr zu sprechen.«

»So? – Und wer, zum Henker, ist dann sonst noch verantwortlich für diese blödsinnige Hausordnung?« Wütend stieß es Drenck, aufs höchste gereizt, hervor, den Kellner grimmig anblitzend mit seinen von Wein bereits merklich erhitzten Augen.

»Ich, Herr Drenck, als leitender Arzt dieses Hauses!« Ruhig warf Wigand die Worte dazwischen.

Betroffen fuhr Drenck nach dem Sprecher herum. Auf diese Antwort war er allerdings nicht gefaßt gewesen, aber gleichviel. Sollte er sich jetzt vielleicht zurückziehen, sich wohl gar noch entschuldigen? – Fiel ihm ja beileibe nicht ein! So starrte er denn mit finsterer Stirn einen Augenblick den ihn leidenschaftslos ansehenden Gegner an:

»Tut mir leid – aber ich kann trotzdem eine derartige Bevormundung der Gäste dieses Hauses nur für höchst lästig und ungehörig erklären.«

Trotzig brachte es Drenck heraus. Der Rittmeister und der Geheimrat wurden bereits unruhig. Der Teufel, die Sache nahm ja eine höchst fatale Wendung, ein toller Hitzkopf, der Drenck! Aber die unerschütterliche, überlegene Ruhe Wigands ließ dessen Angriffe wirkungslos abprallen.

»Sie vergessen, Herr Drenck, daß Sie sich hier in einer Kuranstalt und nicht in einem Wirtshaus befinden. Wenn Sie kneipen wollen, werden Sie sich schon anderwärts hin bemühen müssen.«

Drenck stieg eine helle Röte ins Gesicht, er fühlte nur zu gut die Abfuhr, die er da eben eingesteckt hatte, und schon lohte es heiß in ihm auf, dem überlegen-kühlen Gegner mit einem beleidigenden Wort heimzuzahlen – auf jede Gefahr hin! – aber da machte der Rittmeister schnell der bedrohlichen Situation ein Ende.

»Seht ihr, Herrschaften? Da haben wir nun unser Fett weg!« Mit gemütlichem Lachen zog er die Sache ins Scherzhafte, verflocht er sie alle darein. »Das ist die Strafe für unsere heimliche Missetat! Wir haben zwiefach gegen den strengen Geist dieses Hauses gefrevelt. Kommt, laßt uns Buße tun!« Er erhob sich und mit ihm Wigand und der Geheimrat. »Acht jetzt, gute Nacht jetzt! Einst war ich nicht so brav – Doch ehrbar wandeln ist das best'. Ich geh' ins Bett und schlaf'!«

Den Vers des Rodensteinerlieds leise vor sich hinträllernd, verabschiedete er sich mit den anderen von Drenck.

»Na gut' Nacht, Verehrtester! Gehn Sie in sich und folgen Sie unserem guten Beispiel!«

Die drei Herren gingen vom Tisch fort, wo Drenck noch immer grollend sitzen blieb. Wigand war der letzte; schon im Weggehn wandte er sich noch einmal flüchtig an Drenck, mit einem unverfänglichen, gesellschaftlich höflichen Ton, als ob nichts zwischen ihnen gewesen wäre.

»Ich vergaß übrigens ganz eine Bestellung von Ihrer Frau Gemahlin auszurichten. Die gnädige Frau fühlte sich ziemlich abgespannt und ist bereits auf ihr Zimmer gegangen. – Empfehl' mich sehr.«

Einige Augenblicke blieb Drenck noch, in stummem Trotz gegen Wigand und seine Frau, am Tisch sitzen, dann stand er auf und ging gelangweilt in den Saal hinüber. Aber auch hier nichts mehr los! Die meisten Herrschaften hatten sich schon zurückgezogen. Mißmutig ließ Drenck ein paarmal seine Blicke über die Gruppen der noch Anwesenden hinwegschweifen, aber es konnte ihn nicht reizen, sich irgendwo anzuschließen. Stumpfsinn auf der ganzen Linie! Da war es wirklich schon das beste, auch er legte sich ins Bett.

So kam er aufs Zimmer, wirklich nach zehn Minuten, wie Wigand Ursula versprochen hatte; freilich übelster Laune, aber die Gefahr war doch noch glücklich abgewendet.

 


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