Paul Grabein
Ursula Drenck
Paul Grabein

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweiter Teil

10. Kapitel.

Laut hallten die lang schwingenden Klänge des Gong durch das Haus: Ein Uhr! Das Zeichen für die Insassen des Sanatoriums, sich in den Speisesaal zu begeben.

Drenck, der schon im Gehrockanzug fertig am Fenster gestanden hatte, ging an die Tür zum Nebenzimmer und klopfte an:

»Bist du fertig? Es ist so weit.«

Statt jeder Antwort öffnete sich alsbald die Tür, und Ursula trat zu ihm. Auch sie war bereits mit der Toilette fertig gewesen, aber drinnen für sich geblieben. Sie kannte des Gatten nörgelnde Stimmung, jedesmal in den ersten Tagen, wenn sie in ein neues Hotel oder Sanatorium gekommen waren. Und sie waren hier, in der Heilanstalt auf der Berghöhe, am Genfer See, gerade erst vor ein paar Stunden angekommen. Da hatte Ursula sich den sie nur verstimmenden kritischen Anwandlungen des Gatten lieber entzogen; sie mußte ihre Kraft ja für ernstere Aufgaben aufsparen.

Seit bald drei Jahren reiste sie nun schon mit Drenck durch die Welt, den Winter stets im Süden oder Hochgebirge, die Sommermonate im deutschen Bergwald zubringend. Der Zustand des Gatten war aber seit der Erholung von jenem schweren Anfall immer derselbe geblieben. Er war und blieb ein hoher Schonung bedürftiger Patient und sie seine Pflegerin, die geduldig seine Launen ertrug; seine Trösterin, die ihn in Stunden der Verzweiflung wiederaufrichtete mit Worten der Zuversicht, an die sie selbst im Innersten nicht mehr glaubte. Sie hatte in diesen Jahren die schwere Frauenkunst gelernt, mit blutendem Herzen zu lächeln.

Drenck furchte die Stirn, als er sie so schnell heraustreten sah, die, wie er gewähnt hatte, noch mit ihrem Anzug beschäftigt war.

»Warum läßt du mich denn so lange allein hier herumstehen?« stellte er sie mit scharfem Ton zur Rede.

»Ich war ja gerade eben erst fertig geworden,« beschwichtigte sie ihn, wie eine Mutter ihr kränkelndes, verzogenes Sorgenkind – gütig, aber mit einer überlegenen Bestimmtheit im Ton. So nahm sie auch seinen Arm und drängte ihn sanft zur Tür hin, der noch Lust zu einer längeren Debatte zu haben schien. Draußen verbot sich ja von selbst jede Aussprache, und wenn auch Drenck allein mit ihr nur allzuoft den Ton schuldiger Rücksicht vergaß, vor den Leuten wahrte er – darin wenigstens noch ganz der einstige Kavalier geblieben – unbedingt die Dehors.

So schritten denn auch jetzt die Gatten schweigend nebeneinander dem Speisesaal im Erdgeschoß zu. Als sie dort eintraten, fanden sie die meisten Gäste schon an der Tafel versammelt vor. Drenck sah sich suchend nach seinem Platz um. Der das Service beaufsichtigende Direktor der Anstalt bemerkte es aufmerksam und trat zu ihm.

»Bitte Herrn Leutnant und gnädige Frau dort drüben, am oberen Tafelende! Die neu angekommenen Herrschaften sitzen immer neben dem Herrn Doktor.«

Drencks nahmen die bezeichneten Plätze ein, nachdem sie der Direktor noch mit ihren Tischnachbarn bekanntgemacht hatte. Die üblichen einleitenden Gesprächsphrasen wurden gewechselt.

»Der Herr Doktor ist noch nicht da,« bemerkte Drenck zu der Dame neben ihm; es wurde mit dem Servieren anscheinend auf ihn gewartet.

»Nein, aber er wird jeden Augenblick kommen. Er ist sonst immer sehr pünktlich. Sehen Sie, da kommt er ja schon!«

Mechanisch drehte Drenck den Kopf nach der großen Saaltür hin, im selben Augenblick fühlte er aber seine Rechte, die auf seinem Knie ruhte, mit krampfhaftem Druck von Ursula gepreßt. Erstaunt sah er nach ihr hin, die mit dem Ausdruck tödlichen Erschreckens nach dem Eingang hinstarrte. Rasch folgte er ihrem Blick – ah, nun begriff er: Wigand, der einstige Verlobte seiner Frau, kam da mit einem anderen Herrn herangeschritten. Kein Zweifel, er mußte es sein, wenn auch sein Haar schon etwas graumeliert war und ein spitzgeschnittener Vollbart das Gesicht zur Hälfte verdeckte. Donnerwetter – das war allerdings eine unerwartete Begegnung. Wie mochte der gerade hierher kommen?

Aber, was war das? Nun verabschiedete Wigand sich von dem fremden Herrn und kam schnelleren Schritts direkt auf sie zu. Sollte er am Ende? Drenck hatte ja allerdings keine Ahnung gehabt und bis jetzt auch hier noch gar nicht darnach gefragt, wer denn der dirigierende Arzt des Sanatoriums »Au Châtelard« war; es schien ja wahrhaftig! – Und nun sah auch jener hierher, da – jetzt hatte er sie erkannt: Ein momentlanges Zucken im Gesicht, ein kaum bemerkbares Anhalten des Schrittes, doch dann sofort vollkommenste Selbstbeherrschung! Im nächsten Augenblick trat er auch schon zu ihnen an den Tisch. Das alles ging so schnell, daß Ursula sich noch nicht zu fassen vermochte. Ihr Herz schlug ihr bis in den Hals hinauf, und es begann sich einen Moment lang alles um sie zu drehen. Ein heftiger Druck an ihrer Linken von Drencks Hand rief ihr erst wieder die Besinnung zurück.

Nun sah sie, wie Wigand sich mit einer Verneigung zu den Umsitzenden wandte:

»Pardon, meine Herrschaften – ich habe etwas auf mich warten lassen.«

Dann schien es, als ob er erst jetzt die Neuangekommenen bemerkte, und mit einer formellen Verbeugung wandte er sich an Drenck.

Während der letzten wenigen Schritte hatte er bei aller inneren Aufgeregtheit blitzschnell überlegt: Sollte er sie wie ein Bekannter begrüßen? Aber wer stand ihm dafür, daß ihn nicht Drenck, nach allem, was geschehen, mit brüsker Kälte verleugnete? Nein, dem konnte und wollte er sich nicht aussetzen, hier vor den Augen seiner Patienten. Außerdem war es für sie alle, die ein hohnvoller Zufall hier gegen ihren Willen zusammengeführt hatte, auch erträglicher, sie stellten sich auf den Fuß von Wildfremden. Hätten sie sich vor den andern als Bekannte begrüßt, so wären doch die üblichen Fragen nach diesem und jenem nicht zu vermeiden gewesen. So brauchten sie wenigstens nicht an der Vergangenheit zu rühren.

»Wigand – der dirigierende Arzt des Hauses,« stellte sich Wigand vor, und keine Miene in seinem Antlitz verriet, was er in diesem Augenblick empfand. Nur der fast starre Ernst seiner Züge hätte einem scharfen Beobachter auffallen müssen.

Wie aus weiter Ferne hörte dann Ursula die Stimme ihres Mannes schallen – kühl und ihr unverständlich ruhig.

»Drenck – meine Frau!« Und während sie so wie eine Wildfremde dem Mann vorgestellt wurde, dessen Verlobte sie einst gewesen, der so furchtbar bestimmend in ihr ganzes Leben eingegriffen hatte, fühlte sie seinen Blick auf ihrem Antlitz ruhen, nur sekundenlang, aber so bohrend, so heiß brennend, daß sie es wirklich körperlich schmerzhaft zu empfinden meinte.

»Meine Frau!« Die zwei Worte hatten plötzlich einen zuckenden Blitz grelleuchtend in Wigands Seele geschleudert, in die dunkle Tiefe, wo ein großes Weh, nur mit Gewalt bezwungen, dumpf lauerte. Er hatte ja seit damals, als er in die Welt hinausgeflohen war, nichts mehr von Ursula und Drenck gehört. Sein Schicksal hatte ihn ruhelos bald hier, bald da herumgeworfen. Keinerlei Beziehungen zur alten Heimat bestanden mehr, so hatte er nicht gewußt, nie erfahren, was aus den beiden andern geworden war.

Wohl hatten sich seine Gedanken im immer wiederkehrenden Durchleben der trübseligen Geschehnisse nur allzuoft mit ihnen beschäftigt, aber nie war ihm die Möglichkeit aufgedämmert, daß jene beiden – Nein, niemals! Denn wie sehr er auch damals Drencks Interesse für seine Braut beargwöhnt hatte, er hatte darauf geschworen, daß Ursula ihrerseits frei von jeder Gedankenschuld war. Und dann erst nach der unseligen Katastrophe! Er hätte es für ganz undenkbar gehalten, daß Ursula – wenn sie sich auch vielleicht später wieder einmal verlobte – den Lebensbund mit jenem Dritten schließen könnte, um den doch all das Unglück gekommen, der selbst in den Strudel des Verderbens so gefährlich mit hineingerissen worden war.

Freilich, wie er da oben nun vor einer halben Minute die beiden vor sich erblickt hatte, allein reisend, nebeneinander, da hätte er es ja eigentlich wohl schon ahnen müssen. Aber das Erschrecken über dies Wiedersehen und im nächsten Moment wieder die notwendige Überlegung seines Verhaltens hatten ihn so ganz innerlich in Anspruch genommen, daß er sich dessen vorhin gar nicht bewußt geworden war, was dieses Nebeneinander für ihn zu bedeuten hatte.

»Meine Frau!« Nun enthüllten ihm die kalten, selbstverständlichen Worte mit einem Ruck das wahre Bild der Situation: er war beiseite geworfen, aus seinem Recht und Besitz gestoßen worden, damit der Eindringling seinen Platz erhalten konnte. Auf den Trümmern seines zerstörten Lebens hatten die beiden da unbedenklich ihr neues Glück gezimmert. Großer Gott, wie war es möglich – wenigstens von ihr, die bisher, wenn auch nicht frei von Schuld, so doch aber als ein völlig einwandfreier Charakter von Ehre und Gesinnung, als eine Unglückliche vor seiner Seele gestanden hatte, der er sein tiefinnerstes Mitleid niemals versagen konnte!

Aber nun? Wo sie diesen Schritt in einer ihm unfaßbaren Gefühllosigkeit begehen konnte? Ja, jetzt – mein Gott – jetzt fiel ja mit einem Male überhaupt das rechte Licht auf jene Begebnisse, die zu der ganzen Katastrophe geführt hatten. Wie Schuppen fiel's ihm von den Augen: die beiden jetzt Mann und Frau – also das war es gewesen, was damals hinter ihrem vermeintlich harmlosen Treiben gesteckt hatte! Sie, die er wie eine Heilige verehrt, für deren Lauterkeit in jedem Gedanken, solange sie sein war, er noch vor einer Minute jeden Eid geschworen hätte, sie hatte damals schon als seine Braut das verräterische Spiel mit jenem getrieben. Betrogen, verraten war er worden, und sie hatte ihm dann obenein den Laufpaß gegeben!

Ah! Es war Wigand einen Augenblick, als ob er ersticken müsse, so wallten Ekel, Empörung und lodernder Haß in ihm auf. Aber er bezwang sich, und nur sein Blick, der sich einen Moment lang in den ihren bohrte, verriet die qualvolle Glut, die in ihm brannte.

Ursula fühlte diesen Blick, und nun hob sie auch die Augen zu ihm auf. Es war noch im Moment der Vorstellung – alle diese Empfindungen durchjagten ihre Seelen ja blitzschnell, zusammengedrängt in eines Atemzuges Länge – und es mußte ja der Leute wegen geschehen. Aber sie fühlte, daß ihr alles Blut aus den Wangen gewichen war, und daß ihr Blick, mit dem sie, an seinen Augen vorbei, in sein Antlitz sah, flimmerte und zitterte, doch auch ihre Mienen trugen die täuschende Maske gleichgültiger Kälte. Sie beide, Ursula und Drenck, mußten so auf die Umsitzenden den Eindruck unangenehm reservierter, hochmütiger Menschen machen; aber sei es darum! Was gingen sie schließlich auch die anderen an?

Wigand hatte sich inzwischen auf seinen Platz am Kopfende zwischen Drenck und der älteren Dame zu seiner Linken niedergelassen. Er zog die Serviette aus dem Ring und entfaltete sie. Seine schmalen, jeden Ringschmucks entbehrenden Hände zeigten dabei ein heimliches Zittern. Ursula sah es unter den wieder gesenkten Wimpern – wie in einem hypnotischen Zwange trieb es sie, ihn versteckt zu beobachten – und wie sie auf diese nervös zuckenden Finger schaute, schoß es ihr plötzlich durch den Kopf, wie oft sie damals diese Hände geliebkost und ihm gesagt hatte, sie wären das Schönste an ihm – wahrhaft vornehme Hände. Und da saß sie nun hier und spielte eine Komödie zum Grausen oder zum Lachen. Ja, zum schrillen, gellenden Lachen. Was war das Leben doch für ein groteskes Possenspiel!

Die Situation machte es unvermeidlich, daß Wigand anstandshalber noch ein paar weitere Fragen an ihren Mann richtete. Die Herrschaften seien wohl eben erst angekommen, ob sie zusagende Räume hätten und ähnliches. Mit kühlem Konversationston wurden diese Fragen gestellt und beantwortet, anscheinend in vollster Ruhe, und doch atmeten die drei auf, erlöst wie von einer unerträglichen Qual, als die Tafel aufgehoben wurde und sie sich mit dem konventionellen Gruß voneinander verabschieden konnten.

 


 << zurück weiter >>