Friedrich Gerstäcker
Die Flußpiraten des Mississippi
Friedrich Gerstäcker

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Kapitel 15

Mississippi, Riesenstrom jener fernen Welt, wild und großartig wälzt du deine mächtigen Fluten dem Meere zu, und hinein greifst du mit den gewaltigen Armen nach Ost und West, hinein in das Herz der Tausende von Meilen entfernten Felsengebirge wie in die innersten Klüfte der kühn empor starrenden Alleghenies. Aus den nördlichen eisbedeckten Seen holst du deine Wasser, und Bett und Bahn ist dir zu eng, wenn du mit gesammelter Kraft die Fluten zu wildem Kampfe gegen den stillen Golf hinabführst. Wie ein zuchtloses Heer erkennen sie dann keinen anderen Herrn an als nur dich; rechts und links durchbrechen sie gesetzlos Ufer und Damm; ganze Strecken reißen sie hinab in ihre gärende Flut, vernichten, was sich ihnen in den Weg stellt, zertrümmern, was ihre Bahn hemmen will, und plündern den weiten, rauschenden Wald, der sich ängstlich zusammendrängt, dem fürchterlichen Ansturme zu begegnen. Viele tausend Stämme und junge lebenskräftige Bäume reißen sie wie zum Hohn selbst aus seinen Armen heraus und führen sie ihm Triumph spielend und wirbelnd hinab, immer hinab, ja gebrauchen sie sogar als Waffen gegen die Schutz- und Notdämme der zitternden Menschen, schleudern sie mit entsetzlicher Kraft und Sicherheit wider sie und durchbrechen nicht selten ihre Festen. Gnade dann Gott dem armen Lande, das diese fessellosen Massen überschwemmen! Nicht einmal Flucht hilft mehr. Mit Sturmesschnelle wälzen sich die schäumenden Wogen durch friedliche Felder und über fruchtbare Ebenen hinaus; – erbarmungslos schleppen sie hinweg, was sie tragen können, und vernichten das übrige. Und wenn sie weichen, wenn sie dem vorangegangenen, nicht rechts noch links schauenden Kern der Armee folgen, dann lassen sie eine Wüste zurück, in der oft selbst die letzte Spur menschlichen Fleißes vernichtet wurde.

Solche fürchterliche Macht übt der Mississippi. – Ist er aber vorübergetobt, künden nur noch die schlammigen Streifen an Hügel und Baum, welch furchtbare Höhe er erreichte, dann strömt er gärend und innerlich kochend, aber doch in sein Bett hineingezwängt, zwischen den unterwühlten Ufern hin, von denen er nur hier und da, wie aus Grimm, daß ihm jetzt die Kraft fehlt, über sie hinauszubrechen, einzelne Stücke abreißt und sie spielend in seine Flut verwäscht. Die gelbe, lehmige Strömung schießt reißend schnell, hier und da mit trüben Wirbeln und Strudeln gemischt, von Landspitze zu Landspitze hinüber; schmutzige Blasen treiben auf ihrer Fläche, und selbst die sich weit hinüberbiegenden Weiden und Baumwollholzschößlinge suchen vergebens ihr Spiegelbild in dem flüssigen Schlamm. Dazu starren die Riesenleiber der Urbäume, selbst dicht am Rande der schroff abgerissenen Uferbank, ernst und finster zum Himmel empor, und weite undurchdringliche Rohrbrüche, von dornigen Lianen durchwoben, dehnen sich unter ihnen aus, den einzigen Raum noch erfüllend, der durch die Baum- und Strauchmassen zu führen schien.

Tom Barnwell hatte, ohne sich sonderlich anzustrengen, seine Bahn auf der angeschwollenen Flut langsam verfolgt und etwa zehn Meilen, teils rudernd, teils in seinem Kahn nachlässig ausgestreckt, zurückgelegt. Er sah jetzt eine kleine, runde Insel vor sich, die, dicht mit Weiden bewachsen, fast mitten im Strome lag und an der ihn die Strömung rechts vorbeizuführen schien. Er ließ denn auch sein Boot ruhig und selbständig gehen und wurde nahe an das westliche Ufer getragen, wo sich der Schilfbruch so dicht ans Ufer hinanzog, daß die vordersten Rohre stromüber in die Fluten gestürzt waren und nun mit ihren langen starren Blättern die Schaumblasen aufgriffen und zerteilten. Gestürztes Holz lag hier so wild durcheinander, daß Tom fast unwillkürlich das Auge kurze Zeit darauf haften ließ und noch eben bei sich dachte, wie es hier doch selbst einem Bären schwer werden würde durchzukommen, als fast neben ihm und höchstens zwanzig Schritt entfernt, mitten aus dem tollsten Gewirr von Rohr und Schlingpflanzen heraus die munteren, scharfgellenden Töne einer Violine zu ihm drangen. Tom blickte erstaunt auf; es blieb ihm aber bald kein Zweifel mehr, daß dort wirklich ein Unbekannter die Violine spielte, und der Bootsmann sah sich ordentlich scheu einen Augenblick um, ob er auch in der Tat auf dem Mississippi und dicht neben einem Rohrbruch schwimme und nicht etwa aus Versehen an irgendeine bis dahin noch unentdeckte Stadt gekommen sei. Die Umgebung blieb aber wirklich, ebenso die Musik, und da er fest entschlossen war, sich selbst zu überzeugen, wer hier im Urwald von Arkansas ein Solo-Konzert gäbe, lief er mit seinem Kahn dicht ans Ufer, band ihn hier fest an einen jungen Sykomoreschößling, der zwischen zwei größere Stämme eingeklammert lag, und kletterte dann – ein Weg war nirgends zu sehen – mit Hilfe dieser Sykomore das steile Ufer hinauf, wo er sich aber erst mit seinem Messer gegen die immer lebendiger werdenden Töne hin Bahn hauen mußte. Mühsam arbeitete er sich durch und erreichte endlich den Wipfel eines umgestürzten oder, wie er später herausfand, eines gefällten Baumes. Er drängte sich durch das Geäst und lachte plötzlich laut auf, als er hier, mitten im Rohrbruch, von weiter nichts als Schlingpflanzen und Moskitos umgeben, den einsamen Musikanten vor sich sah.

Es war ein junger Mann, vielleicht von vier- bis fünfundzwanzig Jahren, mit krausen, dunkelbraunen Haaren und starkem, sonnenverbranntem Nacken. Er war nur in ein baumwollenes Hemd und ebensolche Hosen gekleidet und hatte neben sich einen breitrandigen Strohhut und eine Axt, die ruhig an dem Stamme lehnte, an dem er noch eben gearbeitet haben mußte. Er selbst aber, höchst behaglich an einen emporstarrenden Ast gelehnt, drehte Tom den Rücken zu und strich so eifrig auf seiner alles andere denn Cremoneser Geige herum, als ob er zahlreiche Zuhörer um sich versammelt sähe und den Ruf bedeutender Künstlerschaft zu wahren hätte.

Als er hier in dieser Wildnis das Lachen eines menschlichen Wesens hinter sich hörte, drehte er sich, ohne sein Spiel zu unterbrechen, halb nach dem Fremden herum, den er, die kurze Rohrpfeife zwischen den Zähnen, mit einem fast noch kürzeren: »Nun wie geht's, Sir?« anredete, als ob das jemand sei, den er schon den ganzen Morgen erwartet habe und der nun, aus weiter Ferne gesehen, auf breiter Fahrstraße herankomme, nicht aber hinterrücks, aus dichtem unwegsamem Busche heraus, zu ihm anschleiche.

»Hallo, Sir!« erwiderte Tom, während er von dem ziemlich hohen Stamm heruntersprang und zu dem Violinisten trat. »Schon so fleißig heute? Ihr spielt ja, daß einem fast die Füße anfangen zu zucken. Was, Wetter noch einmal, macht Ihr denn hier mit der Violine mitten im Rohrbruch?«

»Ich spiele den Yankee Doodle«, meinte der Backwoodsman sehr naiv. »Den Yankee Doodle und Lord Howes Hornpipe, oder auch einmal Washingtons Marsch und ›Such a getting upstairs I never did see‹; – ich bin mannigfaltig.« Und seinen Worten treu, fiel er aus dem amerikanischen Nationallied in den kaum weniger populären Negersang ein und schien Toms Verwunderung, ihn überhaupt hier zu finden, gar nicht zu bemerken.

»Ja, aber um Gottes willen, Mann«, rief Tom endlich ganz erstaunt aus, »habt Ihr Euch denn hier den vier Fuß dicken Baumwollholzbaum allein umgehauen, um Euch darauf zu setzen und ›Such a getting upstairs‹ zu spielen? Ist denn hier nicht irgendeine Wohnung, irgendein Lager in der Nähe, wo Ihr hingehört?«

»Ei gewiß«, lachte der junge Mann, setzte zum ersten Male die Violine ab und schaute Tom mit seinen großen, dunklen Augen treuherzig an, – »gewiß ist ein Haus hier, – und was für eins; – aber seht Ihr den Pfad nicht? Der führt hier gleich zum Mississippi hinunter, wo er eine kleine Bucht im Ufer bildet. Dicht dabei habe ich mein Klafterholz stehen, das ich an die vorbeifahrenden Dampfboote, das heißt an die, die nicht vorbeifahren, sondern bei mir anlegen, verkaufe. Aber kommt nur mit, ich muß Euch doch meine Residenz zeigen. Jetzt fällt mir's übrigens ein, wo kommt Ihr denn eigentlich her? Ihr schient zwar im Anfang wie aus den Wolken gefallen zu sein, müßt aber doch wohl noch irgendwo anders herstammen.«

»Mein Boot liegt unten am Mississippi«, sagte Tom.

»Wo? An meinem Hause?«

»Ich habe kein Haus gesehen; ich kam mitten durch die Dornen.«

»Hahaha, dann glaube ich's Euch, daß Ihr erstaunt über mein Spiel wart, wenn Ihr durch das Dickicht gekrochen seid«, lachte der junge Holzschläger; »aber kommt nur, ich habe da drüben ein behagliches Plätzchen und muß Euch doch wenigstens einen Bissen zu essen vorsetzen, daß Ihr mir nicht hungrig wieder fortgeht. Seht«, fuhr er fort, als er, dem erstaunten Bootsmann voran, auf dem kleinen, kaum bemerkbaren Pfade hinschritt, »hier den Baum habe ich gefällt, um ihn kleinzuspalten und die Klafterstücke zum Fluß hinabzunehmen. In einem fort aber so ganz allein Holz zu hacken ist höchst langweilige Arbeit, und da nehme ich denn gewöhnlich die Violine ein wenig mit, und wenn ich müde vom Hauen bin, spiele ich ein bißchen, bis mir die Arme wieder gelenkig werden. Aber hier ist mein Haus, noch wenig Land dabei urbar gemacht, sonst jedoch ganz bequem und meinen Bedürfnissen vollkommen entsprechend.«

Mit diesen Worten schob er die letzten über den Pfad hängenden Rohrstangen zurück, und Tom stand auch schon im nächsten Augenblick dicht vor der aus unbehauenen Stämmen aufgeführten Wand des kleinen Hauses, um das sie sich erst herumdrücken mußten, um den schmalen, niedern Eingang zu erreichen. Hier aber dehnte sich auch ein etwas freierer Platz vor ihnen aus, der nach dem Flusse zu offen lag und einen Überblick über den freien Strom gewährte.

Die Hütte stand auf der sogenannten ›zweiten Uferbank‹, die ein wenig von der ersten zurück und wohl noch eine Elle höher als diese selbst lag. Dicht davor waren mehr als fünfzig Klaftern Baumwoll- und Eschenholz aufgestapelt; sonst zeigte aber auch gar nichts weiter, daß menschliche Hand in dieser Wildnis gearbeitet oder ein menschliches Wesen seinen Wohnsitz da aufgeschlagen habe. Kein Dornbusch war abgehauen, er wäre denn dem Holztransport im Wege gewesen, weder Spaten noch Hacke hatte hier je eine Scholle aufgeworfen, und der Pflug mußte dem ganzen Platz ein ebenso fremder Gegenstand sein, wie es Hobel oder Kelle dem Hause gewesen waren. Nur die Axt hatte für den kecken Menschen ein Asyl aus dem Walde herausgehauen und den Bären und Panther aus seinem angestammten Wohnsitz vertrieben, in das sich unser munterer Musikfreund, ein Sohn des alten wackern Kentucky, häuslich und mutterseelenallein niedergelassen hatte.

Ein paar große gelbe Rüden, über und über mit Narben bedeckt, waren seine einzigen Gesellschafter und lagen vor der Tür der Wohnung ausgestreckt. Obgleich sie aber bemerkten, daß sich ein Fremder näherte, schienen sie es jedoch nicht einmal der Mühe wert zu halten, auch nur den Kopf deshalb zu heben. Er kam ja in Gesellschaft ihres Herrn, und diesen nur begrüßten sie mit einem lebhaften Versuch, die außerordentlich kurzen Schwänze in eine sichtbare Bewegung zu bringen, was ihnen übrigens ohne starke Anstrengung des ganzen Hinterteils gar nicht möglich gewesen wäre.

Was der Kentuckier an Lebensmitteln brauchte, mußte ihm der Wald liefern; seinen sehr geringen Brotbedarf bezog er von den dort anlegenden Dampfbooten, und im übrigen versorgte ihn der Mississippi mit Wasser und Fischen. Durch seine Axt konnte er aber ein gutes Stück Geld verdienen, von dem es ihm, selbst mit dem besten Willen, nicht möglich gewesen wäre, auch nur einen Cent wieder auszugeben, und er erreichte so, wie er dem jungen Bootsmann versicherte, wenn auch nicht gerade außerordentlich schnell, doch ziemlich gewiß seinen Zweck, ein kleines Kapital zu sammeln, um sich später in gesünderer Gegend und ›mehr unter Menschen‹, jedoch mit der Beibemerkung, ›keinen Nachbarn näher als fünf Meilen zu haben‹, niederzulassen.

Sie traten jetzt in das kleine Haus, und einfacher, was Möbel und Hausgerät betraf, konnte allerdings keine Wirtschaft eingerichtet sein. Ein leeres Mehlfaß war der Tisch; ein paar gerade abgehauene Klötze bildeten die Stühle – er hatte deren zwei, um, wie er meinte, nicht auf der Erde zu sitzen, wenn er einmal Gesellschaft bekäme; sein ganzes Kochgeschirr bestand aus einem einzigen eisernen Topfe ohne Henkel und Deckel, einem Blechbecher und zwei aus Rohr geschnitzten Gabeln. Eine Art Löffel hatte er sich ebenfalls aus Holz geschnitzt, der mußte aber nur bei festlichen Gelegenheiten benutzt werden, denn er steckte ruhig und mit Staub bedeckt über dem Kamin. Besser im Stande schien sein Schießgerät zu sein: eine treffliche Büchse lag, mit der Kugeltasche daran, über der Tür, und das sogenannte ›Skalpiermesser‹, das unsere Jäger Genickfänger nennen, war in dem Riemen der Tasche befestigt.

Außerdem lagen noch verschiedene Felle und eine wollene Decke auf der Erde ausgebreitet, und ein in der Ecke aufgespanntes Moskitonetz zeigte den Platz an, wo sein Bett gewöhnlich war; denn eine Bettstelle ließ sich weiter nirgends blicken. Ohne Moskitonetz hätte es hier auch kein Mensch ausgehalten, wenigstens hätte er kein Auge schließen können.

Die Speisekammer schien noch am besten bestellt; denn oben im Kamin hingen eine Anzahl geräucherter Hirsch- und Bärenkeulen und breitmächtiger Speckseiten, ebenfalls von Bären, – Vorrat für die Zeit, wo die Arbeit entweder zu dringend oder die Jagd nicht besonders gut war oder der einsame Mann vielleicht gar krank auf sein hartes Bett ausgestreckt lag und, vom Fieberfrost geschüttelt, kaum zum Fluß hinabkriechen konnte, um sich selbst einen Trunk frischen Wassers zu holen.

»Nun, Fremder«, sagte jetzt der Kentuckier, während er unter dem Moskitonetz eine bis dahin verdeckte, roh aus Holz gehauene Schüssel hervorholte, die kalte, aber feiste und delikate Hirschrippen und ein paar Stücke gebratenen Truthahn enthielt, »macht's Euch bequem und langt zu! Viel ist nicht da; halt, da drunter liegen auch noch ein paar kleine Weizenkuchen. – So! – Ein Schelm gibt's besser als er kann. – Das Essen ist übrigens nicht zu verachten; – das Wildbret schmeckt delikat, und der Truthahn kann gar nicht besser sein. – Ein Tropfen Whisky fehlt nur, um die kompakten Sachen damit hinunterzuspülen.«

»Hallo, wenn's Euch an Whisky fehlt, da kann ich aushelfen«, rief Tom lachend; »ich habe mir von Helena aus genug Vorrat mitgenommen, um acht Tage damit auszukommen, und will doch nur eine Nacht unterwegs sein; aber – wie komme ich dazu? Die Flasche liegt im Boot; da werde ich wohl wieder durch die Dornen zurück müssen.«

»Ei, Gott bewahre«, sagte der Kentuckier, »wenn wir den Whisky so nahe haben, so soll auch schon Rat geschafft werden, ihn herzubekommen, ohne durch solche Wildnis zurückzukriechen. Ich fahre rasch in meinem Kanoe hin und hole das Boot hierher. Alle Wetter, war mir's doch fast so, gerade ehe Ihr kamt, als ob ich Whisky röche! Entweder habe ich eine verdammt gute Nase, oder es gibt Ahnungen.«

Damit sprang er rasch das Ufer hinunter, stieg in sein Kanoe, verschwand damit um die kleine Landspitze, die der Fluß hier oben bildete, und kehrte schon nach wenigen Minuten mit Toms Boot zurück, daß er jetzt an seinem eigenen Landesteg befestigte, während Tom selber ihm dabei zu Hilfe kam und die Whiskykruke mit hinaufnahm.

»Nun sagt mir aber in aller Welt, wo wollt Ihr so allein mit der Kruke hin?« fragte der Kentuckier endlich, als sie ihren Hunger einigermaßen gestillt hatten und einen zweiten »steifen Grog« in dem einzigen Blechbecher bereiteten. »Ihr gedenkt doch nicht nach New Orleans hinunterzutreiben? Das wäre ein verwünscht langweiliger Spaß.«

»Nein«, sagte Tom, »ich will nur sehen, wie die Preise in Montgomerys Point sind. – Wir haben hier oben in Helena ein Flatboot, und da unser Steuermann so großes Wesen von jenem Ort machte, so gedachte ich einmal vorauszufahren und mich ein bißchen nach allem zu erkundigen.«

»Nun, Gott sei Dank«, lachte der Holzschläger, »das war der Mühe wert, auch noch nach dem Nest einen besonderen Boten vorauszuschicken. Wenn's noch Napoleon an der Mündung des Arkansas wäre! Aber auch da sind keine besonderen Geschäfte zu machen; denn die Leute dort kaufen wenig mehr, als sie für ihren eigenen Bedarf nötig haben, und das ist sehr wenig. Nein, da hättet Ihr in Memphis noch viel bessere Gechäfte machen können als hier, wenn Ihr überhaupt nicht bis Vicksburg oder Natchez hinunter wollt. Seid Ihr denn in Memphis gelandet?«

»Nein, unser Steuermann meinte, dort sei auch gar nichts mehr abzusetzen, da die Memphis-Kaufleute ihre bestimmten Waren jetzt fast einzig und allein aus Kentucky bezögen.«

»Unsinn! Ihr mögt einen besonders klugen Steuermann haben; vom Handel versteht er aber, wenn er das sagt, nichts.«

»Vielleicht nur zu viel«, lachte Tom; »ich habe den Burschen in Verdacht, daß er irgendeinen guten Freund in Montgomerys Point hat, dem er die Waren zuzuschieben gedenkt. Da soll er aber unter dem falschen Baum gebellt haben; denn so lange ich ein Wort hineinreden darf, bekommt sie keiner, den er empfiehlt.«

»So, so?« meinte der Kentuckier. »Auch möglich. – In Kentucky habe ich überhaupt viel über die Mississippi-Bootsleute munkeln hören, was keineswegs sehr zu deren Vorteil spräche. Hier kann man freilich nichts Näheres darüber erfahren, obgleich ich mich schon einmal gewundert habe, wie oft hier in der Nacht Boote vorbeirudern, und zwar nicht allein stromab, denn das wäre nichts Besonderes, nein, auch stromauf, und zwar ziemlich regelmäßig vor der Morgendämmerung. Weiß der Henker, wer da so große Eile hat, daß er nicht das Tageslicht und ein stromaufgehendes Dampfboot abwarten kann und sich lieber abquält und plagt, gegen die starke Flut dieses Flusses anzuarbeiten. Wahrscheinlich muß in Helena oder auch in Montgomerys Point irgendeine heimliche Spielhölle sein, zu der das alberne Volk bei Nacht und Nebel hinschleicht, um sein gutes Geld förmlich in einen Abgrund zu werfen. Gestern nacht rief ich einmal eines an, das gerade hier unten an der Spitze und noch dazu mit umwickelten Rudern vorüberfuhr; – es war ein Nachbar hier, der nach Viktoria hinüber mußte; – sie wollten ihn aber nicht mitnehmen und meinten, sie hätten schon überdies zu schwer geladen. Ich hatte wahrhaftig gleich nachher das Vergnügen, ihn selber hinunterzufahren. Doch was kümmert's mich, laß sie ihr Geld totschlagen, wie sie wollen, ich weiß besser wohin damit, und wenn jene in den Tag hineinlebenden wilden Gesellen einmal keinen Platz haben, wohin sie ihr Haupt legen können, dann sitze ich behaglich auf meiner guten Farm und bin für mein übriges Leben versorgt.«

»Behaltet Ihr denn aber das Geld, das Ihr verdient, bei Euch?« fragte jetzt Tom. »Da würde ich doch nicht recht trauen; in der Art hat der Mississippi keinen besonders guten Namen. Wenn Ihr nun einmal vom Hause fortgeht?«

»Ei, das halte ich gut versteckt«, lachte der Holzhauer; »finden soll's schon so leicht keiner. Es läßt sich dabei aber auch nichts anderes tun; denn ehe ich es einer von den Arkansas- oder Mississippi-Banken anvertraute, könnte ich es ebensogut verspielen; da hätte ich doch wenigstens ein Vergnügen davon, wenn auch ein schlechtes.«

»Nun, ich weiß nicht«, meinte Tom, »mit Geld hier so ganz allein im Walde zu sitzen würde ich jedenfalls für gefährlich halten. – Es schwimmt eine ganz anständige Zahl von Leichen in diesem Vater der Wasser wie Brocken in einer guten Suppe herum. – Ich möchte nicht gern einer von den Brocken sein.«

»Ja, das ist wahr!« sagte der Kentuckier. »Besonders vor Viktoria treiben viele vorüber; denkt aber auch nur, wie manches Dampfboot zugrunde geht. Da ist's ja dann kein Wunder, daß die erst versunkenen Leichen auch wieder zum Vorschein kommen. Aber müßt Ihr denn schon fort? Wenn Ihr bloß nach Montgomerys Point wollt, habt Ihr wahrlich nichts zu versäumen.«

»Ei nun, ich bin einmal unterwegs«, meinte Tom, während er aufstand und den letzten Rest aus dem Blechbecher leerte, »und da will ich doch auch hinunter; überdies soll ich ja dort meinen Alten wiedertreffen, der hier am Ende an mir vorbeifährt. Aber hört einmal, – wo gieße ich denn den Whisky hinein? Ich möchte ihn Euch gerne dalassen; denn da Ihr hier so schlecht damit beschlagen seid –«

»Gar zu gütig!« lachte der Mann. »Die Gabe nehme ich übrigens mit Dank an; an Gefäßen fehlt's freilich, doch habe ich hier ein paar Rohrstöcke, die halten wohl eine Pint.«

»Ach was, da geht ja gar nichts hinein«, brummte Tom. »Doch halt, gebt sie einmal her! Wie weit ist's noch bis Montgomerys Point, und wann kann ich unten sein?«

»Ei, doch wohl noch vierundvierzig Meilen; wenn Ihr aber bis Abend rudert und die Nacht hindurch treibt, so könnt Ihr es mit Tagesanbruch erreichen.«

»Gut, so behaltet Ihr die Flasche hier; – das Rohr hält so viel, wie ich brauche, bis ich hinunterkomme, und unten gibt's mehr.«

»Was? Die ganze Kruke?« rief der Kentuckier erstaunt. »Ei, Mann, Ihr seid großmütig.«

»Ja, seht«, sagte Tom lächelnd, »ich weiß wie's tut, ohne Whisky zu sein, bin's auch schon manchmal gewesen und fühle deshalb mit jedem Menschen Mitleid, der sich in gleich trauriger Lage befindet. Unser halbes Boot ist übrigens mit Whisky geladen, und da könnt Ihr Euch wohl denken, daß es nicht gerade auf eine Gallone ankommt. Aber, ade! – Es wird spät, und ich möchte doch noch gern morgen früh alle die Geschäfte abmachen, derentwegen ich eigentlich heruntergekommen bin. So, guten Abend denn! – Wie ist Euer Name?«

»Robert Bredschaw, – und der Eurige?«

»Tom Barnwell«, lautete die Antwort, während das schmale Boot schon wieder in die Strömung hinausschoß, sich, bis Tom die Ruder ergreifen konnte, ein paarmal umdrehte und dann, dem starken Arm des jungen Mannes gehorsam, rasch über die gelben Fluten dahinschoß.

Tom hatte sich bei seinem neugewonnenen Freund doch länger aufgehalten, als es anfangs seine Absicht gewesen war, noch dazu, da er erst einen sehr kleinen Teil seiner Fahrt zurückgelegt hatte, – Bredschaws bescheidene Wohnung lag nämlich nur sieben englische Meilen zu Wasser von Helena entfernt; doch hoffte er auf die starke Strömung, die ihn wohl auch ohne große Anstrengung seinem Ziele zuführen würde.

Die Sonne lag schon auf den Wipfeln der Bäume, als er aus der kleinen Bucht vorschoß, und da es in Nordamerika fast gar keine Dämmerung gibt, sondern die Nacht sich scharf von ihrem freundlicheren Bruder abscheidet, so legte er sich noch recht wacker in die Ruder, um den letzten Tagesschein soviel wie möglich zu benutzen. Links von ihm lag die sogenannte ›runde Weideninsel‹, ein flaches unbewohnbares Stück Land, dessen äußerste Ränder schon jetzt, da der Mississippi erst zu steigen anfing, unter Wasser standen, während es fast in jedem Jahr von der Flut vollständig bedeckt wurde. Im Innern war die Insel dicht mit Weiden bewaldet, doch hatten rings um diese herum, ein Zeichen neu angeschwemmten Bodens, junge Baumwollholzschößlinge Wurzel geschlagen und bildeten nun, je nach der Mitte zu höher und höher emporsteigend, eine so regelmäßige Anpflanzung, daß es fast gar nicht aussah, als ob sie nur der wildstreuenden Natur ihre dortige Existenz zu danken hätte, sondern von Menschenhand in terrassenförmiger Ordnung gepflanzt und gehegt sei.

Diese Insel ließ er jetzt hinter sich, und mitten im Bett des ungeheuren Flusses zog sich die Strömung mehrere Meilen lang hin bis dort, wo eine andere Insel, ›Nr. Einundsechzig‹, die Flut teilte und die größere Hälfte der Wassermasse an das westliche Ufer hinüberwarf. Das wurde noch dadurch gefördert, daß die Strömung durch eine ziemlich scharfe Biegung des linken Ufers gerade oberhalb ›Einundsechzig‹ schräg fast über die ganze Flußbreite getrieben wurde. Fast alle herabkommenden Boote ließen deshalb auch diese Insel links liegen und schnitten nur bei hohem Wasser die zwei oder drei Meilen ab, die sie sonst zurücklegen mußten, um wieder zwischen dem östlichen Ufer von Nr. Zwei- und Dreiundsechzig und dem Mississippistaat durchzufahren.

Tom nun, der die Flußbahn des Mississippi nicht kannte und nur nach dem Überblick, den er von einer Uferspitze bis zur anderen bekam, seine Fahrt regelte, sah, daß der Strom hier einen ziemlich starken Bogen zur Rechten machte, und hielt, um den abzuschneiden, scharf gegen das östliche Ufer hinüber, was auch für sein leichtes Boot der nächste und der beste Weg stromab sein mußte. Immer schneller dunkelte es aber jetzt, ein leichter Nebel legte sich wie ein dünner Schleier über die trübe Stromfläche, und selbst der letzte lichte Schein an den hohen Uferbäumen hatte einer blasseren, mattgrauen Färbung Platz gemacht.

In einzelne der hohen Sykomoren und Pappeln stiegen ganze Scharen weißer und blauer Reiher nieder, um hier ihren Nachtstand zu nehmen. Quer über den Strom zogen zwitschernde Schwärme von Blackbirds, den nordamerikanischen Staren. Auch die Krähen suchten mit dumpfem Krächzen ihren gewöhnlichen Ruheplatz, während lange Ketten von Wildenten dicht über das Wasser mit schnell schwirrenden Flügelschlägen dahinstrichen und hier und da einen scheuen Haubentaucher auftrieben, der dann, wenn sie vorüber waren, mit leise klagenden Lauten, als sei er verärgert, wieder seinen Platz auf einem alten treibenden Baumstamm einnahm, mit dem er vor Tag vielleicht mehrere zwanzig Meilen stromab zurücklegte.

Aus dem Walde heraus wurden dabei die Frösche lauter und lauter, und zwischen das helle, monotone Geschrei der kleineren Gattungen fiel manchmal im harmonischen Baß und mit grimmig tönender Stimme irgendein ernsthafter Ochsenfrosch ein und gab dadurch dem rauschenden Tenor- und Sopranchor eine gediegenere Grundlage. Zahlreiche Nachtfalken kreuzten dicht am Lande hin, und über dem westlichen Ufer schwebte sogar, in diesen flachen Gegenden ein seltener Gast, ein weißköpfiger Adler, das Symbol der Vereinigten Staaten, und suchte, den schönen Kopf mit den großen klugen Augen gar scharfsinnig seitwärts gebogen, nach irgendeinem unglücklichen Truthahn, den er aus den Zweigen herausholen und seinem eigenen Horst zutragen könnte.

Tom Barnwell mußte scharf rudern, um nicht von der Strömung auf den oberen Teil der Insel getrieben zu werden. Doch sobald die äußerste Spitze umschifft war, führte ihn auch die Flut selbst daran hin, und da er auch keine Snags und vorragenden Baumstämme zu fürchten brauchte, von denen sich sein leichtes Boot bald wieder losgerissen hätte, so legte er die Ruder bei, lehnte sich behaglich zurück und trieb nun, die Augen fest auf die hier und da hervorblitzenden Sterne geheftet, den Strom hinab. Lange hatte er in dieser Stellung verharrt. Der dunkelblaue Himmel blitzte und funkelte in seinem prachtvollen Schmuck, und der Wald rauschte neben ihm, während unter den Planken des leichten, schlanken Fahrzeugs die wilde Flut gurgelte und murmelte und ihre eigenen wunderlichen Betrachtungen zu haben schien. Es war eine wundervolle Nacht, und stiller, heiliger Friede lag auf dem breiten, ruhigen Strome.

Ach, welch ein abgrundtiefer Seufzer entfloh da den Lippen des jungen Matrosen! Hatte der wilde Bootsmann des Mississippi solch bitteres geheimes Weh zu tragen? – Waren das Tränen, die dem rauhen Mann die Wimpern netzten und ihm leise, leise an den Schläfen hinabrannen? – Er sprang auf und warf sich die langen braunen Locken halb unwillig aus der Stirn, ohne dabei die Augen zu berühren; er wollte die Tränen nicht anerkennen.

»Zum Henker mit den Dämmerstunden!« murmelte er vor sich hin. »Ist's doch immer, als ob es einem ordentlichen Kerl da gleich breiweich ums Herz werden müßte. Und wenn man erst einmal in das endlose Blau da hinaufstarrt und hier und da so ein paar glänzenden Sternen begegnet, die wie Augen zusammenstehen, da möchte man doch fast glauben, der ganze Nachttau liefe einem in den Tränendrüsen zusammen und wollte nun auch augenblicklich wieder hinaus ins Freie. Pah hier im Walde blitzen die Sterne ebenfalls, und diese tausend und abertausend Glühkäfer, die umeinander schwirren und glitzern und ein förmliches Feuernetz um die düsteren Baumschatten zu ziehen scheinen, glänzen auch wie Augen, fliegen aber doch vernünftigerweise umher und starren einem nicht immer so ernst und wehmütig entgegen.«

Er nahm langsam das eine Ruder auf und legte es ins Wasser. Er wollte seinen Kahn damit näher zu den rauschenden Baumwipfeln hinlenken, in deren Dunkelheit Myriaden von Glühwürmchen das heimliche Reich der Bäume mit einem ganz eigentümlichen, fast zauberhaften Licht erhellten.

»Wetter noch einmal«, murmelte er jetzt vor sich hin und suchte sich augenscheinlich dabei auf andere Gedanken zu bringen, »was für ein Paradies müßte das hier in diesem herrlichen Klima, unter dieser wundervollen Pflanzenwelt sein, wenn es keine –« Er schwieg einen Augenblick und sah trübe sinnend vor sich nieder, fuhr aber dann wieder rasch auf und rief halblaut und finster »Moskitos und Holzböcke gäbe! Die Pest über alle Insekten, mögen sie nun der unvernünftigen oder vernünftigen Tierwelt angehören! – Die Pest über die Kanaillen! – Sie wären imstande, selbst das Paradies in eine Hölle zu verwandeln.«

Er horchte plötzlich auf, denn nicht weit von ihm entfernt, dicht aus dem wildesten, das Ufer umdämmenden Baumsturz tönte ihm helles, fröhliches Lachen einer Mädchenstimme entgegen. »Nun, bei Gott, das ist wunderlich«, sagte der junge Mann erstaunt, »hat sich denn hier, in solchem Dickicht, eine Einsiedlerin niedergelassen, wie da oben ein Einsiedler? – Die beiden sollten doch wenigstens zusammenziehen.« Und fast unwillkürlich lenkte sich die Spitze seines Bootes dem Orte zu, von welchem her das Lachen klang.

»Hahaha, wie sie da drinnen durch die Büsche kriechen und den entflohenen Vogel wieder hinein haben wollen in den goldenen Käfig!« – rief da die Stimme. »Hol über, Bootsmann, hol über – ans andere Ufer, Fährmann! – Es wird dunkel, und die feuchte Nachtluft dringt mir kalt und schneidend durch die dünnen Kleider.«

Tom schaute erstaunt zum Wald hinüber und versuchte, unter dem Gewirr von Ästen und Stämmen hin mit den Blicken bis ans Ufer zu dringen, wo er ein menschliches Wesen erst vermuten konnte. Er befand sich jetzt an der südlichen Spitze von ›Einundsechzig‹ und dicht neben dem Platz, wo die Boote der Insulaner versteckt lagen. Hier aber dämmte auch um so wilderes Dickicht das Ufer ein, und Baum über Baum lag von innen herausgestürzt, während die starren Äste ihrerseits alles hier vorbeitreibende Driftholz aufgefangen und gegen die Strömung angestemmt hatten. Die Boote wurden dadurch vollkommen gedeckt, und ein Uneingeweihter hätte den schmalen, zu ihnen führenden Kanal gar nicht gefunden, hier aber auch kein menschliches Wesen vermuten können, wo sich kaum ein Eichhörnchen über die wirbelnde Flut hinauswagte. Da fesselte ein heller, flatternder Schein sein Auge. – Dort, wo ein dünner, weißer Sykomorenast über den gärenden Strom hinausstarrte, oben, fast auf seiner äußersten Spitze, wie sich der Falke auf schwankendem Zweige wiegt, saß, von dem dünnen, weißen Kleide umweht, eine weibliche Gestalt, und ihr fröhliches Kichern, mit dem sie von ihrer gefährlichen Stellung aus auf den erschreckten Bootsmann niederschaute, machte diesem das Herzblut vor Furcht und Entsetzen gerinnen. Er glaubte im ersten Augenblick wirklich, ein übernatürliches Wesen zu sehen. »Hahaha, Fährmann«, rief da wieder die Gestalt zu ihm nieder, »komm, lande dein Boot! – Der Mond scheint mir sonst von da drüben herüber ins Gesicht herein, und ich bekomme Sommersprossen. – So, – noch ein wenig; jetzt hab acht«, und ehe nur Tom, der von einem ihm unbegreifbaren Gefühl getrieben dem Rufe des Weibes folgte, selbst die Hand ihr reichen konnte oder imstande war, das Boot zu befestigen, flog sie mit kühnem Satz von oben hinein. Ehe er hinzusprang, um sie zu unterstützen, denn infolge der entgegengesetzten Bewegung des Fahrzeugs taumelte sie und wäre bald wieder über Bord gestürzt, trieb der Kahn schon an der Südspitze der Insel vorüber und mitten im Strom in reißender Schnelle dahin.

Es war schon ziemlich dunkel, nur die Sterne verbreiteten ein mattes, ungewisses Licht.

Die Frau aber, von den Armen des jungen Mannes gehalten, verharrte in ihrer Stellung und blieb mehrere Minuten lang, den Blick fest auf die immer mehr verschwimmende Insel geheftet, stehen; dann aber wandte sie sich gegen ihren Retter um, sah ihm, während sie sich mit der rechten Hand den Scheitel langsam zurückstrich, kurze Sekunden starr ins Auge und flüsterte leise und ängstlich: »Kommt, Tom Barnwell! – Kommt, – fahrt mich ans andere Ufer hinüber; – dort muß Eduards Leiche angewaschen sein!«

»Marie«, schrie da plötzlich der junge Mann, und seine ganze starke Gestalt zitterte und bebte, – »Marie, – bei dem ewigen Gott da oben, – Ihr hier, – in diesem Zustand!«

»Ruhig, mein guter Tom«, bat die Wahnsinnige, – »ich weiß wohl, du hattest mich lieb; aber – es sollte nicht sein. Eduard kam – ha, Eduard; – was schwimmt da drüben im Strome? – Laß uns hinüberfahren; ich denke, ich kenne das bleiche Antlitz, auf das die Sterne niederscheinen; – das muß mein Vater sein!«

»Marie, um Gottes willen, was ist geschehen?« bat jetzt der junge Barnwell, während er sie langsam und vorsichtig auf den Bootssitz im Heck niederließ. »Was ist Euch Fürchterliches begegnet? Wo sind Eure Eltern? Wo ist Euer Gatte?«

»Meine Eltern? Mein Gatte?« wiederholte die Unglückliche, und es war augenscheinlich, sie verstand im Anfang nicht einmal den Sinn der Worte, die sie nachmurmelte. Endlich aber mochten wohl alle jene in Wahnsinnsnacht fast versunkenen gräßlichen Bilder, die ihr Hirn und Herz verwirrt hatten, vor ihrer Seele wieder auftauchen; denn sie barg plötzlich ihr Antlitz in den Händen, und während ein Fieberfrost ihre Glieder zu durchfliegen schien, stöhnte sie halblaut vor sich hin: »Alle tot – alle – alle! – In ihrem blutigen Grabe liegen sie. – Nein!« rief sie plötzlich und sprang empor. »Nicht blutig; – der Strom wusch sie rein; er wollte die häßlichen Leichen nicht so rot mit fortnehmen. – Als Eduard wieder an der Seite emportauchte, sah er weiß und rein aus, und der Kopf war ihm nicht gespalten. – Er lachte – heiliger, allmächtiger Gott, – das Lachen ist es ja gerade, was mich wahnsinnig gemacht hat!« Zwischen den bleichen, zarten Fingern quollen jetzt unaufhaltsam die großen, hellen Tropfen vor, und ihr Schmerz schien dadurch wohl nicht leidenschaftsloser, aber doch ihrem ganzen zerrütteten Nervensystem weniger gefährlich zu werden. Tom hütete sich auch wohl, diesen Ausbruch langverhaltenen Grams zu unterbrechen. Mit krampfhaft gefalteten Händen stand er vor der Armen, und noch immer kam es ihm fast wie ein wilder, entsetzlicher Traum vor, daß Marie – Marie, an der früher sein ganzes Herz hing, jetzt hier – allein, – wahnsinnig, – von all den Ihren getrennt oder verlassen, in seinem Kahne ruhe und er nun für sie sorgen dürfe, für die er ja so gern sein bestes Herzblut verspritzt hätte. Endlich fühlte er aber doch, daß er nicht allein ein Unterkommen für das kranke Wesen finden, sondern auch erfahren müsse, wie ihr zu helfen und was die Ursache ihres Unglücks gewesen sei. Allerlei wirre Vermutungen kreuzten dabei sein Hirn; er verwarf sie aber alle wieder, und nur das eine blieb ihm wahrscheinlich, daß sie hier irgendwo an jener Insel mit Boot oder Fahrzeug verunglückt sei, vielleicht den Untergang aller übrigen gesehen und sich allein dort auf einem der in den Fluß ragenden Äste gerettet habe.

Einzelne, nur wenig zusammenhängende Worte, die sie noch später ausstieß, bestärkten ihn auch in dieser Vermutung, und er wußte für den Augenblick keinen anderen Rat, als sie mit sich stromab zu nehmen, bis er entweder ein Dampfboot fände, das imstande wäre, Helena noch vor des alten Edgeworth Abreise zu erreichen, oder diesem selbst wieder begegnete. Edgeworth kannte Marie ebenfalls von früher her und wußte wohl überdies besser, was mit dem armen, unglücklichen Weibe anzufangen oder wo es unterzubringen sei.

Mehrere Stunden trieb er so langsam stromab und saß noch immer, das Haupt des armen Kindes unterstützend, in seiner Jolle, als er am linken Ufer ein Dampfboot liegen sah, das dort Holz einnahm. – Er richtete jetzt, so gut das in der Eile gehen wollte, mit der Jacke ein Lager für seinen Schützling her, der, teilnahmslos für alles, was um ihn her vorging, sich das auch ruhig gefallen ließ. – Dann aber griff er wieder zu den Rudern und hielt nun gerade hinüber nach jenem Holzplatz, um ihn noch vor Abfahrt des Bootes zu erreichen. Kaum hatte er denn auch seine Jolle daran befestigt und das arme Mädchen mit Hilfe einiger ihr beispringenden Matrosen an Deck gehoben, als die Maschine wieder zu arbeiten anfing und der ›Van Buren‹ – das war der Name des Dampfers – mit rauschenden Rädern seine Bahn stromauf verfolgte.


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