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Wie man uns die Träume vertreibt und den Abschied gibt

So verstrichen uns Jahre nicht unangenehm und mir sehr nützlich; denn je mehr ich lernte, desto durstiger wurde ich nach mehrerem; wo mein Alter nicht aushelfen konnte, da half ich mir selbst weiter. In unerschütterlichem Glauben warteten wir Jahr um Jahr, wie die Juden auf den Messias, auf den großen Toten von St. Helena.

So gut wir konnten, spähten wir aus, was in der hohen Welt vorging, und setzten die erhaltenen Nachrichten nach unserer Art zusammen, und glaubten bald hier bald dort die sichtbar werdende Hand des Erscheinenden wahrzunehmen. Doch immer wurden wir getäuscht, aber nimmer müde, von vornen anzufangen. Da war es eines Morgens, als wäre ganz Paris, von einem elektrischen Schlag getroffen, aus dem Bett gefahren und zwirble noch sturm und betäubt herum. Es schrie alles auf den Straßen; vor den Kaffeehäusern drängten sich Massen; um die Anschlagszettel stund, Kopf an Kopf gepreßt, eine undurchdringliche Menge. Aber sprechen hörte man wenig; nur die Augen brannten dunkler, und jeder sah dem andern in seine tiefer hinein, als ob er durch diese wunderlichen Fenster hindurchschauen wollte in des andern Seele hinab. Wir wußten nicht, was es zu bedeuten hätte, kamen endlich zum Lesen dessen, was alle lesen wollten; es waren die berüchtigten Ordonnanzen von Karl X. Blätter flogen durch die Menge; die Aufregung nahm zu, drohende Worte fielen, und Patrouillen fingen an, durch die Straßen zu ziehen, doch ohne irgend Widerstand zu finden. Wir gingen in unsere Kasernen. Niemand dachte etwas Weiteres; keine Vorsichtsmaßregeln waren getroffen, keine Truppen zusammengezogen, und nicht einmal die anwesenden bereit gehalten. Aber der Lärm nahm zu von Stunde zu Stunde; ein Volksmeer wogte durch die Straßen, unbewaffnet, wenn man die Blitze nicht rechnet, welche ihre Augen auf die aufgestellten Truppen schleuderten. Uns fing das Herz an zu klopfen, wir ahneten eine große Stunde; und wer anders konnte in dieser großen Stunde erscheinen, als unser großer Kaiser? «Gotthelf,» sagte mein Alter, «laß uns unsere Pflicht tun, wie wir geschworen haben; es wird sich schon machen, daß alles gut kommt.»

Den 27. Juli 1830, mittags, rückten wir aus. Ganz eigen schlug mein Herz; aber an die Gefahren, die einbrechen würden, dachte niemand. Unsere Offiziere waren noch ganz guten Mutes; sie sahen nur eine Volkshetze in der Geschichte, und munter ließen sie uns die Menge mit den Kolben aus dem Palais Royal jagen. Den Kolben wurden zuerst Steine und Stöcke entgegengesetzt; es gab leicht Verwundete. Dies reizte die Menge. Studenten, Bürger erschienen bewaffnet in der Masse. Diese brach ein bei Waffenschmieden, und wo sie Waffen zu finden hoffte; ihr Widerstand wurde heftiger; zur Schutzwehr rissen sie das Pflaster auf, machten aus demselben und allem, was ihnen in die Hände fiel, quer über die Straßen, eine Art von Schanzen, Barrikaden genannt. Noch blieben die Soldaten Meister, ihr Feuer streckte ganze Reihen nieder; der Kampf war nicht zu Ende; aber doch konnten wir gegen Mitternacht wieder in unsere Kaserne ziehen, hoffend, die Linie werde bis am Morgen fertig machen. Doch vergebliche Hoffnung! Am Morgen mußten wir wieder hinaus. Paris schien zum Schlachtfeld geworden; ganz andere Menschen, ganz anders bewaffnet, traten uns gegenüber; ganz andere Schutz- und Trutzmittel besaßen sie. Die Straßen waren verrammelt, die Häuser besetzt; Steine und Kugeln regneten von ihnen in die Straßen herab. Eine eigene Schlachtenfreudigkeit, die dem Schweizer eigen ist, hatte anfangs die meisten Gesichter überzogen; nur einige Offiziere waren bleich geworden, und ein Hauptmann besonders, der durch das Spiel seiner Achseln und Ellbogen berühmt war, durch nichts sonst, suchte mit der erdenklichsten Sorgfalt sich immer in Sicherheit zu bringen. Aber es wurde ein immer furchtbareres, ein immer endloseres Fechten; wir erstürmten Barrikaden um Barrikaden, aber immer neue stunden vor uns; wir drangen von Straße zu Straße, aber in jeder neuen fanden wir größern, nachhaltendern Widerstand.

Eingekeilt in enge Straßen, konnte man nicht vorwärts, konnte sich kaum rühren, konnte dem aus tausendfachem Hinterhalt fechtenden Feinde nicht auf den Leib. Es war ein traurig Fechten gegen Knaben und Mädchen, schmählich für den alten Soldaten, wenn seine Kugel, die einem wütenden Volksführer galt, in die Brust eines Weibes schlug. Ein gewisser Instinkt, daß wir nicht für die rechte Sache stritten, sondern um eines Eides willen, lähmte uns mehr und mehr; die Kampfesfreudigkeit wich von uns; wir taten nur noch unsere Pflicht, und die richtet in solchem Streite nichts aus. Wir fühlten uns verwaist; wir fühlten kein Auge, das über uns wachte, keinen Geist, der über Paris schwebte und das Ganze überschaute, lenkte; nichts nimmt dem Soldaten so sehr die Zuversicht, als der Glaube, es sei kein Führer da, der die Resultate des Kampfes zu verbinden, zu benutzen verstehe. Zudem quälte uns Hunger und Durst, und ein Mann mit leerem Magen ist nur ein halber Mann: während wir hungerten, sahen wir Scharen Weiber mitten im Feuer Hunger und Durst ihrer Männer und Kinder stillen. Anderthalb Tage wogte der Kampf auf und ab; Generale sahen wir durch unsere dünner werdenden Reihen eilen, sahen den alten Marmont, der der Kopf des Ganzen sein sollte und den eigenen verloren hatte, sahen, daß wenige wußten, was sie sagten, noch weniger, was vorzukehren sei. Auf der andern Seite sah man keine Generale, kein besterntes Oberhaupt; Knaben, unbärtige Jugend, warfen sich an die Spitze der einzelnen Volkssäulen vor, und doch schien alles von einem Geiste geleitet zu sein, ein Geist die wilde Masse zu vereinigen, zu beleben, zu lenken. Diesen Geist sahen wir nicht; aber Bonjour sah mich manchmal durch den Pulverdampf bedeutend an, als wollte er sagen: Er ist da, der Kleine, dessen Geist eine halbe Million erfüllen, begeistern, wie einen Körper bewegen konnte. Wir kannten den Volksgeist nicht, der in gewissen Stunden über Millionen kommen kann; darum erkannten wir hier sein Walten nicht.

Die Linie wankte, legte die Waffen nieder. Noch schlug sich die Garde unwillig aber fest im Louvre, in den Tuilerieen. Am ersten Orte erhielt ich einen Schuß durch den linken Arm, der mich kampfunfähig machte, doch nicht bewußtlos. Bonjour verband mich flüchtig, gebot mir, mich an ihn zu halten und nicht zurückzubleiben; wir wußten nicht, ob an uns wieder geschehen sollte, was vor bald vierzig Jahren an der alten Garde des sechzehnten Ludwigs. Die beiden Schlösser wurden gegen Mittag des 29. genommen; den kleinen Teufeln von Studenten mußten wir weichen, und zogen uns entkräftet St. Cloud zu.

Wir waren besiegt. Wer hat dieses Gefühl lebendig je empfunden? Von wem? das wußten wir eben nicht. Es schien uns nach und nach immer deutlicher, daß ein unsichtbarer Feind unser Sieger sei. Die Sorge für die Waffen, für den Widerstand verschwand mehr und mehr; die Obern stunden zusammen, bekümmerten sich wenig um die Ordnung der Soldaten, um eine feste gedeckte Stellung gar nicht. Die Ersten der Armee zeigten sich nicht. Die Couriere, hohe und niedere, gingen nicht nach den Sammelplätzen der Truppen, sondern nach Schlössern und erleuchteten Sälen. Bonjour wurde, trotz allem Aerger, daß wir vor einer so ordnungslosen Masse gewichen, immer fröhlicher. Er behauptete, da sei etwas Großes im Werke; gerade so sei es gegangen, als der Kleine das erste Mal abgedankt; nun komme die Reihe an einen andern. Er reinigte sich von Blut und Staub, wichste den Schnurrbart frisch, bürstete so weit er kommen konnte, und sorgte zugleich für mich wie ein Vater. Bei jedem Geräusch fuhr er auf, und meinte, nun komme der schöne Schimmel, und auf dem schönen Schimmel der kleine Hut, und unter dem kleinen Hut der große unsichtbare Geist, der uns geschlagen. Da ritt es endlich an uns heran; aber der Schimmel und der Hut waren nicht dabei, auch nicht der Geist. Wir vernahmen, daß Karl abgesetzt sei, daß das Volk Louis Philipp zum König erwählet, daß die Franzosen den Eid der Treue zu schwören, wir aber die Waffen zu strecken und nach Hause zurückzukehren hätten. Von Napoleon kein Wort.

Wir streckten die Waffen, wir zogen die grauen Kaputröcke an und empfingen von der ganzen Nation, von Station zu Station, Blicke stolzer Verachtung, demütigenden Mitleids. Traurig ist's, Kriegsgefangener zu sein, von einem Mächtigern besiegt, wandern zu müssen in fremdes Land, vielleicht in enge Haft, begrüßt vom Haß der Bewohner. Doch der Kriegsgefangene tröstet sich mit dem wechselnden Geschick, mit dem Gefühl, daß er für sein Land, seinen angebornen Herrn es geworden. Aber wer beschreibt die entsetzliche Empfindung für brave Soldatenherzen, wenn sie im Blute besiegelter Treue, wie Bettler, von Schub zu Schub in die Heimat abgeliefert werden, wenn sie heimgetrieben werden, wie vermietetes Vieh; nichts gilt, was sie getan, nur Vorwürfe sie treffen, was sie genossen? Wer beschreibt die entsetzliche Empfindung, wenn in der Heimat die gleichen Blicke sie empfangen, die gleiche Geltung ihnen wird? Wenn der Glaube offen an den Tag gelegt wird, nun seien sie neu zu vermietendes Vieh; und wenn die sogenannten Landesväter dieses Vieh nun selbst mieten wollen, um es gegen seine Väter und Brüder zu gebrauchen, Bruderblut zu vergießen, Väter dem Henker zu überliefern? Wer will die Empfindung des Einzelnen beschreiben, wenn er sieht, daß die Menge der Kameraden in langer Gewohnheit alles vergessen haben, nur nicht die Gewohnheit, Mietlinge zu sein, wenn er sie erkaufen sieht um einen halben Gulden täglich, nicht nur zu schlechten Streichen, sondern zu Vater- und Brudermord? Wer will seinen Schmerz beschreiben, wenn er teilen muß die Verachtung, die mit Recht die Unglücklichen trifft, das nie aufhörende Mißtrauen, das die durch ihr Leben begleitet, welche die rote Kutte getragen, und ganz besonders die, welche die wenigste Schuld tragen, die Gemeinen meine ich!


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