Paul Grabein
Ursula Drenck
Paul Grabein

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9. Kapitel.

»Nun hab' ich aber, weiß Gott, genug von dem Stumpfsinn!«

Ärgerlich warf Drenck das Buch vor sich auf den Schreibtisch, in dem er die letzten Minuten überhaupt nur noch gähnend und seufzend gelesen hatte.

Frau Ursula blickte bekümmert zu ihm hinüber von ihrem Platz am Fenster, der auf erhöhter Estrade mit seinem zierlichen venezianischen Sessel und Nähtischchen eine anmutende Frauenoase in dem mit schweren, dunklen Renaissancemöbeln gefüllten Herrenzimmer des Gutshauses bildete. Sie hatte schon die ganze letzte Zeit verstohlen und sorgenvoll vor ihrer Stickerei zu dem Gatten hinübergeblickt, der da über einem landwirtschaftlichen Lehrbuch saß. Mit großem Eifer war er an das Studium des Werks herangegangen, wollte er doch als neuer Pächter des Ritterguts möglichst bald selber recht viel vom Betrieb verstehen, um seinem Inspektor, auf den er sich jetzt ganz verlassen mußte, die Zügel aus der Hand nehmen zu können. Aber das Feuer erlosch bald. Die ungewohnte Arbeit des Studierens, der trockene Stoff ließen ihn bald ermüden und jetzt – nach kaum einer halben Stunde – war seine Geduld erschöpft.

»Du mußt dir auch nicht zuviel im Anfang zumuten, Fred,« tröstete Ursula, von geheimer Sorge geängstigt, daß nun auch dieser Versuch, ihn zu beschäftigen, wieder fehlschlagen sollte. »Sieh mal, es ist ja doch ganz was Neues und Fremdes, an das du dich erst gewöhnen mußt. Leg ruhig also das Buch ein paar Minuten aus der Hand – wir plaudern so lange – und dann fängst du mit frischer Kraft und Lust wieder an.«

»Den kondensierten Stumpfsinn? Nee, danke ergebenst! Lieber die Daumen drehen – das ist noch 'ne hochgradig geistreiche Beschäftigung dagegen, sag' ich dir!« Und Drenck führte, sich mißgelaunt in den Sessel zurückwerfend, die angedeutete Tätigkeit, mit markierter höchster Langweile im Gesichtsausdruck, aus.

»Aber, Fred, wirf doch nicht gleich die Flinte ins Korn!« bat Ursula. »Hab doch ein bißchen Geduld! Man gewinnt ja vielen Dingen erst bei näherer Bekanntschaft Interesse ab. Und außerdem – du erklärtest es doch selbst für so nötig, daß du dich recht bald mit der Landwirtschaft vertraut machst.«

»Gewiß, aber das kann man auch – und tausendmal besser – ohne Bücher. Die Praxis, das ist die beste Lehrmeisterin. Aber das ist ja eben die Niedertracht, daß ich da nicht so kann, wie ich will. Da arbeitet nun zum Beispiel heute draußen meine neue Dreschmaschine auf dem Felde, und ich muß hier in der Stube hocken wie ein altes Weib, bloß weil draußen der Wind 'n bißchen über die Stoppeln pustet. Soll man da nicht aus der Haut fahren?«

Erregt schlug Drenck mit beiden Fäusten auf den Tisch.

Frau Ursula blickte unwillkürlich hinaus in den Garten, wo gerade ein heftiger Wirbelstoß des Herbststurmes die gelben Blätter in tollem Tanz umherjagte.

»Aber sieh doch nur, Fred. Es stürmt ja direkt, und dazu noch diese naßkalte, rauhe Luft heute!«

»Ach, es ist ja nicht bloß heute. Heute ist's der Sturm, aber morgen sonst irgendwas anderes! Immer heißt's nur: ›Das darfst du nicht! Denk an dich – schone dich!‹ – Nichts, nichts kann man! Kein Reiten, kein Jagen, kein Rauchen, kein Trinken – nichts, nichts! Wenn ich das bloß vorher hätte ahnen können! Herrgott, zu was lebt man denn eigentlich bloß noch?!«

In stumpfer Verzweiflung stemmte Drenck die Ellbogen auf den Tisch, stützte das Gesicht in die Hände und starrte so trübselig vor sich hin.

In tiefster, stummer Pein sprang Frau Ursula auf. Da war sie wieder, jene graue Hoffnungslosigkeit, die sich lähmend wie ein Alp auf sie beide zu legen drohte. Nein, nein! Nur das nicht erst aufkommen lassen. Und in ihrer Angst lief sie zu dem Gatten hin, umfing seine Schultern und schmiegte sich schmeichelnd flehend an ihn.

»Freddy, nicht doch so! Du bist wirklich ein bißchen ungerecht.« Er wollte heftig aufbegehren, aber sie fiel ihm eilends ins Wort: »Gewiß, ich weiß ja am besten, wie schwer du zu entbehren hast, mein Armer, Liebster! Gerad' all das, was früher deine ganze Freude war. Aber es wird sich ja alles noch bessern, im Laufe der Zeit.«

»Glaubst du's?« Höhnisch lachte Drenck auf. »Na, Gott erhalte dir deine Vertrauensseligkeit! Mir ist sie allmählich gründlich abhanden gekommen, nachdem auch das Vierteljahr im Sanatorium nicht für einen Deut was genützt hat.«

Ursula mußte ihm eigentlich im tiefsten Innern ja recht geben; aber sie wollte es sich selbst und ihm nicht eingestehen. Mit dem Trieb der Selbsterhaltung klammerte sie sich an die wohlfeilen landläufigen Vertröstungen der Ärzte auf die Zukunft; sie betörte sich selbst mit der Hoffnung, daß mit der Zeit sich Fred doch noch wesentlich mehr kräftigen würde. So waren es denn nicht bloß leere Worte, die sie ihm nun geängstigt gab:

»Du mußt eben Geduld haben, mein lieber, einziger Freddy! Sieh mal, es sind ja noch nicht drei Vierteljahr seit deiner Erkrankung her; und eine so schwere Attacke des Körpers wie die deinige braucht natürlich Jahr und Tag, um wieder ganz ausgeheilt zu werden.«

»Die Litanei der Ärzte! – Hängt mir nachgerade auch schon zum Hals heraus. Und mit dem Leim fangt ihr mich nicht mehr. Gib dir keine Mühe – du kannst mir die nackte Wahrheit doch nicht mehr bemänteln: Mein Dasein ist verpfuscht für immer! Es gibt nichts mehr, was mir helfen kann.«

Wie ein Stich drangen Ursula die Worte ins Herz.

»Fred, denk doch an mich!« Leise, zitternd flehte sie es, aus ihrer tödlichen Angst heraus. Ihr fiel die Stunde ein, da er im Frühjahr, voll neuer Hoffnungen, um sie geworben hatte; wo er ihr gesagt hatte, daß ihr Besitz seinem Leben einen neuen Inhalt und Zweck geben würde. Nun sollte auch dies Hoffen getrogen haben? Mein Gott, dann war ja ihr ganzes, großes Opfer umsonst gewesen.

Drenck fühlte die Angst, die sie erbeben machte, und der Egoismus des Kranken, der allmählich immer mehr Besitz von ihm ergriffen hatte, machte da wieder der Güte und ritterlichen Gesinnung Raum, die ursprünglich seinem Wesen eigen waren.

»Verzeih!« bat er reuevoll und zog sein junges Weib an sich. »Ich tat dir wehe. Aber ich wollte es nicht, bei Gott! Im Gegenteil, Ursel, du weißt nicht, wie leid du mir tust, wie manchmal ich mir die bittersten Vorwürfe mache, daß ich mein Leben an das deine gekettet habe. Aber ich habe das ja damals nicht ahnen können.«

»Schweig doch – schweig!« Sie verschloß ihm den Mund mit den Lippen. Sie war ja in diesem Augenblick schon glücklich, daß sie nur wieder ein herzliches Wort von ihm hörte. Und klug nutzte sie den Umschlag seiner Stimmung aus. Sie hatte im Laufe ihrer kurzen Ehe, mehr Krankenpflegerin als Gattin, es bald gelernt, um seinetwillen eine Heiterkeit zu heucheln, die ihr nicht von Herzen kam; so wußte sie ihn denn auch jetzt unter Schmeicheln und Scherzen zu dem bequemen englischen Klubsessel nahe bei ihrem Fensterplatz zu bringen, wo er sich's, halb liegend, bequem machen mußte, während sie sich neben ihm auf der breiten Lehne niederließ und ihm aus einem Buch, einen neuen Roman, vorzulesen begann. Das war noch so eines der wenigen Hilfsmittel, das Fred wenigstens für eine Weile über seine trübseligen Anwandlungen und die Langweile hinweghalf.

Freilich, allzulange hielt auch das nicht vor, und Frau Ursula war daher nicht minder erfreut als ihr Gatte, als plötzlich durch die tiefe Stille des Hauses das schrille Aufläuten der Flurglocke scholl und alsbald das Hausmädchen mit dem Präsentierteller erschien, auf dem sie der gnädigen Frau zwei Visitenkarten hinreichte.

Besuch – wahrhaftig! – Also ein Ereignis ersten Ranges in ihrer ländlichen Abgeschiedenheit. Eilig griff Ursula nach den Karten:

»v. Recknitz, Oberleutnant im Ulanen-Regiment König Karol (6. Hessisches) Nr. 18.« Es war Freds altes Regiment.

»Was, Recknitz?« In heller, frohester Überraschung entriß ihr Drenck die Karte. »Aber das ist ja« – und mit einer Lebendigkeit, die sie gar nicht mehr an ihm kannte, stürzte er hinaus auf die Diele, um freudestrahlend den lieben Gast zu empfangen.

»Recknitz – mein alter Junge! Also wirklich?« Immer wieder schüttelte er mit krampfhaftem Druck die Hände des einstigen Kameraden, der da wahrhaftig vor ihm stand. »Aber, nun sag doch, wie kommst du in aller Welt denn bloß hierher?«

»Höchst einfach!« lachte der andere. »Ich bin nach Mersburg (es war die nahe gelegene Kreisstadt) kommandiert zu den Scharnieren. Ein halbes Jahr Pontons schleppen – na, ist ja jrade keene berauschende Perspektive, aber is doch mal was anderes.«

»Was, du bist in Mersburg bei den Pionieren? Und ich habe keine Ahnung davon? Mensch, Ungeheuer, wie lange denn schon?«

»Na, so gute acht Tage.«

»Und da läßt du dich heut erst sehen?« Drenck hatte inzwischen seinen Arm in den des Freundes geschoben und führte ihn durch den Salon nach seinem Zimmer. »Du hast doch gewiß beim Bataillon längst gehört, daß ich hier auf meiner Klitsche sitze? Habe ja schon vor Wochen Besuche drüben gemacht.«

»Natürlich, natürlich, Liebster! Aber war mir beim besten Willen nicht eher möglich.« –

Recknitz ließ den Arm des Freundes plötzlich fahren und verneigte sich sporenklirrend: er stand Frau Ursula gegenüber.

»Hier hast du meinen guten, alten Recknitz in natura, von dem ich dir so viel erzählt habe«, stellte Drenck vor. »Er ist nach Mersburg kommandiert. Was sagst du dazu? Ist das nicht einfach großartig?«

Ursula reichte in herzlicher Freude dem Freunde ihres Gatten die Hand, die dieser mit respektvoller Verneigung küßte.

»Ich freue mich aufrichtig, Herr von Recknitz. Etwas Lieberes hätte sich mein Mann ja gar nicht wünschen können. Hoffentlich bleiben Sie uns nun recht lange erhalten?«

»Ein Jahr, meine gnädigste Frau.«

»Na, das genügt schon fürs erste!« Der alte, frohe Ton des immer lustigen Ulanen klang wieder aus Freds Stimme. »So weit denke ich noch gar nicht. – Aber nun leg doch endlich ab, mein Kerlchen – gib's her, so! – Und nun setz dich und – Ursel, nicht wahr, du sorgst für einen kleinen Willkommentrunk?«

»Aber bitte, gnädigste Frau, sich wirklich nicht inkommodieren zu wollen« – warf Recknitz, zur Hausfrau sich wendend, ein, doch Ursula war schon dem Mädchen nachgeeilt, um für eine kleine Erfrischung des Gastes nach der anderthalbstündigen Fahrt von der Stadt hierher zu sorgen. Mit dem Auge des Kenners blickte Recknitz der anmutigen, noch so entzückend mädchenhaften Gestalt der schnell hinaushuschenden jungen Frau nach, während er sich behaglich in dem weichen Daunenpolster des anderen Klubsessels räkelte.

»Donnerwetter!« entfuhr es ihm dann, als sich die Tür drüben im Salon hinter Ursula geschlossen hatte. »Du, ich gratuliere dir: du hast ja eine süße kleine Frau.« Fred nickte fröhlich und glücklich; in dieser gehobenen Stimmung war er ganz derselben Ansicht. »Jetzt kann ich dich wahrhaftig verstehen! Um solch Frauchen hätt' ich auch Kopf und Kragen drangesetzt.«

Drenck war peinlich berührt; also beim Regiment glaubte man natürlich auch, daß er das Duell damals durch seine Neigung für seine Cousine provoziert habe. Aber ehe er noch zu einer Entgegnung kam, fuhr der Freund schon fort:

»Na, aber wie geht's dir denn nun vor allem, mein Alter? Siehst ja wieder ganz famos aus, was? Na ja« – Drencks plötzlich wieder ernst werdende Miene ließ Recknitz rasch über den wunden Punkt hinweggleiten – »natürlich! Daß du den bunten Rock ausziehen mußtest, du armer Kerl, das wirst du ja noch immer nicht ganz verwunden haben – aber das wird schon kommen! Donnerwetter! Denk mal an unsereinen, der sich von früh bis spät beim Kommiß schinden muß, für einen Hundelohn – jeden Moment des Anpfiffs gewärtig! Nee, is eigentlich, weeß Jott, nischt zu lachen! Du bist ja hundertmal besser dran: Bist dein eigener Herr, dir hat keiner was dreinzureden, sitzt hier in deinem Reich wie ein kleiner Fürst und hast ein süßes Weibchen – Kerlchen, beneiden könnt' ich dich! Du hast eigentlich das große Los gezogen!« Und vertraulich schlug Recknitz, sich zu Drenck hinüberbeugend, diesem aufs Knie.

Fred schwebte wohl im Anfang eine bittere Antwort auf der Zunge, aber die liebenswürdige, mit sich fortreißende Art des Freundes zerstreute alsbald seine Grämlichkeit wieder. Ja, wahrhaftig, er wollte auch wirklich einmal nicht an die Misere seines Daseins denken. Es tat ihm not, daß er einmal den Kopf wieder hoch bekam. So ging er denn auf den leichten, munteren Ton des anderen ein.

Als Ursula wenige Minuten später wieder bei den Herren erschien, um sie zu einem kleinen, schnell bereiteten Imbiß ins Eßzimmer herüber zu bitten, da war sie aufs freudigste überrascht, Fred so heiter zu sehen. Ein warmes Gefühl des Dankes für die freundliche Fügung dieses Zusammenfindens der Freunde überkam sie, und seit langem zum ersten Male begann es ihr selbst wieder leichter ums Herz zu werden. Unter frohem Scherzen gingen so alle drei zu Tisch. Aber doch vergaß sie nicht, beim Niedersetzen Fred leise bittend zuzuraunen: »Aber bitte, Freddy, nur ein Glas! Denk an dich!«

Drencks Stirn umwölkte sich sofort wieder, und etwas ärgerlich erwiderte er, ohne die Stimme zu dämpfen: »Ja, ja! Sei nur ohne Sorge!«

Als die Gläser dann gefüllt waren, hielt Drenck den Kelch mit dem herben Tokaier dem Gast lächelnd entgegen:

»Also nochmals herzlichst willkommen! Und auf recht häufiges Wiedersehen hier in unserem Hause!«

Recknitz tat ihm Bescheid und hob, sich verbeugend, das Glas gegen Frau Ursula.

»Wenn gnädigste Frau gestatten – von Herzen gern!«

»Ich bitte darum, Herr v. Recknitz!« Ursula ließ ihren Kelch an den seinen klingen und sah ihm voll ins Gesicht. »Machen Sie uns recht, recht oft die Freude!«

»Gehorsamsten Dank!« Und Recknitz leerte sein Glas. »Aber hoffentlich werden wir doch auch in Mersburg öfter mal zusammenkommen. Sie verkehren doch mit dem Bataillon und auch sonst in der Stadt?« fragte er, sich an die Hausfrau und dann zu dem Freund wendend.

»Besuch gemacht haben wir natürlich überall. Aber die Sache kommt nicht so recht in Gang. Bei der Entfernung – und ich komme auch zu selten mal allein hinüber an den Stammtisch.«

»Na, laß nur, das soll nun anders werden!« versicherte Recknitz. »Gnädigste Frau dürfen sich doch nicht ennuyieren! So 'n bißchen ländliche Ruhe ist ja ganz schön, aber nur nie zuviel des Guten! Nicht wahr, meine Gnädigste?« wandte er sich lächelnd an die junge Frau.

»Ach, um meinetwillen – ich käme wohl schon drüber hinweg!« Eine stille Resignation klang aus ihren Worten. »Aber mein Mann! Für ihn wäre es wirklich ein Glück, wenn wir einen netten Verkehr bekämen.«

»Na, Ursel, dir könnte es, weiß Gott, auch nichts schaden!« In einer warmen, herzigen Aufwallung klopfte ihr Drenck die auf dem Tische ruhende Linke. »Armes Tierchen, viel hast du ja auch nicht vom Leben!«

Um Ursulas Mund spielte ein schmerzliches Zucken, das dem heimlich beobachtenden Besucher nicht entging. Er ahnte die Situation: Die arme, kleine Frau! Sie mochte es wirklich nicht leicht haben an Drencks Seite. Und plötzlich kam eine gutmütige, freundschaftliche Regung über ihn, hier den guten Engel zu spielen, dem armen Teufel, dem Drenck, mit seinem verpfuschten Leben nach Möglichkeit über die Misere hinwegzuhelfen und seiner wirklich allerliebsten kleinen Frau. Die war doch, weiß Gott, zu schade, als daß sie hier verkümmern sollte! Was er vorhin, mehr um nur etwas Angenehmes zu sagen, so hingesprochen hatte, das wurde jetzt bei Recknitz ein wirklich fester Entschluß.

»Wahrhaftig, meine gnädigste Frau! Fred hat ganz recht. Wir müssen etwas für Sie tun. Und passen Sie auf: ich bringe die Sache in Schuß. Ich habe so meine kleinen Meriten als ›Betriebsdirektor‹; nicht, Kerlchen?« lachte er vergnügt zu dem Freund hinüber. »Und wir wollen gar keine Zeit verlieren. Über acht Tage haben wir einen Bataillonsabend mit Damen – das ist die beste Gelegenheit, mit den Herrschaften ein bißchen warm zu werden. Wenn gnädigste Frau und du uns also die Ehre geben wolltet – es wäre charmant!«

Frau Ursula sah zögernd auf den Gatten; aber der griff begeistert den Gedanken auf.

»Aber natürlich, Alterchen! Mit heißem Dank akzeptiert! Eine tadellose Idee von dir – komm her, darauf müssen wir anstoßen!«

Es geschah, und Fred trank in seiner frohen Stimmung, alter Gewohnheit folgend, sein Glas mit einem Zuge leer. Ursula sah es mit leisem Erschrecken, aber sie schwieg. Sollte sie ihm gerade in diesem Augenblick mit einer Warnung wieder die Laune verderben?

»Aber gnädigste Frau müssen auch mittun!« bat lächelnd Recknitz, Ursula auch sein Glas präsentierend. Er hatte ihre ernste Miene bemerkt. Gar zu gern hätte er sie auch einmal ein bißchen froh gesehen.

Ursula folgte seiner Aufforderung und nippte an ihrem Glase.

»Aber nein, gnädigste Frau! Das zieht nicht! Solch Tröpfchen!«

»Eben! Du mußt auch Rest trinken!« gebot scherzhaft Drenck. »Vorwärts – in die Kanne!«

So, halbgezwungen, trank Ursula weiter, und sie ließen ihr keine Ruhe, bis sie das Glas wirklich geleert hatte. Der feurige Wein trieb ihr alsbald das Blut schneller durch die Adern, und leichter ward ihr Sinn.

Recknitz begann von anderweitigen Plänen zu erzählen, einem originellen Junggesellen-Kaffee, den er auf seiner »Bude« (übrigens drei sehr behaglich eingerichteten Garçonräumen, er hatte seine eigene Einrichtung mitgebracht) veranstalten wollte, und sogar von einem Kostümfest im Stil Louis XV. Er wußte so lustig zu plaudern, so überzeugend alles zu entwickeln, daß sich schließlich selbst Ursula von ihm erwärmen zu lassen begann. Ihre Wangen fingen an, leicht rosig zu erglühen, und eine geheime Freude wollte ihre Brust schwellen.

Mein Gott, wie lange war es her, daß sie kein Fest mehr besucht hatte, daß sie einmal so recht von Herzen froh gewesen war! Ach ja, das müßte wohltun, so einmal wieder hinweggehoben zu werden, über den grauen Alltag – wie schön, wenn sich das verwirklichen ließe!

»Wenn nur aus all Ihren schönen Plänen etwas werden wollte!« seufzte sie leise, mit geheimem, bangem Zweifel zu Recknitz hinüberschauend. Wer weiß, was da vielleicht wieder dazwischen kommt!«

»Aber gnädigste Frau, so pessimistisch?« lachte dieser und fuhr übermütig fort: »Nun, gnädige Frau müssen sich eben erst mal eine Weile meiner bewährten Führung anvertraun. – Was, Fred, mein alter Junge? – Da werden Sie alle Grillen gründlich los, garantier' ich! – Nun aber im Ernst, meine gnädige Frau, Sie müssen auch ein bißchen lustig sein! Sonst glaub' ich wahrhaftig, ich hatte recht mit meiner Ahnung da vorher, wie ich Sie kennen lernte.«

»Was ahnte Ihnen denn da?«

Recknitz machte eine komisch-bekümmerte Miene: »Ich sagte mir: ›Der arme Kerl, der Drenck! Er hat eine so charmante Frau. Nur daß sie einen schrecklichen Fehler hat!‹«

»Fehler? Mein Gott, schiel' ich denn? Oder bin ich gar bucklig?« Belustigt sah Ursula den ausgelassenen Spötter an.

»Nein!« versetzte dieser mit unerschütterlichem Ernst. »Aber ich fürchte, gnädige Frau leiden an einer partiellen Lähmung der Gesichtsmuskeln – Sie können nicht lachen.«

Er sah in diesem Augenblick mit seiner gemacht mitleidigen und trauervollen Miene so drollig aus, daß Ursula plötzlich herzlich zu lachen begann.

»Na, wenn's nur das ist! – Sehen Sie, um Sie zu beruhigen!«

»Ah, famos!« Triumphierend fuhr Recknitz hoch. »Also doch geglückt! Ich nehm's als ein gutes Omen, daß es mir gelingen wird, meine Versprechungen einzulösen. Haben gnädige Frau nun ein bißchen Vertrauen zu mir und meinem Glück?«

»Ich glaube beinahe – ja!« lächelte Ursula.

»So ist's recht!« lobte Drenck und küßte heiter ihre Hand, die sie ihm geboten. »Wahrhaftig, wir wollen's uns beweisen, daß wir doch noch jung sind! Zum Kuckuck! Ein Pereat den Grillen und Sorgen!«

Drei Gläser klangen diesmal mit einem einzigen hellen, frohen Läuten aneinander, und Ursula, von ihrer heiteren Stimmung getragen, achtete diesmal gar nicht darauf, daß Fred und der Freund abermals den Kelch mit einem Zuge leerten.

Animiert schwirrte nun die Unterhaltung. Der Plan des Kostümfestes gewann immer festere Gestalt. Recknitz, der auch eine gute Zeichengabe besaß, beriet eifrig mit Ursula ein besonders apartes Kostüm und skizzierte ihr seine Idee auf ein Blatt Papier. Die junge Frau war wirklich ganz verändert, gar nicht wiederzuerkennen! Mit ihrem strahlenden Gesicht, den froh leuchtenden Augen, ihrer kindlichen Freude auf das Fest sah sie wirklich so entzückend aus, daß Recknitz einfach für sie zu schwärmen begann. Er fing an, den Glückspilz, den Drenck, um seinen »Riesendusel« zu beneiden.

Im Fluge ging so die Zeit dahin, und als Recknitz zufällig einmal nach der Uhr auf dem Paneel sah, war es schon dreiviertel zwei.

»Herrgott!« Eilends fuhr er vom Sitz auf. »Da hab' ich mich ja schön festgeplaudert! Um halb vier ist schon wieder Kompagnie-Exerzieren angesetzt. – Ich werd's doch noch schaffen?« wandte er sich, die Handschuh überstreifend, an Drenck.

»Reichlich – wenn die Gäule ausgreifen. – Aber wie schade, daß du schon weg mußt.«

»Schon ist gut!« lachte der Ulan. »Bald zwei Stunden hab' ich hier gesessen – für eine Antrittsvisite wirklich etwas reichlich, nicht, meine gnädigste Frau?«

Seine lustigen Augen glänzten Frau Ursula an, als wollten sie sagen: ›Ist's aber ein Wunder?!‹ Sie reichte ihm die Rechte zum Abschied, über die er sich tief neigte:

»Sie sind doch auch nicht als steifer Besuch gekommen, sondern als Freund, Herr von Recknitz.« Fröhlich, in aufrichtiger Dankbarkeit strahlten auch ihn die Blicke der jungen Frau an, und herzlich drückte sie seine Rechte: »Auf recht, recht baldiges und frohes Wiedersehen also! – Und vergessen Sie, bitte, ja nicht, mir die Modistin schleunigst herauszuschicken!«

»Ich werde mich Ihres Vertrauens würdig erzeigen, meine gnädigste Frau, und Ihren ›geschätzten Auftrag promptest effektuieren‹« – lachend markierte er Ton und devote Komplimente eines eleganten Kommis. Dann noch ein letztes, kräftiges Händeschütteln mit Fred, der ihn bis auf die Diele begleitete.

»So – aber nicht weiter, mein Kerlchen! Auf keinen Fall, finde mich schon selber – da steht ja schon der Wagen« – der Krümper war in der Tat mit den hochbeinigen, etwas steifen Braunen schon vorgefahren. »Ein paar gräßliche Schinder, was? Aber laufen tun die Bengels tadellos, sobald die alten Knochen nur erst wieder warm sind. Na, denn adio, mein Junge – und nochmals gehorsamsten Handkuß für die Gnädigste!«

Leichtfüßig klirrte Recknitz die drei Steinstufen hinab – durch die Glastür des Flureingangs sah ihm Drenck nach – mit einem Schwung war er oben auf dem Bock und hatte dem Manne die Leine abgenommen. Nun noch ein Salutieren mit der Peitsche, und etwas heftig zogen die vom langen Stehen ungeduldigen Braunen an. Der Wagen rasselte vom Hofe.

In rosigster Laune kehrte Drenck in sein Zimmer zurück. Er fand seine Frau nicht mehr vor, sie war wohl in die Küche hinübergegangen, nach dem vernachlässigten Mittag zu sehen. So ließ er sich allein vor dem Tisch nieder, wo noch die Flaschen und Gläser neben der geöffneten Zigarettenkiste standen. Das süßliche, narkotisierende Parfüm der Klubzigarette wehte ihn aus den feinen Rauchschwaden in dem Raum an. Ah, wie lange hatte er das nicht mehr eingeatmet! Seit seiner Krankheit hatte er sie nicht mehr geraucht.

Ah, wie sich das schmeichelnd, prickelnd, anregend auf die Sinne legte. Er griff eine Zigarette aus dem Kasten und sog sehnsüchtig den aromatischen Duft des goldgelben Tabaks ein. Ob denn ein paar Züge aus so 'nem Dings ihm wirklich was schaden sollten? Doch eigentlich ganz undenkbar! Die Kerls, die Doktoren, waren ja allesamt Angstmeier, sie wollten ihn nur ins Bockshorn jagen. Er möchte ihnen doch aber gar zu gern mal ein Schnippchen schlagen! – Und schon langten seine Finger nach dem Leuchter. Nur mal ein paar Züge! – So, ah, wie das schmeckte!

Behaglich, mit einem Gefühl geheimster Wonne, lehnte sich Drenck zurück und zog den feinen, pikanten Duft langsam ein, schwelgend in dem so lange entbehrten, verbotenen Genuß. Weiß Gott, heute fühlte er sich zum ersten Male wieder als Mensch nach drei Vierteljahren stumpfsinnigen Vegetierens. Ein zu lieber, famoser Kerl, der Recknitz, daß er sie hier wieder alle so hochrappelte. Er mußte ihm wirklich noch einen Hochachtungsschluck im stillen kommen, und schnell war das Glas gefüllt und ebenso schnell wieder geleert.

Vergnügt vor sich hinlachend, schenkte Drenck sich abermals ein. Gottlob, er hatte es doch noch nicht ganz verlernt. Er stand noch seinen Mann, wenn's darauf ankam! In einem ihn wohlig durchströmenden Kraftgefühl reckte er seinen rechten Arm. Ja, er fühlte es: da war noch Mark drin! Seine Jugend und Elastizität waren doch nicht totzumachen. Famos!

Herr Gott, was war er glücklich heute, er hätte Bäume ausreißen mögen, so kraftstrotzend fühlte er sich; es trieb ihn förmlich, irgendwie diesen Kraftüberschuß zu betätigen. Seine Rechte spannte sich so spielend um das Glas – ha, wenn er wollte, könnte er es zersplittern mit seinem Druck! – Und in der berauschenden Freude an diesem Kraftgefühl stürzte er abermals mit bacchantisch-gierigem Zug den Wein bis zum letzten Tropfen hinab . . .

Ursula war länger draußen aufgehalten worden, als sie dachte. Nachdem in der Küche alles erledigt war und sie gerade wieder nach vorn gehen wollte, kam der Kaufmann aus der Stadt – richtig, es war ja heute Freitag! – und es galt, mit den Mädchen den Laufzettel für ihn fertig zu stellen. Ein ziemlich zeitraubendes Werk. Endlich aber war es erledigt. So! Nun waren all ihre Pflichten erfüllt, nun konnte sie wieder zu Freddy hinüber. Rasch nur noch vorher die Hände einmal ins Wasser getaucht nach der Arbeit in Küche und Speisekammer!

Mit frohen, leichten Schritten huschte Ursula in das Schlafzimmer zur Waschtoilette hin. Ihr war so selig zumute, daß sie leise eine Melodie vor sich hinsang. Wie dankbar war sie gegen das Schicksal, das ihnen nach so viel Trübsal nun endlich einen solchen Sonnenblick gesandt! Was für ein prächtiger, lieber Mensch dieser Recknitz, und wie reizend konnte nun ihr Leben werden! Freddy hatte ja nun einen Freund, der ihn aufheiterte, und wie wunderbar wohltuend würde für sie beide diese Ablenkung durch geselligen Verkehr sein. Gott sei gelobt, das schreckliche Gespenst in ihrem Hause, vor dem sie sich insgeheim so geängstigt hatte, es war gebannt. Nun konnte auch sie noch einmal sich ihres Lebens freuen. Ach wie kindisch freute sie sich sogar auf dieses Kostümfest! Das konnte ja entzückend werden!

»Gnä' Frau! Gnä' Frau!«

Gellend scholl der Angstruf plötzlich in ihr Ohr, daß sich ihr im ersten Erschrecken das Herz zusammenkrampfte. Es war die Stimme des Hausmädchens, das sie suchend, türenwerfend, durch die Zimmer flog.

Nun kam sie hereingestürzt, kreidebleich – mit allen Anzeichen tödlichen Entsetzens.

»Um Himmels willen – Lise, was ist?«

In ihrer Angst packte Ursula plötzlich das Mädchen mit krallendem Griff. Das stierte sie mit entsetzten Augen an und zitterte am ganzen Leibe.

»Ach, gnä' Frau – wie ich eben ins Eßzimmer komme, um den Tisch zu decken.« –

»So reden Sie doch! Doch nicht – der Herr?« –

Das Mädchen nickte schlotternd.

»Er liegt auf dem Sofa und –«

Ursula hörte nichts weiter. Wie eine Unsinnige stürzte sie hinüber ins Eßzimmer.

Aber der erste Blick, den sie auf den todblassen Mann dort warf, vernichtete die letzte, schwache Hoffnung, daß vielleicht nur eine äußere Verletzung – nein! Das Furchtbare war eingetreten, vor dem die Ärzte immer so eindringlich gewarnt hatten. Alles Schonen, alle die Opfer dieser trostlosen letzten drei Vierteljahre waren umsonst gewesen: Ein furchtbarer Blutsturz hatte Fred befallen!

Es ging zum Abend. Im Herrenzimmer, wo schon die Lampe auf Freds Schreibtisch stand, saß Ursula. Im Schein des grünseidenen Lichtschirmes erschien ihr Antlitz noch fahler, als es war. Mit fest aufeinandergebissenen Lippen schrieb sie – einen Brief an Herrn v. Recknitz über das Furchtbare, was sich kurz nach seinem Abgang zugetragen hatte. Und was der Arzt gesagt, der einige Stunden später gekommen war: der Zustand Drencks sei zwar nicht hoffnungslos, aber sehr, sehr ernst. Und wenn er auch, wie wohl zu erwarten sei, diese Attacke überstehen würde, so bestände doch immer die Gefahr einer Wiederkehr. Also sei die peinlichste Schonung des Patienten dauernd geboten.

Damit seien natürlich alle ihre heutigen Pläne von Grund aus zerstört. An ein geselliges Leben sei überhaupt nicht mehr zu denken. Sie müßten froh sein, wenn es gelänge, Freds bloßes Dasein zu erhalten. Fürs erste müsse sie, im Interesse des Kranken, auch bitten, von einem Besuch absehen zu wollen.

So! Nun war dieser Brief beendet. Auf Ursulas Klingeln erschien das Mädchen und erhielt Anweisung, das Schreiben dem Postboten heute abend noch mitzugeben.

Wieder allein, sank Ursula in den Stuhl zurück. Regungslos saß sie und starrte vor sich hin. In dieser grauen Stunde flog ihre Seele rückwärts durch die ganze Zeit ihrer Ehe, so kurz erst, aber schon so überreich an Leid und Selbstverleugnung. Wenn sie das hätte ahnen können, damals, als sie von Mitleid und Schuldgefühl getrieben, Fred ihre Hand gereicht hatte! Sie hatte ja freilich gewußt, daß sie einer ernsten, schweren Zukunft entgegengehen würde, aber doch nicht bar einer jeden Hoffnung. Damals durfte sie ja noch die Erwartung hegen, daß die Zeit Freds Zustand bessern würde, und vor allem, wie es auch kommen würde, daß ihr Besitz ihn entschädigen würde für das, was das Leben ihm versagen sollte. Aber nun?

Vorbei alles Hoffen! Der heutige Tag hatte Ursula ihr Los in seiner ganzen trostlosen Furchtbarkeit enthüllt: Fred war ein verlorener Mann, und sie konnte ihm nichts sein! Nicht einmal dieser letzte Trost, der ihre Selbstaufopferung vielleicht noch erträglich gemacht hätte, war ihr geblieben. Und das war das allerschrecklichste, daß dies Opfer so nutzlos war!

Zum ersten Male stand ihr Schicksal in seiner entsetzlichen Wirklichkeit vor ihren Augen: an einen langsam Hinsterbenden gefesselt, lebendig begraben, sie, deren junges Blut nach dem sonnigen, bunten Leben so sehnsüchtig pulste.

Eine Totenangst schnürte Ursula die Brust zusammen. Es ward plötzlich so düsterschwarz, so eng um sie, als müsse sie ersticken, als würde sie wirklich in die dumpfe Gruft gezwängt. Mit einem Aufschrei fuhr sie vom Sitz, wild um sich greifend, aber taumelnd glitt sie im nächsten Augenblick zu Boden. Die Überspannung ihrer Nerven rächte sich. Eine Ohnmacht war über sie gekommen. So fand sie das Mädchen an, das auf das dumpfe Geräusch des Falls hin zu ihr geeilt war.

* * *


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