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Wie Gott mir Anneli nimmt

Spät kam ich einmal aus dem Walde heim und fand die Botschaft vor, sobald als möglich zu Anneli zu gehen. Natürlich eilte ich so sehr ich konnte, mußte vorerst aber noch ausschirren, füttern etc. Als ich hinkam fand ich es in gar schweren Leiden; doch mein Kommen freute es und es meinte, alles werde nun schon gut gehen. Aber die Frau schüttelte den Kopf und sagte, das währe schon gar zu lang; das sei nicht alles gut; es wäre am besten, wenn man so geschwind als möglich den Doktor holen würde. Ich wollte gehen, aber Anneli sagte: «Blyb bi mr, Meiß, i lah di nit furt; es isch mr e Trost, we di nume cha aluege; mir cheu ja dä Bueb schicke, wo dr's isch cho säge». Der lief, und wie wir auf ihn und den Doktor blangten, kann niemand sagen; o so ein Warten ist eine der erschrecklichsten Sachen im Leben! Endlich kam der Bube zurück, aber ohne Doktor; der ließ sagen: er komme nicht, er wisse nicht, wer ihn da zahlen würde; wir werden es wohl machen können ohne ihn. Es war der gleiche Arzt, welcher, als man ihn zu einem in einen Weiher gefallenen Knaben rufen wollte, weil er der nächste war, sagen ließ, das sei nicht sein Haus, sie sollen jetzt auch den rufen, den sie gewöhnlich brauchen. Der Knabe, der nur wenige Minuten im Wasser gelegen, blieb tot. In meiner Seelenangst wurde ich nicht einmal zornig, sondern dachte nur daran, den Doktor zu versichern, daß er bezahlt werden solle. Ich verließ Anneli, das mir gar wehmütig nachsah in seinen Schmerzen, fand den Doktor, sprach gut; und als er mir endlich glaubte, daß ich zahlen könne und wolle, begleitete er mich, lief mir aber zu langsam und sagte alle Augenblicke: «He, das wird öppe nit sövli pressiere».

Über das, was jetzt kam, muß ich schweigen. Endlich sah ich die Stücke meines Kindes, endlich sank Anneli verblutet zurück; seine Hand hatte die meine krampfhaft noch gefaßt, und seines brechenden Auges letzter Strahl leuchtete in unaussprechlicher Liebe in mein Auge. Einige Worte wollte es noch sagen; aber sie wurden nur zu seines Leibes letztem Hauche, auf dem seine reine Seele sich emporschwang, dahin, wo die reinen Geister wohnen, und seinen Mund umzog ein Lächeln, als ob der ihm nun erscheine, der gesagt hat: «Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid». Versunken in Jammer und Elend stund ich zu seinen Häupten, glaubte nicht an sein Sterben, rief: «Anneli, Anneli!» Aber Anneli antwortete nicht mehr. Annelis Mund blieb stumm. Da sagte der Doktor: «Was witt doch? Das isch jetzt tot; es isch ihm wohl gange u dir o, u we dr Gschicktisch vo Bärn cho wär, er hätt ihm nit chönne helfe, da isch alles ine-n-angere-n-iche verlyret gsi. Aber i wott furt; we d' mi jetzt zahle witt, su chast; i will dr nume e Dublone heusche, e-n-angere müeßt sechs Neutaler gä». Ich weiß nicht, ob es Sitte ist, daß man die Schinder noch im Angesicht ihrer Henkerarbeit zahlt; ich wenigstens konnte es nicht; aber ich wurde nicht in Ruhe gelassen, bis ich das Versprechen mehr als einmal abgelegt, sobald ich zum Pfarrer gang, 's ga agä, das Geld zu bringen. Ach, ich kann nicht beschreiben, wie es mir zu Mute war, daß ich Anneli nicht mehr haben, daß ich wieder alleine auf Erden, daß ich wieder niemerem sein sollte. Alle meine Pläne, alle meine Träume über die Zukunft, alle meine gehofften Freuden sanken mit Anneli ins Grab; es war der Mittelpunkt von allem gewesen; es war hinausgerissen, mit ihm alles zerstört. Es war mir, als ob ein weiter schwarzer unergründlicher Abgrund sich vor mir öffne, in den ich mich durchaus stürzen müßte; es war mir, als locke und ziehe es mich aus diesem Leben hinein in den bodenlosen Todesschlund.

Ich erfuhr es da, wie der Mensch nicht in der Gegenwart lebt, oder, um es besser zu sagen, wie das Leben in der Gegenwart ihm eigentlich nur Nebensache, das Leben, das er in Zukunft hofft, die Hauptsache ist. Nun baut ein jeglicher Mensch sich ein Leben in die blaue Zukunft hinaus auf luftigem Gerüste, und immer weiter und weiter hinaus, je jünger er ist. Und was ihm im Leben das Liebste ist, das wird ihm zum Hauptpfeiler dieses Gerüstes, zum Mittelpunkte dieses Lebens; an das und um das reiht alles andere sich. Wenn nun schon nach und nach, aber in rastlosem Fluge, ein Tag um den andern anders kommt, als man ihn erwartet, so merkt man es entweder nicht, oder hofft auf den folgenden, und gewöhnlich erst, wenn unsere Augen vor sich in Zukunft kein Leben mehr sehen können, sondern nur den Tod, wenn sie, um Leben zu sehen, rückwärts schauen müssen auf das Vergangene, erst dann sehen wir, daß unsere Träume eitel waren, und das Leben freilich auch ein Traum, aber ein ganz anderer, als wir geträumt. Aber das ermattete Herz schickt sich hinein mit einem Seufzer, schließt die Augen und wirft sich, wieder hoffend in die Arme dessen, der jenseits des Todes ewiges Leben geben soll. Aber wie anders wird es einem, wenn eine höhere Gewalt den Hauptpfeiler unseres zukünftigen irdischen Lebens zertrümmert, wenn mit ihm das ganze geträumte Leben auf einmal zertrümmert zusammensinkt, die ganze von Träumen angebaute Zukunft vor unsern Augen bis dicht zu unsern Füßen verschlungen wird? Dann geht uns ein Leben unter und wir leben doch; aber dieses Leben ist dann nichts anderes als das Bewußtsein, daß unser eigentliches Leben dahin sei. Als schwarzer, schauerlicher Abgrund gähnt die Zukunft uns an, den mit fortdauerndem Bewußtsein zu betreten unser ganzes Wesen sich empört. Wohl uns, wenn der Rest unserer Kraft noch so groß ist, die eigene Hand zu hemmen, die so gerne in solchen Augenblicken auch das Bewußtsein zerstört, und diesem Schlunde nur seinen Leichnam hinwirft! Wohl uns, wenn wir es vermögen! Der Schlund wird allmählich das Schauerliche verlieren; aus ihm taucht wieder auf ein neues Feld; vielleicht wachsen auch auf diesem einige Blümlein; aber die alte Kraft, die dieses Feld bebaute, ist dahin, und die erste Frische und Schönheit erhält es nimmer. Nun tröstet ihr guten Leute mit allem eurem geistlichen und leiblichen Troste; so lange ihr keine blühende, dem Gemüte befreundete Zukunft heraufzaubern könnet, ist all euer Trösten eitel.

Wohl aber dem, der seinem Leben einen Hauptpfeiler setzet, den keine Gewalt zertrümmern, kein Tod in Staub verwandeln kann. Ach mein Gott, ich hatte mich oft bedauert, wenn ich als Knecht nie Zeit hatte, krank zu sein; wenn ich mit einem fürchterlichen Husten beim Rönnle sein oder gar die Ryttere ziehen, im Fieberfrost in tiefem Schnee Holz führen und in dünnen Zwilchhosen vom Bysluft mich durchziehen lassen mußte; hatte oft gedacht, wie schön es wäre, zu Hause zu bleiben, auf dem warmen Ofen, im weichen Bette, um sich döselen zu können.

An meines Annelis Leiche saß ich, hielt seine Hand, sah auf sein Auge, hoffend, es werde noch einmal sich öffnen; mein Herz siedete mir Ströme heißer Tränen, die nur in einzelnen Tropfen den verfallenen Weg zu meinem Auge fanden. So hätte ich bleiben mögen, hätte mich dann mit Anneli mögen hinaustragen lassen, im dunkeln Hause, ins dunkle Grab; aber nur nicht von Anneli weg, nur nicht unter Menschen, die nicht mit mir um Anneli weinten. Aber da mahnte mich die Witwe, ich müsse zum Tischmacher, zum Schulmeister, zum Pfarrer; da kamen Boten vom Meister, ich möchte doch heimkommen; da kamen gwundrige Weiber, die wissen wollten, wie es zugegangen, wo jede eine eigene Meinung hatte, wie es hätte gehen sollen, jede einen Trost, der mir fast das Herz abdrückte, wenn ich zufällig darauf hörte. Man störte mich bei Anneli, man trieb mich von ihm fort; was war Schnee, Bysluft bei Fieberfrost gegen diese Marter?

Der Tischmacher fragte mich, wer ihn bezahle. Der Schulmeister meinte, es sei nur ein unehelich Kind weniger. Der Pfarrer las mir ein Kapitel über die zeitlichen Strafen der Sünde. Niemand begriff meinen Schmerz, niemand teilte ihn, ein jeder vergrößerte ihn mit tölpischer Hand. O, ich litt schwer, um so schwerer, da das tiefe Leid sich noch nicht auf meine starre Oberfläche herausringen, da verdunsten konnte, sondern in mir verschlossen wühlte und kochte. Ich litt schwer, aber noch schwerer ward mir, als zum ersten Gefühl des Verlustes sich allmählich auch das Gefühl meiner Schuld gesellte; als ich mich erinnerte des Vergangenen, wie oft Anneli in düsterer Ahnung ein trauriges Ende vorausgesehen, wie oft es sich, aber nie mich, angeklagt, der doch allein die Schuld trug. Und als die Anklage meines Gewissens so recht deutlich vor mir stund: du hast Anneli getötet, da hätte ich sagen mögen: ihr Berge fallet über mich zusammen, ihr Hügel decket mich; da wachten Skorpionen und Schlangen in mir auf, und wie glühende Feuerbrände brannte es mir im Herzen, und über mir hätten zusammengeschlagen die Fluten der Verzweiflung, wäre mir nicht in meinen Augen haften geblieben Annelis scheidender Liebesblick. In ihm lag Vergebung, in ihm mein Trost, in ihm die Kraft, nicht dahin fahren zu wollen, von wo aus keine Brücke zu Anneli führt. Ich schwankte umher, wie eine Pappel von heftigem Winde bewegt, ich hatte nirgends Ruhe als an Annelis Seite, meinen Kopf auf seinem Kissen. Als aber der Totenbaum kam, Anneli darein gelegt wurde, der Deckel mir seinen Anblick nahm, Nägel hart den Sarg verschlossen: da ward mir schwarz vor den Augen, und was der Schulmeister in seiner kurzen Leichenpredigt (es waren zu wenig Leute da, um sich zu einer langen die Mühe zu geben) sagte, und wie ich auf den Kirchhof kam, das wußte ich nicht.

Aber als der Sarg dumpf am Boden widerstieß, als die Erde niederrasselte auf den widerhallenden Deckel, als nun die Zwischenwand sich erhob zwischen der bessern Hälfte meiner selbst und mir, die Zwischenwand, die nur Gottes Hand nach dem Tode einzureißen vermag, da durchschauerte es meinen ganzen Körper, und die Wellen meines Schmerzes erhoben sich, schlugen über das Ufer und ergossen sich in Fluten über mein Gesicht. Da erst begriffen die wenigen Menschen, die sich die Mühe genommen, ein armes Mägdlein zur Kirche zu begleiten, daß dasselbe mir so recht lieb gewesen; denn das Plären ist das Barometer, nach welchem man an Leichenzügen die begleitende Liebe mißt. Eine knochigte Frau meinte: «Er isch doch e brave Bursch und het Anni lieb gha, meh weder menge si Frau; emol Mine pläreti nit halb e so, we-n-er mi scho hüt ungere tue müeßt». Es war mir, als ob ich nicht vom Kirchhof könnte, und als ob ich, wenn ich einmal ginge, dann für immer von Anneli getrennt sein würde. Und doch mußte ich gehen. Ich mußte den Begleitenden noch einige Halbe Wein zahlen, mußte dem Doktor seine Dublone bringen, dem Tischmacher seinen Lohn, mußte noch manchem dummen Fragenden Rede stehen. Endlich konnte ich mich bergen in meine Kammer, konnte meinen Schmerz ungesehen und ungestört strömen lassen. Aber damit besserte es mir doch nicht; ich hatte es nicht wie viele Weiber, denen eine tüchtige Plärete viel besser tut, als eine Purgierig, und sollte sie selbst vom Seppli sein. Versunken war der Liebesgarten, den Annelis Liebe in meinem Herzen hervorgelockt, erhalten hatte; er war erdrückt vom Gewichte des Schmerzes; verschwunden war er mit seiner Schöpferin. Nachdem ich sattsam mich selbst angeklagt, da fing eine Stimme in mir an zu fragen: «Ist denn an dem allem niemand schuld als du?» An Gott frevelte ich nicht; aber ich vermochte doch auch nicht zu denken, daß ohne seine Hand kein Haar von unserm Haupte falle; daß denen, die ihn lieben, alle Dinge zur Seligkeit gereichen müßten.


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