Paul Grabein
Ursula Drenck
Paul Grabein

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4. Kapitel.

Schon eine Stunde fast wartete Wigand auf der Straße auf den Arzt, der zur Drenckschen Wohnung hinaufgegangen war, nach dem Verwundeten zu sehen. Wie Ewigkeiten verrannen die Minuten hier unten für den Wartenden, der in fieberhafter Erregung und Ungeduld die wenigen Häuser entlang bis zur nächsten Ecke schritt und wieder zurück, sollte doch der Bescheid des Arztes ihm selber die Entscheidung über sein ferneres Leben bringen. Denn das stand klar vor Wigands Seele: Erlag Drenck wirklich seiner Wunde, wie zu befürchten stand, so war sein Glück, seine ganze Existenz vernichtet. Ursula würde ihm nie den Tod des Vetters, der gewissermaßen als ihr Ritter für ihre Sache gefallen war, verzeihen können. Und wollte sie es selbst, er hätte es nicht vermocht: das furchtbare Bild des Toten wäre für immer zwischen sie beide getreten.

Das hatte sich Wigand in einem fort gesagt, gestern und die ganze Nacht hindurch, diese endlose, martervolle Nacht, die er in den Kleidern zugebracht hatte, ruhelos in seinem Zimmer auf und ab wandernd. Wie unzählige Male hatte sein brennender, übernächtiger Blick das Zifferblatt der Uhr gesucht, ob denn der Morgen noch immer nicht kommen wollte, die Stunde, wo er wieder zum Arzt hineilen und, wie schon gestern abend noch spät, sich erkundigen konnte, wie es um den schwer Leidenden stand.

Noch am gestrigen Nachmittag war an dem Verwundeten ein operativer Eingriff gemacht worden, und davon, wie er die Nacht überstehen würde, sollte sein Schicksal abhängen, so hatte der berühmte Chirurg sich nachher zu dem behandelnden Kollegen geäußert. Nun waren sie beide oben bei dem Kranken, und schon eine volle Stunde lang. War es ein schlimmes Zeichen, oder gab es Hoffnung? Angstgefoltert legte sich Wigand immer wieder die Frage vor.

Da endlich, wie er wieder einmal umdrehte und von der Ecke nach dem Drenckschen Hause hinschritt, sah er die beiden Herren auf die Straße treten. Noch eine kurze Unterhaltung am Wagenschlag, dann fuhr das elegante Coupé mit dem Geheimrat davon, und Wigand konnte auf den Arzt zueilen.

»Nun?«

Ein Menschenschicksal hing von der erwartungzitternden Frage ab.

Der Doktor reichte ihm die Hand, mit festem Druck: »Gut! – Er wird durchkommen nach menschlichem Ermessen. – Freilich wird er wohl einen kleinen Knacks für immer weghaben.«

Nur das erste, erlösende Wort hatte Wigand in sich aufgenommen, in seine mit jedem Nerv lauschende Seele, und wie ein Jubel, ein frommer, inbrünstiger Dank quoll es nun darin empor.

Stumm umklammerte er des Doktors Rechte mit seinen Händen, als ob er sie zerbrechen wollte.

»Na, na – man nicht zu wild!« lächelte gutmütig der andere. »Übrigens, Sie können sich wirklich gratulieren – ich hätt's bis vor einer Stunde selbst nicht geglaubt. Na, nun denken Sie aber gefälligst auch ein bißchen an sich selbst. Mann Gottes, Sie sehen ja wie ein Gespenst aus. Jetzt schnell ein Glas alten Portwein und dann ins Bett – hören Sie? Und nun Gott befohlen!«

Noch ein Händeschütteln und auch der andere stieg in seinen Wagen mit dem steifbeinigen Rappen und fuhr davon.

Mit schnellen Schritten eilte Wigand seiner Wohnung zu. Ihm war zumute wie einem, der, zum Tode verurteilt, in letzter Minute noch das Begnadigungsschreiben erhalten hat: Ein kurzes, innerliches Aufjauchzen des ganzen Menschen, dann aber ein ohnmächtiges Zusammenbrechen – die Folge der unnatürlichen Nervenüberspannung der letzten, qualvollen Tage. So ging es jetzt auch ihm. Er fühlte sich plötzlich so matt, daß er hätte umsinken mögen, ein unendliches Ruhebedürfnis überkam ihn. Ach, jetzt ein paar Stunden tiefen, erquickenden Schlafes und dann mit frischer Kraft, ein Neugeborener, hinein ins Leben!

Ein Neugeborener. Ja, wahrhaftig, das würde er sein! – Er fühlte es instinktiv, während er nun mit heftigen Schritten, im letzten Aufraffen seiner Kräfte, nach Hause eilte, schnell zur Ruhe zu kommen. Die inneren und äußeren Erlebnisse der letzten zwei Tage hatten einen tiefgreifenden, umgestaltenden Eindruck auf ihn gemacht. Die vorschnelle Leidenschaftlichkeit seines Empfindens, das hartnäckige Verharren bei der vorgefaßten Meinung, sie waren ihm in schärfster Beleuchtung als verhängnisvolle Fehler seines Wesens klargelegt worden, und er war sich sicher: nun würde er mit aller Energie dagegen ankämpfen und siegen.

Wie anders stellten sich ihm jetzt, wenn er zurückdachte, die Dinge dar, die zu der Katastrophe geführt hatten. Freilich: auch Ursula war ja nicht frei von Schuld, aber sie war doch erst durch ihn zu ihrem Trotz gereizt worden. Es hätte alles nicht zu kommen brauchen, wenn er milder und ruhiger gewesen wäre.

Eine tiefe Reue befiel ihn, wenn er nun an Ursula dachte, was er ihr alles für Aufregungen und Schrecken bereitet hatte. Am liebsten wäre er ja gleich zu ihr geeilt und hätte sie inständigst um Verzeihung gebeten, ihr fest seine innere Wandlung gelobt. Aber er wollte ihr nicht so verstört und niedergebrochen gegenübertreten und auch ihr noch etwas Zeit gönnen, sich wieder von all dem Furchtbaren zu erholen. Doch heute nachmittag, da wollte er zu ihr gehen und alles ins reine bringen. Und der Gedanke daran gab ihm schon jetzt eine beruhigende, tröstliche Zuversicht.

So kam Wigand nach Hause zurück. Er fand seine Wohnung leer. Die Aufwärterin, die nur während der Sprechstunden dort anwesend war, hatte sie bereits wieder verlassen. Um so besser, so konnte er ganz ungestört ein paar Stunden ausruhen. Von einem tiefinneren Bedürfnis nach erquickendem Schlummer gelockt, ging Wigand in sein Schlafzimmer, sich auf die Chaiselongue zu werfen; aber wie er, das Fenster zu schließen, am Leuchtertischchen neben dem Ruhebett vorbeikam, fiel sein Blick auf einen Brief – die Aufschrift trug Ursulas Handzüge. Daneben lag ein Zettel von seiner Aufwärterin mit einer Bleistiftnotiz: Dieser Brief wäre heute morgen mit der ersten Post, gleich nach seinem Fortgehen angekommen. Dann folgten noch ein paar Namen von Patienten, die dagewesen waren.

Eilig, in höchster Spannung griff Wigand zu Ursulas Brief: Was würde sie ihm sagen? Doch wie er das Kuvert aufreißen wollte, fühlte er plötzlich etwas Hartes, Rundes. – Mein Gott! – Ein jäher Schrecken ließ ihm plötzlich das Herz stocken. Das war doch nicht etwa? – ungestüm zerfetzte er den Umschlag – da blinkte es plötzlich golden auf und fiel zur Erde: ein heller, metallner Klang, ein elastisches, nochmaliges Aufschlagen und leises Rollen auf dem Fußboden, bis es still ward – sein Ring, den er Ursula an den Finger gesteckt hatte.

Die Knie versagten Jörg plötzlich den Dienst. Er ließ sich auf die Chaiselongue sinken und saß so einige Augenblicke starr und unbeweglich, einen stechenden, starken Schmerz in der Brust. Dann hob er langsam den Brief empor und las:

»Jörg!

Es ist aus – es muß aus sein mit uns!

In der Minute, wo sie uns heute vormittag den unseligen, armen Fred blutüberströmt, von deiner Hand hingestreckt, ins Haus trugen, schrie es auf in mir: »Es ist aus! Du kannst die Hand, an der Menschenblut klebt, nie wieder berühren. – Abscheu, Entsetzen würden dich töten!«

Und jetzt abends, wo ich alles noch einmal überdenke, was ich hunderte von Malen an diesem fürchterlichen Tage durchgedacht habe bis zum Wahnsinnigwerden, jetzt steht mir dieselbe Gewißheit klar vor der Seele, nur noch viel deutlicher und schärfer als bisher: Es ist aus – es muß aus sein!

Ich kann mich nicht mehr an Deiner Seite denken, Jörg. Ein Grauen schüttelt mich bei dem Gedanken: Du, der Du das vermochtest – ein blühendes, hoffnungsvolles Menschenleben mit kalter Hand hinzuopfern Deiner grundlosen, lächerlichen Eifersucht, Deinem brutalen Jähzorn – nein und tausendmal nein!

Ich vermag es nicht! Alles, was einst Warmes und Zartes in mir war für Dich – Du selber hast es zertreten, vernichtet, wie den Unseligen da, der, zwei Zimmer weiter von mir, mit dem Tode ringt. Mit ihm hast Du mich getroffen, die ich ja die eigentlich »Schuldige« war, derentwegen der Unglückselige unschuldig geopfert wurde. Nun, Du kannst zufrieden mit deiner Rache sein!

Ich muß, wenn ich versuche, mich in Deine Seele zu versetzen – soweit mir das jetzt noch möglich – mir sagen, daß Du selber ja auch wohl nichts anderes wünschen wirst, als was nun geschieht, daß unsere Wege sich wieder trennen. Ein Mädchen, das – nach Deiner Auffassung – Dir schon als Verlobte Veranlassung zu solch furchtbarer Tat bot, wird Dir schwerlich noch länger begehrenswert zur Frau erscheinen.

So ist es für uns beide das beste, wenn ich Dir hiermit Dein Jawort zurückgebe und den Ring, der es bekräftigen sollte.

Bitte, mach keinen Versuch, mich oder Papa zu sprechen oder mich sonstwie umzustimmen. Was ich Dir hier schreibe, ist mein fester, unerschütterlicher Entschluß. Nimm wenigstens noch so viel Rücksicht auf mich, daß Du mir die Ruhe gönnst – uns allen hier, die wir einen Sterbenden in unserem Hause haben.

Möge Gott Dir vergeben, was Du an Fred und uns getan hast – ich vermag es in dieser Stunde nicht!

Ursula.«

Langsam entglitt das Papier Wigands Hand. Dann entrang sich ein wildes Auflachen seiner Brust, ein furchtbarer Laut, aus dem all das vernichtende Weh seines Herzens schrie, und nun warf er sich lang auf das Ruhebett, beide Hände vor die glühend brennenden Augen gepreßt.

So lag er regungslos und stumm – lange, lange.

Endlich erhob er sich. Er nahm den niedergefallenen Ring vom Boden auf und ging damit hinüber in sein Sprechzimmer, mit langsamem, schwerem Schritt. In einem Schub des Schreibtisches verschloß er den Reif; dann nahm er ein Kuvert und einen Briefbogen, tat seinen eigenen Ring hinein, verschloß den Umschlag und schrieb die Adresse. Ein Begleitschreiben war ja nicht mehr vonnöten.

Wigand tat Hut und Mantel an und verließ die Wohnung wieder. An dem nächsten verkehrsreichen Platz suchte er einen Dienstmann auf, der mit dem Fahrrad auftragbereit dastand. Er gab dem Manne den Brief und ein Geldstück.

Der Rotmützige las die Adresse »Fräulein Ursula Drenck« und schmunzelte verständnisinnig:

»Soll ich auf Antwort warten, Herr Doktor?«

»Nicht nötig!« Kurz klang die Antwort des Auftraggebers, der sich bereits zum Weitergehen gewandt hatte.

»Komischer Liebhaber!« dachte der Philosoph der Straße und stieg auf sein Rad.

Wigand aber verschwand im Gewühl der Passanten – im Gewoge des unbekümmert um Menschenleid dahinbrausenden Lebens. Er ließ sich von ihm treiben – gleichviel wohin – wenn es mit seinem Brausen nur das Weh in seinem Innern übertönte!

 


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